(Lese-)Tagebuch

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zeitistsein

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Habe nach langer Zeit Mörikes Peregrina-Zyklus wieder gelesen.
Die Strophe, in der der Geliebte Peregrina verstösst, erschien mir in neuem Licht.
Er wird, so heisst es, von einem "sel'gem Wahnsinn" heimgesucht, der ihn völlig ausser Gefecht setzt.
Traumgestalten peinigen ihn Tag und Nacht.
Durch den Verstoss wird der Geliebte nicht frei von Peregrina, sondern erst recht von ihr besessen.
Ich fühlte mich zunächst an Goyas Spruch "Der Traum / Der Schlaf der Vernunft erzeugt Monster" erinnert.
Das spanische Substantiv "sueño" kann beides heissen: dass die Monster aus Vernunft oder deren Mangel heraus entstehen.
Der wahnsinnig gewordene Geliebte ist zu einem Träumenden geworden.
Der Traum überlagert die Lebenswirklichkeit, sodass die Strophe letztlich den Gegensatz "Wahnsinn" (Monster) und Vernunft aufhebt.
Der Geliebte ist von der Liebe, die er doch nicht haben wollte, besessen, praktisch von ihr überwältigt.
Die Traumgestalten sind letztlich Liebesgestalten - der Albtraum, ein Liebestraum.
Die zweite Assoziation, die mir beim Lesen kam, war "Hekabe", die trojanische Königin, deren einziges Kind von ihrem besten Freund aus Habgier ermordet worden war.
Vor Schmerz über den Verlust, aber auch über den Vertrauensbruch des Freundes wird Hekabe zu einem wilden Tier, heisst es.
Auch hier erscheint der Wahnsinn als eine das Individuum überwältigende Wirklichkeit, allerdings in klarem Gegensatz zur Ordnung der Vernunft.
Bei Mörike ist der Wahnsinn eine Wahrheit, die sich in der Welt der bürgerlichen Ratio Bahn bricht, ein weiteres, irgendwie authentischeres Wissen als das unseres kleinen Alltagslebens.
 
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zeitistsein

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Noch ist das neue Jahr nicht da. Trotzdem schien es mir heute angebracht, mich der Neujahrsvorsätze des Friedrich Nietzsche zu entsinnen. Im Vierten Buch der "Fröhlichen Wissenschaft" (1882) lauten sie wie folgt:

276.
Zum neuen Jahr
. — Noch lebe ich, noch denke ich: ich muss noch leben, denn ich muss noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, — welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süßigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen: — so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!

Amor fati - das nehme ich mir gern zu Herzen.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ja sagen zum Leben, selbst in seinen härtesten und fremdesten Ausprägungen ist nur möglich mit einem ungesundem Maß an Selbstverleugnung - man muss schon vor seinem Herzen davonlaufen wollen, um alles zu bejahen.
 

zeitistsein

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Ja sagen zum Leben, selbst in seinen härtesten und fremdesten Ausprägungen ist nur möglich mit einem ungesundem Maß an Selbstverleugnung - man muss schon vor seinem Herzen davonlaufen wollen, um alles zu bejahen.
Hallo Patrick
Ich bin nicht ganz sicher, wie Nietzsche das Ja-Sagen gemeint hat. Ich vermute aber, dass er damit nicht auf das Ja-und-Amen-Sagen hinauswollte, da er dieses im Eselslied des "Zarathustra" aufs Korn nimmt. "Ja und Amen" war für ihn eher ein Phänomen der Masse und die hat er ja verabscheut. Er hat der geografischen Gipfelhöhe und der damit einhergehenden Einsamkeit des Geistes das Wort geredet.
Von daher vermute ich, dass "Amor fati" ein Aufruf zur Einkehr sein möchte und gerade nicht als blinde Bejahung alles Seienden im Sinne eines Davonlaufens vor sich selbst verstanden werden will.
Aber das ist nur eine vage Vermutung.
Viele Grüsse und einen guten Rutsch
z
 

zeitistsein

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Weimar.
Ein Visum nach drüben,
60 Mark.
Lange Schlangen
vor dem Rationierungsbüro.

Jahre später.
Endlich drüben.

Es krümmt sich
die Mutter,
im Wartesaal,
dürstend,
hungernd,
nüchtern angetreten,
wie verlangt.
Schmerzgepeinigt.
Eine Stunde,
zwei,
...
acht -
schwarze Abfärbspuren
auf blauer
Sitzfläche
vor Reibung.

