Montag, 6. Mai, Aljucén Alcuéscar 20 km
Jeder Tag auf dem Camino hat seinen eigenen Charakter, da wiederholt sich nichts. Meine Wirtin hat ein fabelhaftes Frühstück bereitet, mit heimischen Zutaten garniert und gastlicher Wertschätzung serviert. Der Frühstückraum ist mit römischen Motiven dezent hergerichtet, die Dekorationen sind stimmig und die Serviettenschiffchen akkurat gefaltet und ausgerichtet. Sie empfiehlt mir dies und erklärt mir jenes, aber zu guter Letzt brät sie mir ein paar Spiegeleier mit Speck. Ich bin begeistert! Die Gute versteht ihr Handwerk und was Männer so brauchen!
Jener aber, in diesem Fall ich, muss hinaus in die raue Welt des Camino. Er verlässt diesen liebgewordenen Ort der Zimbeln und Kitharas. Der Morgen ist noch ungewaschen, ein wenig grau und frisch, der Himmel weiß noch nicht recht wohin er tendieren soll. Die ersten Schritte sind leicht und meine Stimmung serotoningesättigt locker. In der Aue des Rio Aljucén hat die Natur einen klatschmohnroten Teppich gewebt, für heute ist es ein schöner und willkommener Auftakt für die Etappe nach Alcuéscar.
Über das Flüsschen hinweg leiten die Pfeile in einen Naturpark. Ein Riese hat dem Camino eine Menge Gestein in den weg gewürfelt. In vielen Windungen zieht er seine Bahn um Felsbrocken dahin. Dicht stehen Stein- und Korkeichen beieinander und umrahmen das rote Band des Weges. Ich komme gut voran. Gegen Mittag hat sich das Blau durchgesetzt und für die Sonne das Feld geräumt. Die Farben der Natur bekommen ihren Kontrast und mein Hemd erste Schwitzflecken. So soll es sein! Es ist eine relativ leichte Etappe in abwechslungsreicher Landschaft und ohne schwierige Anstiege. Ich komme gut voran.
Aus der Ferne erkenne ich, umrahmt von roten Ziegeldächern auf einem Bühl, den Kirchturm von Alcuéscar. Rechts vom Weg unter den Oliven blüht ein Teppich weißer Margueriten bis an die Bergflanken und links die gleiche Orgie in Gelb, die Wucherblumen. So stelle ich mir das Paradies vor.
Ich muss mich am Wanderführer orientieren, der Camino führt unterhalb am Dorf vorbei zur Herberge im Kloster der Kongregation der Armen Brüder Mariens. Mein Ziel aber ist das Dorf oben auf dem Bergrücken.
In Alcuéscar ist natürlich wieder einmal Siesta, und blafften da nicht ein paar Dorfkläffer, die Gassen wären jetzt mausetot. Mit meiner provisorischen Weg Beschreibung zum Hostal, verliere ich mich orientierungslos in im Geflecht der Alcasaba mit ihren versteckten Passagen, Durchgängen und Fluchten. Das Casa Rural Grande Extremadura, mein Quartier, liegt unauffällig in einem Winkel hinter einem Garagentor. Ich drücke den Klingelknopf, nichts tut sich. Ich dürste wie eine sibirische Bergziege und hinter der Tür rührt sich nicht einmal der Hund. Vorn auf dem Kirchplatz ist jemand, der mir in meiner Verzweiflung helfen kann. „Yes!“, die junge Frau spricht sogar ein passables Englisch, führt mich durch die Schluchten Alcuéscars, zu einem Seiteneingang in eine Bar und übergibt mich Thomaso, dem Schankwirt unter der krakeelenden Männermeute am Tresen. „Si, si, un momento!“ füllt er mir das erste, dann ein zweites Mahou ein, danach schleppt er mich durch in das Labyrinth der Gässchen zum Casa Rural, öffnet das Garagentor und übergibt mir den massigen Schlüsselbund. Er zeigt mir den Schlitz in der vom Efeu zugewachsenen Mauer. Morgen früh soll ich ihn einwerfen.
Hinter dem Tor, ganz überraschend und überwältigend, öffnet sich mir eine vollkommen andere Welt, ein Arkadien mit Brunnen, Blumen und schattenspendenden Bäumchen. Das feudale Anwesen hinter dem Garagentor erweist sich als eine Posada und gehört mir heute ganz allein.
