(Lese-)Tagebuch

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zeitistsein

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Das ist einmal in interessanter Gedanke - womit oder auf welche Weise tackern wir uns im Alltag fest, wenn es der Elan und die Überzeugung, dass wir zu den 5% Glücklichen gehören, allein nicht schaffen ... ich lese gerade von Patti Smith Das Jahr des Affen. Die Frau ist überwältigend, auch wegen ihrer schonungslosen Offenheit, ihr Universum ist reicher, weil sie mehr wahrnimmt und steht aber auch zu der verwirrenden Kraft dieser Wahrnehmung. Sie ist ganz nah dran an den Dingen und schämt sich für gar nichts. Sie ist der personifizierte Nicht-Fake. Warum mir das hier einfällt? Weil es immer so schwer ist, auseinanderzuhalten, ob wir tatsächlich etwas 'wahrnehmen', oder in 'Nicht-Wahrnehmen-Wollen' uns selbst verrückt machen.
Der vorletzten Zeile möchte ich widersprechen. 'Das Schicksal' erscheint nur in der Retrospektive so glasklar. 'Währenddessen' haben wir Handlungsoptionen, und erst mit unseren Handlungen machen wir das Schicksal 'perfekt'.
Hallo petrasmiles

Vielen Dank für deinen Beitrag und die spannenden Anregungen.
Gerne lasse ich das alles so stehen.

Viele Grüsse
z
 

zeitistsein

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Heute habe ich den Boden nass aufgezogen. In der Küche, im Bad und im Flur.
Es war nicht nur wegen der Hitze nötig, um die Fliesen abzukühlen; irgendetwas verlieh mir plötzlich einen gehörigen Energieschub, sodass ich in einem Fort die ganze Wohnung saubergemacht hatte und dann auch noch in der Mittagshitze mit einem unglaublichen Elan einkaufen ging.
Weil der Vergleich zwischen Wasser und Reinigung so sehr auf der Hand liegt und viele Leute davon ausgehen, dass eine saubere Wohnung auf ein ebenso sauberes Innenleben deute, habe ich zunächst die geballte Energie, die sich in mir breitmachte auf das zurückgeführt, was gestern war.
Es musste etwas Schlechtes gewesen sein, wenn ich heute diesen Drang nach Sauberkeit verspürte. Ganz bestimmt wollte ich heute mit dieser Putzaktion meine Seele reinigen, nachdem ich sie mir gestern beschmutzt hatte.
Während die Fliesen vor sich hin trockneten, machte ich mich auf zum Wohnzimmerfenster, um nachzuschauen, ob die Möwen wieder mal ihr Geschäft an meinen Fensterscheiben verrichtet hatten. Fast hoffte ich darauf - so sehr war mir nach Putzen!
Kaum wollte ich einen Fensterflügel öffnen, spürte ich einen Stich in der Herzgegend.
Da war es wohl, interpretierte ich, das schlechte Gewissen. Wegen gestern.
Sie war schwer zu beschreiben, diese Mischung aus Leichtigkeit und Schwere. Oder war das, was ich gerade - und gestern noch viel deutlicher - spürte, der berühmte Stein, der mir vom Herzen fiel?
Die Fensterscheiben leuchteten glasklar in der Mittagssonne. Mir schien die Welt, als sähe ich sie zum ersten Mal. Das kleine Möwennest auf dem gegenüberliegenden Dach. Die beiden schwarz gekleideten Barbetreiber, die breitbeinig, mit Sonnenbrille und verschränkten Armen in der Tür standen, Türsteher ihres eigenen Geschäfts - auffallend, die schwarze Kleidung in der Sommerhitze.
Auffallend auch, meine Leichtigkeit heute, angesichts von so viel Schwere.
 

zeitistsein

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Mutter lässt nicht los. Sie wärmt immer wieder die alten Geschichten auf. Ich kann da mittlerweile nichts mehr dagegen tun, ausser zuhören und die uralten Verletzungen immer wieder über mich ergehen lassen.
Dass Mutter auch mal die Perspektive wechselt und sich fragt, was sie in zwischenmenschlichen Beziehungen wohl falsch gemacht haben könnte, kommt nicht vor. Oder aber sie sucht an der falschen Stelle.
Da ich aber nicht dabei war, lasse ich alles auf sich beruhen. Es ist nunmal Mutters Sicht, so wie sie die Dinge erlebt. Dass man die Dinge auch ganz anders betrachten könnte, sage ich schon gar nicht mehr. Mutter weiss das -davon gehe ich aus-, auch wenn sie dies nicht ausspricht.