Doktor Sowieso
derweil:
Gewichtsverlagerung aufs linke Bein,
die linke Hand,
die
mit der Rolex,
in der Hosentasche
das Feuerzeug ergriffen,
am Salatbuffet.

Das Saxophon diskret,
im Hintergrund.

"Hilfe", ächzt sie.
Vergeblich.
 
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zeitistsein

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Present
heisst
Geschenk.

Sei anwesend!
Heisst:
Sei ein Geschenk.

Sagten sie.
Ich folgte.
War da.

Alle
gaben
mich
bisher
zurück.
 

zeitistsein

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Verheutigung. Habe ich in einem Buch von Joseph Ratzinger gelesen.
Klingt wie "Verhäutigung". Sich häuten. Wie die Schlangen, etwa die Schlange im Paradies.
Es muss den damaligen Erdbewohnern unheimlich angemutet haben, so eine Schlangenhaut auf den Pfaden und an Flussufern vorzufinden. Was ist das für ein Tier, das in der Lage ist, sich selbst zu verjüngen und so den eigenen Tod hinauszuschieben, ihn vielleicht gar zu überlisten?
Hm.
Bin heute nicht inspiriert.
 

zeitistsein

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Wo geschieht es, dass man ohne Ehering zur eigenen Hochzeit kommt?
In deinem Kopf wohl,
Vater.

Liebtest du Mutter nicht?
Wohl nur geheiratet aus Brauchtum
und Langeweile.
Und den lästigen Tag
lebensüberdrüssig
hinter dich gebracht.
Froh,
in der Hochzeitsnacht,
Radio zu hören,
ganz für dich zu sein.
Was kümmerten dich die anderen?

Vergeben soll ich.
Wie das? Und warum?
Die Sinnlosigkeit hast du mich gelehrt.
Wie soll ich dir das verzeihen,
das Gefühl,
nichtig zu sein
und lächerlich,
wenn ich mich freute
zu leben.

Du hast es schwer gehabt, ich weiss.
Warst das schwarze Schaf unter deinen Brüdern.
Bis zuletzt musstest du
dafür büssen,
dass du anders warst.
Darf ich
jetzt auch noch
draufhauen,
anstatt dir zu vergeben?

Deine Gleichgültigkeit: das Schlimmste an dir.

Nicht zu verzeihen.
Nicht von mir.

Schämtest du dich für dein Verhalten?

Was passierte genau, dort, im Park?

Onaniertest du wirklich vor Kindern?

Du Fremder.

Warum sollte ich dir verzeihen?

Du starbst - was, eine Erleichterung.
Die Erlösung von deinem Leiden, das du wohl in dir trugst.
Und auf uns abludst,
ein Leben lang.

Hättest du MICH um Verzeihung gebeten, für deinen Missbrauch.
Der nicht bewiesen ist,
natürlich.

Warum sollte ICH DIR verzeihen?
Was ist das satte Erbe,
das du mir hinterliessest,
als Wiedergutmachung,
sagtest du,
für meine kaputte Seele?

Ich will
weder dir vergeben
noch dich hassen
noch dich lieben.

Keine Nacht mehr
sollen deine
Lippen meine Stirn berühren
noch deine Hand
sich auf meinen Rücken legen.
Kein Gespenst mehr
sollst du sein,
das
geräuschlos in mein Zimmer schwebt.

Da draussen bist du am Platz.
Weit weg von meinem Leben.
 

zeitistsein

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Dem Kind sagen, dass man es liebt.
Schon gut.

Wie geht das, Mama?
Nichts für Ungut,
mein Schatz.
Schlaf weiter.
Sieh fern.
Lass mich das machen.
Zu deinem Besten
ist das -
keine Sorge.
Der liebe Gott trägt dich
eines Tages
auf Händen
über eine bunte Wiese
durchs schwarze Tor
in ein helles Licht.
Watteweich
wird sich der Boden
unter deinen Füssen
anfühlen.
Und ich schliess' dich dann in meine Arme.

Ich möchte was tun, Mama,
was werden,
was erreichen,
was bewirken.
Morgen, mein Schatz.
oder nächstes Jahr.
Ruh dich heut' aus.
Der Tag ist kalt,
die Welt rau
und des Spinnrads
wurden wir beraubt -
ausgeplündert sind wir,
wie die Nachbarn.
Ohne Wolle für frische Decken
stehen wir da.
Hoffen wir
auf ein besseres Morgen.
Sorge dich nicht,
mein Schatz.
Ich beschütze dich.
Du darfst nichts bewirken.
Da draussen sind Männer
mit scharfen
Gewehren.