Im Hof, mit der Schwere des Biers in Kopf und Beinen, mache es mir, Unterhose und Naturbräune, im Schatten eines Zitronenbaums gemütlich. Die Kurzwäsche hängt auf der Leine und trocknet. Sorgenvoll begutachte ich meinen linken Fuß. Der große Zeh sieht nicht gut aus. Am Morgen hatte ich die Schuhe vorne zu locker geschnürt. Bei jedem Schritt ist der Nagel, ohne dass ich es bemerkt hätte, gegen die Kappe gestoßen. Nun ist der Zeh rot angelaufen und glüht. Es sieht nicht gut aus! Doch ich bin guter Dinge, und meine die Entzündung im Zaum halten zu können. Man wird sehen, bis Cáceres sollten die Füße durchhalten.
Das Casa Grande Extremadura trägt diesen Namen zu Recht. Es ist viel zu groß für eine Person. Zwei Schlafzimmer, eine Küche und Bad gehören zur Einrichtung. Das voluminöse Vestibül ist ein Jagdzimmer mit einem eindrucksvollen Kamin aus behauenem Granit. Schwere Gobelins verdunkeln den Raum. Um die Steinplatte eines Tisches formiert sich eine wuchtige Ledergruppe und über mir ist hängen allerlei Trophäen an der Wand. Ich sehe in die mit Hauern bewehrten, aufgerissenen Mäuler präparierter Wildschweinköpfe, dazu mannigfaches Gehörn von Rehwild und ausgestopfte Vögel. Gegenüber bedeckt die Seitenwand eine stattliche Sammlung kurioser Weinkrüge. Hinter einem Bogen, der die Räumlichkeit teilt, verliert sich ein stattliche Eichentafel ins tiefe Dunkel und unterstreicht den düsteren und unheimlichen Charakter dieser Wohnstatt. Wer mag hier leben oder gelebt haben? Ein lokaler Grande und Schützenbruder? Tomaso, der Wirt, das ist klar, ist nur Schlüsselknecht. In seiner Bar hinter dem Rathaus, buen provecho, serviert er mir am Abend zum Wein ein ordentliches und belastendes Menü.
Während in den Gassen allmählich das Licht versickert und die abendliche Frühlingswelt einer gelb leuchtenden Himmelswelt weicht, zieht die kosmische Kälte des Alls erste Sterne über den östlichen Himmel von Alcuéscar. Stratosphärische Streifen signalisieren den Wetterwechsel.
Ich öffne das schwere Garagentor. im Hof durchschneiden Fledermäuse die laue Luft. Mit Beklemmung stapfe ich die dunkle Außentreppe hinauf, stecke den voluminösen Bartschlüssel ins Schloss, die Tür schreit nach einem Tropfen Öl, taste mich durch die Finsternis zum Schalter und vermeide den Blick zu den Wildschweinmäulern im schauerlichen Schwarz des Salons. Die Kirchturmuhr schlägt 11. Ich wähne mich in Polanskis „Tanz der Vampire“. In einem der beiden Schlafzimmer werde ich mich heute Nacht einschließen, nein, verbarrikadieren werde ich mich, die Läden verriegeln und sorgsam auf jedes unbekannte Geräusch achten.
Vorsorglich schaue ich noch einmal unter das Bett, Spinnweben! Die Klinge liegt griffbereit auf der Häkeldecke des Nachtischchens. Ich lösche die Funzel auf dem wackeligen Möbel. Ein Knacken! Alte Gemäuer neigen dazu zu uns zu sprechen, so, als wollten sie uns etwas Wichtiges sagen. Ich versuchte die Antwort zu finden, einen Grund, der diesem Knacken ein Gesicht gibt. Ich zähle und warte auf das Geräusch. An Schlaf ist nicht zu denken. Ich bin übermüdet und finde doch nicht innere Ruhe. Halbschlaf! Zusammenhanglose Erinnerungsfetzen geraten durcheinander und mischen sich mit dem Knacken zu einer breughelschen Szenerie: Wildschweinköpfe, Fledermäuse, Spinnweben, Schlüsselbund, Thomaso und fetter Speck. Das Essen, es war reichhaltig, ich habe einen Klumpen Blei im Magen.
Die Kirchturmuhr, schlägt viermal an, hell und noch einmal dumpf. Das Knacken ist immer noch irgendwo da draußen hinter der Schlafzimmertür und gemahnt in unregelmäßigen Spannen ferner werdend, an seine Wahrnehmung. Dann endlich, fatalistisch ergeben, wiegt es mich in einen schneewittchentiefen Schlaf.
-Fortsetzung folgt-