Gestern Abend trug sich also zu, dass eine alte Bekannte uns auf dem Gehsteig entgegenkam. Ich registrierte sie wohl, lenkte Mutters Aufmerksamkeit aber bewusst auf ein Schaufenster, an dem wir gerade vorbeigingen, in der Hoffnung, die Begegnung würde unerkannt bleiben. Aber zu spät. Mutters Röntgenblick hatte die uns entgegen spazierende Frau genauestens bemerkt.

Man ging wortlos aneinander vorbei, so als wäre man einander fremd. Das tat Mutter weh. Und mir auch in gewisser Weise. Ich leide mit ihr. Aber das Gespräch wäre weitaus dramatischer ausgegangen - davon bin ich überzeugt. Also war es nunmal kurz und relativ schmerzlos, wobei der Schmerz in diesem Falle in der Unmöglichkeit liegt. Der Kontakt scheint ein für allemal abgebrochen zu sein und kein Zurück scheint möglich. Ich finde das auch traurig, aber oft genug habe ich vor vielen Jahren schon gesagt, dass Freundschaften gepflegt werden wollen. Lässt man sie eingehen, lebt man sich auseinander. Das ist nunmal so. Das Leben kommt dazwischen. Man erleidet Verluste, hinzu kommen Missverständnisse und viele Jahre der fehlenden Bezogenheit.

Mutter ist eine Einzelkämpferin, darin liegt ihre Tragik. Und wenn ich sie mir so anschaue, dann habe ich oft das Gefühl, sie gehe haarscharf an der Kriminalität vorbei, so wie das der Psychiater neulich in einer Doku auseinandersetzte: Kriminelle sind von vornherein beziehungsunfähig; sie verstehen sich als von der Gemeinschaft abgesondert, sodass die Einbuchtung als äussere Folge einer inneren Wahrheit verstanden werden kann.

Mutter lotet gerne Grenzen aus. Das war schon immer so. Und jetzt ist sie im Gefängnis ihrer Einsamkeit gelandet, allen Teufelskreisen anheim gegeben, die eine derartige Existenz mit sich bringt.

Was lerne ich aus diesem Ganzen? Nichts Gutes.

Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, wie Oma die Kathrin, die nach der Schule zu mir gekommen war, um Blockflöte zu üben, mitten im Regen auf die Strasse gesetzt hatte. Wer sind die Eltern dieses Mädchens? Wissen sie, dass sie hier ist? Wir wollen keine fremden Kinder hier bei uns?

Hochpeinlich für mich sowie für Kathrin, die sich wohl fremdschämte. Am nächsten Tag wusste das ganze Schulhaus Bescheid, was für ein komisches Geschöpf ich war. Man beäugte mich misstrauisch, als wäre ich ein wildes Tier und so fühlte ich mich auch.

Das Tragische: Auch meine Eltern wussten es nicht besser. Sie vermasselten sich ihre Freundschaften mit lauter Taktlosigkeiten. Irgendwann, natürlich, wenn sie die Freundschaften am meisten gebraucht hätten, standen sie alleine da.

Ich habe mich nicht für sie geschämt, aber ich wusste einfach, es würde jedes Mal unangenehm werden, wenn ich jemand einlud. Wo wir auch hingingen, wir waren die Aussenseiter. Die anderen sprachen von Festen, Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag, meine Eltern kamen mit dem Börsenindex, von dem sie ungefähr so viel verstanden wie ich von Atomphysik, nämlich gar nichts. Da war immer ein Hauch Überlegenheit und gleichzeitig eine grosse existenzielle Leere, die ich mir nie ganz erklären konnte. Warum konnten sie nicht einfach ausgelassen schwimmen gehen oder ein lockeres Gespräch führen? Warum konnten sie nicht einfach sein, so wie die anderen?