Lass mich leben, Mutter,
meine eigenen Gefechte austragen!
Ich sterbe, Kind,
wenn du mich verlässt,
wenn ich auf dem Weg
deinen löchrigen Leib
vorfinde.

Ich sterbe nicht, Mutter,
nur leben, will ich.
Sonst nichts.
Wie die Männer,
da draussen.
Keine Gewehre sind das,
sondern Pflüge,
die den Samen, wie du mir,
ein warmes Bett
bereiten.
Sanft will ich die Erde
um die Knollen
tätscheln,
jeden Morgen
nach den Früchten sehen
und sie erntereif
in meine Scheune tragen.
Was ist mir
das Gehen auf Watte
gegen das Knien
auf dem Staub,
der mich dir gab?
Was, deine Umarmung
gegen die Gewissheit meiner Ernte,
die mir zeigt,
wer ich mal war?

Kein Staub ist das, Kind.
Das sind Leichen.
Geschossen von Männern
mit scharfem Gewehr,
die dich
in die Knie zwingen wollen.

Der Psychiater schreibt etwas im Hintergrund. Mutter und Sohn reden noch eine Weile. Bis der Sohn sich verabschiedet. Wie jeden Tag. Die Mutter starrt auf ein Stillleben mit einem Spinnrad.
 
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zeitistsein

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Nein sagen - "da mach' ich nicht mit" -
fühlt sich immer noch schlecht an.
Wieso eigentlich?

"Du Schlappschwanz", heisst es von irgendwoher
in mir drin.
"Sensibelchen!"
"Taugenichts!"
Gibst gleich auf.
"Anstrengungsverweigerung,
verwöhnt -
du wirst noch dein blaues Wunder erleben,
verhungern,
aus lauter Faulheit.
Das Leben ist kein Zuckerschlecken."

Ich mache nicht mit.
Kläfft weiter,
ihr lautlosen Stimmen.
 

zeitistsein

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Null Bock.
Gibt SIE mir zu verstehen -
von meiner Seite,
keine Hilfe mehr.

Zwanzig
Stellenausschreibungen.
Empfangsdame,
will sie werden.

Wozu
das ganze Studium?
Die verschwendeten Ressourcen?

Empfangsdame
von Anfang an -
das wär's doch gewesen!
Solid gelernt,
stramm eingearbeitet,
an der Aufgabe
gewachsen,
statt des Lebens
der Penelope,
die knüpfend
und Fäden lösend
das Palastleben
verweigerte.

Leben ohne Wurzeln.
Mal hier, mal da.
Ohne Sinn und Ziel,
unähnlich der
Biene,
die wohlweislich
das beschnuppert,
was sich einfügt
in das Ganze.

Willst du
nicht Biene werden?,
frage ich SIE.
Deinen Fleiss
selbst belohnen
an dem
einen Ort
mit deinesgleichen?

Sie wird Empfangsdame.
Später Kellnerin.
Im Ganzen ein Herbstblatt im Wind -
abgeworfen,
um nicht mehr zu wachsen.
 
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zeitistsein

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Gestern wäre mein Vater 85 geworden.
[Foto meines Vaters als junger Mann].
Ein schöner Mann, nicht?
Was für eine banale Frage!
Die einzige, die ich stellen kann.
Alle anderen bleiben unbeantwortet: War ich eine gute Tochter? War ich auf der Höhe? Warum hat er nicht auf mich gewartet? Und was zum Teufel wollte ich in der Apotheke, an jenem Tag? Morphium holen. Oder wollte ich doch fliehen, vor jenem allerletzten Augenblick, in dem sich seine Hand und seine Stirn warm anfühlen würden?
Julia, die im Warschauer Ghetto war und sich besser mit Tod, Leichen und den letzten Dingen auskennt als ich, sagt, dass Menschen sich den Zeitpunkt des Schwellenübertritts - so nennt sie den Tod - sehr genau aussuchen. Immerhin, sagt Julia, ist dein Vater mit dem Gesicht zur Kommode verstorben. Dort steht ein Bild von dir, und du lächelst. Gibt es eine grössere Geborgenheit, fragt Julia, als in den Armen der geliebten Ehefrau und mit Blick auf eine glückliche Tochter zu sterben?
Danke, Julia, antworte ich. Du zeigst echte Anteilnahme. Ganz anders als die "Familie", die mich nach sechs Wochen fragte, ob ich schon über den Tod hinweg sei. Und eine Tante sagte mir während der Beerdigung, ich solle nicht so weinerlich sein. Einen Vater zu verlieren sei das Normalste der Welt und ich sei einfach nur verwöhnt.
Wie ich mich vor euch allen ekle, ihr Ungeziefer! Familie wollt ihr sein? Nichts seid ihr. Ein einziges grosses Gift und Krebsgeschwür unserer Seele.
Der Krebs meines Vaters war wohl schmerzbehaftet, doch kein Schmerz reicht an das heran, was ihr ihm zeitlebens und meiner Mutter und mir in der Trauer angetan habt.
Ihr seid es nicht Wert, dass ich euch hasse, mein Vater würde es nicht wollen. Weil er eine edle Seele war, hat er euch bestimmt vergeben und liebt euch sicher auch.
Ich, niemals. Wieso sollte ich?
Julia nickt, währenddem ich ihr das erzähle. Sie versteht mich. Auch ohne Worte. Solche Leute brauchen wir Trauernden. Sie sind wie robuste Bäume in der Natur, die keine Meinung über uns haben.
 

zeitistsein

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Du, mein Land, fehlst.
Von dir bin ich gegangen,
wie eine Bäuerin,
nach Vergraben
eines Schatzes
im Felde.

In der Fremde,
meine Hülle.
Ich aber
in dir.
Wohl behütet,
einer neuen Ankunft
harrend.

Derweil:
der Rhein im Atlantik,
Alpengletscher bei Olivenbäumen,
das Maderanertal
in einer Wüstenlandschaft,
Jahre
nun schon
sie grundierend,
rundum Rhein,
Alpen
und Tal,
auch am Mittelmeer.

Meinungslos
nahmt ihr,
roter Sandstein,
steinerne Brücke,
Vogel, Löwe
und Wilder Mann,
mich auf,
als ich kam
und entliesst mich,
als ich ging.

Ohne Meinung
war eure Liebe -
längst bin ich
in euch begraben
und werde zu
eurer Erde.
 
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zeitistsein

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Heute ist World Poetry Day.

Ein Anlass, nochmal den Satz von Herta Müller aufzuschreiben, der mich immer begleitet:

"Wem soll ich sagen, dass in der Dahlie eine kluge Ruhe blüht?"

Da ist so viel drin: die Einsamkeit, das potentielle Nicht-Verstanden-Werden, die rhythmische und klangliche Ausgeglichenheit.
Grossartig.
 

zeitistsein

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50 Jahre ist es her, seit Picasso starb.
Habe ich ein Lieblingsgemälde von ihm?
Eigentlich mehrere.
Eins davon ist "Die Suppe", fertiggestellt wohl 1902 oder 1903 und entstanden somit in der sogenannten Blauen Periode.
Zu sehen sind zwei Figuren.
In der Körperpose einer antiken Priesterin hält die eine eine dampfende Suppenschale in den Händen.
Sie hält die Augen geschlossen; es könnte sich um eine blinde Seherin handeln, in Anlehnung an Teiresias, den männlichen Pendant aus der Odyssee.
Ihr entgegen rennt oder schwebt ein kindliches Wesen, die Arme nach der Schale ausstreckend.
Im Hintergrund, eine schwarze Linie, die das Kind hinter sich gelassen hat; die mütterliche Figur schlurft ihm barfuss entgegen.
Schwarz sind auch die schulterlangen Haare des barfüssigen Kindes wie auch die zu einem Knoten zusammengebundenen der Frau.
Ein Übergangsritus scheint sich hier abzuspielen.
Ernst nimmt das Kind die Ankunft des neuen Wesens zur Kenntnis und die warme Mahlzeit aus ihrer Hand in Empfang, als sollte es der älteren Frau damit eine Last abnehmen.
Statt einer brennenden Fackel wird hier eine dampfende Suppe weitergereicht.
Ernst, auch der Gesichtsausdruck der Frau und dunkel ihr Gewand, das ihren gesamten Körper bedeckt, als wolle sie mit dem dunkelblauen Hintergrund und dem damit verschmelzenden Dampf eins werden.
Ein Gemälde über Tod, Leben und die Heiligkeit des Alltäglichen.