Als Teenager sang ich in einem Chor. Wegen eines Jungen, der mir gefiel. Mitten in den Chorproben tauchte eines Tages mein Vater auf und riss mich raus. Ich hätte noch das ganze Leben vor mir, um zu singen, meinte er. Hinterher meinte eine Freundin zu mir, ich hätte Glück gehabt, dass "er", der Schwarm, an dem Tag nicht da gewesen sei, das wäre ja so schon peinlich genug gewesen. Und das stimmte. Ich wollte einfach nur noch im Erdboden versinken.

Ich war immer hin und hergerissen wegen meiner Eltern. Einerseits wollte ich weg, einfach mein Leben leben so wie alle anderen auch. Andererseits spürte ich die grosse Not. Sie waren einsam. Sie hatten es sich mit allen und jedem verbaut. Niemand wollte angesichts ihres Verhaltens noch etwas mit ihnen zu tun haben. Eine andere Freundin sagte mir später mal: Alles bleibt an dir hängen. Niemand sonst wird deine Eltern aushalten. Und sie hatte Recht. Leider war auch sie keine grosse Hilfe, was ich ihr aber nicht zum Vorwurf mache. Ich liebe sie, ich wünsche ihr alles Gute. Sie ist ein toller Mensch. Und auch meinen Eltern zuliebe habe ich von ihr Abschied genommen. Ich trenne mich vorsorglich, am schwersten ist mir das bei meiner grossen Liebe gefallen.

Ich mag gerade gar nicht, wie ich mich hier so als grosses Opfer darstelle. Da muss ich noch an mir arbeiten. Genauer hinschauen, warum ich selber so einsam bin. Liegt es wirklich an meinen Eltern? Was sind meine Schwächen und Fehler. Ich schummle. Ich gehe nicht ehrlich mit mir ins Gericht und das muss ich unbedingt ändern.
 
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zeitistsein

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Heute Morgen ging es mir gar nicht gut.
Beim Aufwachen hatte ich starke Selbstmordgedanken, die ich aber inzwischen als Hirngespinste zu erkennen weiss. Dagegen unternehmen kann ich nicht viel; ich muss einfach warten, bis sie sich wieder legen.
Die Telefonseelsorge hat geholfen, die Wartezeit durchzustehen. Gegen Abend lichtet sich mein Gemüt meist; heute hat dies aber länger gedauert als sonst. Der innere Wachhund, wie ich diesen Wust aus Selbstvorwürfen, uralten Verletzungen und Anklagen nenne, kläffte besonders lange und besonders laut; da hilft keine Gewalt, sondern eigentlich Zuwendung und ein geduldiges Ausharren.
Der Satz des Joseph Ratzinger fiel mir ein, in dem er, Ratzinger, über den Tod sinnierte: Ich bereite mich auf eine Begegnung vor, soll er dazu gesagt haben. Wahrscheinlich meinte er die Begegnung mit Gott.
Auch die Frau von der Telefonseelsorge sprach von Jesus. Dass man auch in der Depression eine Beziehung zu ihm aufbauen könne.
Liebe Frau, habe ich gesagt, Sie haben wohl noch nie eine Depression gehabt. In dieser inneren Leere wird alles zur Bürde, sogar das Atmen ist eine Belastung, da ist an Beziehungspflege gar nicht zu denken. Man ist einfach völlig am Ende und fertig mit sich und der Welt.
Trotzdem habe ich versucht zu beten. Halt ohne Glauben. Rein mechanisch, sodass das reine Aussprechen der Wörter mich am Leben erhält.
Die Seelsorgerin verstand nicht, wie man ohne Glauben beten könne. Und wollte wissen, wie das funktioniert.
Nein, sie verstand wirklich nicht, dass ich nicht zu Anleitungen aufgelegt war. Dass mir schlicht alle Lebensenergie dabei war, mir abhandenzukommen. Dass mir war, als würde ich gleich sterben.
Nachdem das Gespräch beendet war, ging ich nach draussen und fand, dass es den meisten Leuten wohl ähnlich geht wie mir. Vom Leben überfordert, hastig und mit ernster Miene rennen sie alle mit Kopfhörern durch die Gegend, als würden sie um ihr Leben rennen.
Man kennt sich nicht und weiss nichts voneinander.
Neulich hörte ich, dass eine Seniorin mehrere Tage tot ihn ihrer Wohnung gelegen hatte, der dichten Besiedlung des Quartiers zum Trotz. Niemand kümmerte sich, alle zucken die Schultern angesichts der Not des anderen, als wäre diese Not nicht das Eigentliche, das zu einem spricht.
Ein Angestellter im Obstladen um die Ecke meinte, er wäre nur vorübergehend hier; sein eigentliches Ziel wären die USA und dort dann natürlich das grosse Geld machen. Nie mehr ward er seitdem gesehen. Ob er den Sprung vom unterbezahlten Obstverkäufer zum Multimillionär bereits geschafft hat?
An der Einstellung, dass das hier, sei es der Obstladen oder was anderes, nicht alles sein kann, dass da noch mehr kommen muss und dass man auch ein Anrecht auf dieses Mehr hat, kranken viele.
Dabei ist eine vereinsamte Seniorin doch schon Grund genug, Sinn im Leben zu finden. Warum auf der Suche nach Mehr das Eigentliche vernachlässigen?
 