https://de.artsdot.com/@@/8XYNST-Pablo-Picasso-die-suppe
 
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zeitistsein

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Mein Schatz,

ich wünschte, du kämst durch die Tür und würdest mich hier rausholen. Jetzt gleich.
Oder soll ich einfach weg? Jetzt gleich könnte ich meinen Rucksack packen. Viel bräuchte ich nicht. Kreditkarte, Laptop und Handy. Nicht mal Kleidung würde ich mitnehmen. Und dann einfach weg. Irgendwohin.
Vielleicht könnte ich zu Christian. Ich würde am liebsten zu dir. Aber wie würdest du reagieren, wenn ich vor deiner Haustür stünde? Tränenüberströmt. Um Zuflucht und Gnade flehend.
Du würdest mich in deine Arme schliessen. Mit Sicherheit.
Aber meine innere Not könntest du auch nicht lindern.
Die Vergangenheit bliebe wie sie war. Ich liebe dich zu sehr, als dass ich dein Leben zerstören möchte.

Über Mutter will ich nicht reden. Das hat keinen Zweck.

Ich war gestern einkaufen. Bei Ikea. Habe ein Hängeregal aus Stoff gekauft. Findest du das gut? Ich höre dich sagen, dass es wohl unter den gegebenen Umständen die bestmögliche Lösung war. Du findest auch, dass ich jetzt nicht hier sein sollte. Ja, ich weiss. Aber jetzt ist es zu spät. Ich habe zu spät realisiert, worauf ich mich einlasse und was ich mir alles aufhalse.

Gestern waren die Cafés rammelvoll. Hast du gesehen? Würdest du gern hier leben? Ich vermute nein.

Wie toll du ausgesehen hast, als wir uns das letzte Mal sahen. Weisst du noch, was du anhattest? Ich schon. Wie sollte ich es auch vergessen? Wie sollte ich auch nur einen Augenblick vergessen, den wir gemeinsam verbracht haben? Ich sehe noch jede kleinste Regung in deinen Augen, als stündest du jetzt vor mir, als würde sich die Geschichte wiederholen. Würdest du auch sagen, dass das, was uns beiden widerfuhr, der Inbegriff der Ewigkeit ist? Schon, oder?

Nicht dieses Nicht-Aufhören-Wollen der Zeit ist die Ewigkeit, sondern dieses unglaublich intensive Erleben eines Augenblicks. Es hätte eine Millisekunde, in der sich unsere Blick gekreuzt hätten - du wärst jetzt ebenso in meinem Herzen. Immer. Es ist immer Jetzt, mit deinem Lächeln und deinem gütigen Blick vor meinem inneren Auge. Immer bist du da, bei mir. Lässt dich in den Arm nehmen und zärtlich berühren. Eine schönere Ewigkeit kann man sich gar nicht wünschen. Und um die geht's. Sie ist das, was man gemeinhin "das wahre Leben" nennt. Nicht der alltägliche Krimskrams. Den kann man vergessen. Der wird irgendwann zu Staub. Aber dein Lächeln in meinem Herzen und deine Hände, die mir übers Haar streichen - das wird niemals zu Staub. Das war dann, das ist jetzt und das wird auch noch nach dem Verglühen der Sonne in ein paar Jahrmillionen sein, genau so, unverändert.

Wie fandest du die Frau, die Mutter und mich heute Nachmittag ansprach? Seltsam, oder? Glaubst du, sie war mal eine Flamme meines Vaters? Sie hat so komische Andeutungen gemacht. Und Mutter war hinterher noch stinkiger als vorher. Sie steigt allmählich herab von ihrem hohen Ross.

Christian will jetzt eine Firma aufmachen. Glaubst du, er würde mir Arbeit geben, wenn ich ihn darum bitte? Wahrscheinlich nicht, oder? Glaube auch nicht.

Ich war gestern etwas zu optimistisch und habe mir für die nächsten sechs Monate zehn zusätzliche Wochenstunden aufgehalst. Wie findest du das? Glaubst du, ich schaff's? Es ist immer so schwer, meine Kräfte einzuschätzen.

Übrigens, weil wir's gerade von den Kräften haben: Hast du gesehen, dass ich gestern zweieinhalb Stunden ohne Pause und ohne Schwächeanfall gegangen bin? Und auch noch bergauf? Sensationell, oder? Zwischendurch war die Angst vor einem Zusammenbruch völlig verschwunden. Der Körper übernahm das Kommando, fast wie ein selbstfahrendes Fahrzeug. Das war beinahe etwas unheimlich. Aber schön. Endlich kann ich wieder gehen, mich frei bewegen. Wenn da nicht Mutter wäre, die immer alles kaputtmachen muss.

Ja, sagst du. Ich habe mir zu viel aufgehalst. Doch als Einzelkind hat man keine Wahl. Soll ich meine Mutter in einem Altersheim abstellen und mich dann einfach auf dem Staub machen? Du sagst, das würde mich erst recht umbringen. Du hast recht. Wer kennt mich besser als du?

Gestern bei Ikea sah ich einen silberfarbenen Audi A6. Ich bildete mir ein - nein, ich redete mir bis zur absoluten Gewissheit ein -, dass du das warst. Du warst mal eben schnell weggefahren, um was zu erledigen, würdest aber bald wieder um die Ecke gefahren kommen, um mich abzuholen. Und dann roch ich auch noch deinen Duft. Den rieche ich sowieso fast immer. Ich inhaliere ihn förmlich. Er ist mein Lebensatem.

Mit diesem Text habe ich also, wie du siehst, mein Schweigen gebrochen. Ich habe den Glauben aufgegeben, dass ich verrückt bin. Erinnerst du dich, dass du mir das bereits vor Jahren sagtest, als wir uns gemeinsam den Film da ansahen? Ich fragte dich, ob die Frau im Film verrückt sei. Und du sagtest, ohne zu zögern, nein, sie ist nicht verrückt, sie ist verliebt.

Warum soll ich also nicht mir dir reden? Ausgerechnet dich, der du mich erkennst, wie ich bin, soll ich verscheuchen und dafür den Monstern in mir Gehör schenken? Ich verstehe diese unsere Verbindung nicht. Aber man muss nicht immer alles verstehen, man muss es akzeptieren.

Gute Nacht, mein Schatz. Ich liebe dich.
 
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zeitistsein

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Heute ist ein verdammt harter Tag.
Aus keinem ersichtlichen Grund.
Das Leben lastet auf mir, wie ein Schwergewicht, das nicht von der Stelle weicht.
Habe Mascha Kaleko gelesen und, wie sie, Sehnsucht nach etwas gespürt, was ich nicht benennen kann.
Daraufhin, Wolfgang Petry gehört. Bei einem Live-Konzert in Schalke, anno 1998.
Auf einmal wurde die Sehnsucht greifbar.
Die in die Lieder einstimmende Menge, der Schlagzeuger, Petry selbst ... ihre Gesten und Worte schienen mich direkt anzugehen, wie Botschaften aus einer Überwelt.
 
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zeitistsein

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Ohne Fleiss, kein Preis - so wurde ich erzogen und daran halte ich grundsätzlich fest. Doch in der heutigen Gesellschaft war das wohl mal. Inzwischen gelten andere "Werte".
So hat es sich Null gelohnt, dass ich immer und ausschliesslich, mit allen Kunden Überstunden mache. Mir einen sinnvollen Unterricht überlege. Noch Zusatzübungen raussuche oder selbst entwickle. Nein. Das Donnerwetter von ganz oben ergiesst sich mit voller Wucht über mir. Denn die neue Kundschaft fehlt. Wir schreiben nur noch rote Zahlen. Ich bedeute dem Unternehmen keinen Gewinn, sondern einen Verlust.
Dankeschön. Für die unbezahlten Überstunden, die mir niemand honoriert. Darauf war ich nicht gefasst. Wenigstens ein trockenes "Danke" hätte ich schon erwartet - hatte MAN erwarten dürfen. Für hochwertigen Unterricht, für grösstmögliche Flexibilität. Für Freundlichkeit, Höflichkeit und Professionalität.
Alles keine Werte mehr. Wert ist heute Münzgeklirr. Nicht Philosophie, nicht Ernsthaftigkeit, nicht Zuverlässigkeit. Kann man alles rauchen.
Tja. Nun stellt sich mir die Frage. Bleiben oder gehen? Will ich in einem solchen Unternehmen arbeiten? Will ich in einer solchen Welt weiterleben?
Heute lautet die Antwort: Nein. Der Abgrund rückt näher. Ich brauche nur den rechten Fensterflügel aufzureissen, das rechte Bein anzuwinkeln, es zu heben, und mit einem Schritt über den Sims endlich alles zu beenden.
 



 
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