zeitistsein

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Ich frage mich, ob K. es schaffen wird. Sie ist auf jeden Fall motiviert und weiss auch viel. Aber zum Lehrerberuf gehört eben mehr.
Man liefert sich aus. Man ist exponiert. Man gibt vieles von sich preis, ohne es zu wollen.
Ob sich K. dessen bewusst ist?
Ich habe sie beobachtet, wie sie sich während des Unterrichts gab.
Sie unterbrach die TeilnehmerInnen viel zu oft. Wollte ihr Ding durchziehen, statt die Leute ausreden zu lassen.
Da habe ich ein paar Fragezeichen, ob da genügend Änderungspotenzial ist. Im Bericht muss ich das diplomatisch formulieren. Ich möchte nicht, dass sie als Egomanin oder gar als Tyrannin rüberkommt, denn das ist sie definitiv nicht. Sie ist durchaus respektvoll, sagt Danke und Bitte und Guten Tag und Auf Wiedersehen. Alles sehr freundlich und korrekt.
Nur eben das andere. Die Unterrichtsdynamik. Die Leute ausreden lassen. Das Wesen des Unterrichts erfassen. Da hakt es noch.
Am Ende der Stunde meinte sie, sie könne nicht mehr. Sie sei ausgelaugt und wolle nicht weitermachen.
Kein Wunder, habe ich erwidert. Du standest unter grosser Anspannung, dein Programm unbedingt durchzubringen, so als wärst du eine Schauspielerin, die ihren Text einwandfrei aufsagen muss und ja kein Wort vergessen darf. Unterricht ist aber kein Theater.
K. sah mich ernst an. Ich weiss nicht, ob ich das kann, meinte sie. Ich dachte, das Unterrichten würde mich erfüllen, aber jetzt fühle ich mich so leer. Dabei haben wir so viel gemacht und besprochen. Warum fühle ich mich so? Und so traurig?
K. schien tatsächlich Tränen in den Augen zu haben.
Ich schwieg und überlegte, ob ich die Besprechung fortführen sollte. K. schien irgendwie mitgenommen und ich bezweifelte, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt war, um auf didaktische und methodische Fragen einzugehen und die nächste Praktikumstunde zu planen.
Wir waren an einen existenziellen Punkt angelangt, über den nachzudenken sich lohnte. Aber ich war nur die Betreuerin. Ob K. nicht vielleicht doch allein sein wollte, um den Dingen Raum zu geben, die gerade in ihr vorgingen?
Mir schien, das war eine Lebenswende, die sich gerade vor meinen Augen, jedoch im Verborgenen, nämlich in K.s Innerem, abspielte.
Sie hatte mich angeblickt, dann ihren Blick gesenkt. Jetzt blickte sie auf und schien verändert. Ihre Wangen waren gerötet, die Augen glänzend und die Körperhaltung, eben noch in sich zusammengesunken, jetzt irgendwie anmutig und aufrecht.
Ich pack' das nicht, kam es von ihr schliesslich, als hätte sie eine weltbewegende Erkenntnis gewonnen.
Warum nicht?, will ich wissen.
Zu viel Arbeit. Ich habe doch schon jahrelang studiert. Und jetzt noch dieses Praktikum. Und der Unterricht war so schlecht.
Na ja, erwidere ich. Selbstreflexion sollte nicht zu Selbstzerfleischung ausarten. Darum geht es nicht. Wir ziehen alle am selben Strick. Wir wollen die gute Schule errichten. Das kann keine Lehrperson alleine. Das können wir, wenn schon, nur gemeinsam. Als Team. Als Kollektiv oder Gemeinschaft. Sie solle es nennen, wie sie wolle.
K. schweigt. Sie lässt sich in die Stuhllehne zurückfallen, wie ein trotziges Kind, das nicht aufessen will.
In diesem Augenblick bin ich wohl, obwohl es mir nicht bewusst ist, in der Mutterrolle, die man mir so oft schon angedichtet hat. Fürsorge gehört dazu, Wohlwollen und Anteilnahme ebenfalls.
Und das Wichtigste: Loslassen. Was K. eben auch noch bevorsteht. Sie muss lernen, von sich abzusehen und den Weg, den der Unterricht nimmt, mitzugehen, auch wenn er ihre Unterrichtsvorbereitung über Bord wirft.
Die Freiheit des anderen zu begrüssen, auch wenn sie mich vernichtet. Ob das die höchste Form der Liebe ist?
Möglicherweise.
Ich muss da auch reinwachsen. Immer wieder. Drei Schritte vor und einen zurück.
Ja, unterrichten, auch in der Erwachsenenbildung, hat was von einer Eltern-Kind-Beziehung, für die es kein Handbuch gibt.
Kein Rezept? Keine Richtschnur? K. schaut ungläubig drein.
Wofür habe ich dann studiert? Dann hätte ich doch gleich Pi mal Handgelenkt anfangen können zu unterrichten und irgendwas schwurbeln.
K. hat erwartet, dass ich ihr das Geheimnis ins Ohr flüstere, um nie mehr zu scheitern. Das Geheimnis, das jeder Erwachsene doch zwangsläufig kennen muss und das er einem Kind, sobald es alt genug ist, um es zu verkraften, verraten wird. Früher oder später.
Jetzt dämmert meiner Praktikantin, dass es ein solches Geheimnis nicht gibt.
Ich habe keine Enthüllung, nur das Angebot, ihr beizustehen, sie zu begleiten, im Guten wie im Schlechten.
Mehr habe ich nicht zu bieten.
Schlechte Bezahlung und hoher Workload sind sicher gewichtige Gründe, warum viele den Lehrerberuf scheuen.
Doch im Grunde geht es auch um die Erwartung, eine Technik anwenden zu können, die fliessbandartig das gewünschte Ergebnis herbeiführt.
Soziale Berufe funktionieren so nicht. Da geht es nicht um Technik, sondern um Beziehung, Empathie, Zuhören, Präsenz, Zuwendung. Der Dozent ist als ganzer Mensch gefordert und doch muss er eine saubere Trennung von Beruflichem und Privatem hinkriegen.
Das ist alles nicht leicht.
Was mache ich, wenn mich privat etwas belastet, wenn mich etwas stört, wenn mir ein Schüler unsympathisch ist? Wie gehe ich mit diesen Dingen um, die man nunmal nicht ausblenden kann, gerade weil wir als Menschen keine Aussenstehenden, sondern Beteiligte sind.
Was machen wir mit alledem?
Ich spüre, dass K. noch nicht bereit ist, sich diesen Fragen zu stellen.
Auch ich bin es nicht immer. Und doch ist das lebensnotwendig, wenn wir Menschen bleiben und nicht zu Maschinen werden wollen.
 
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zeitistsein

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Ein weiterer Unterrichtstag ist um. Morgens denke ich meist, ich überlebe das nicht, werde mittendrin zusammenklappen oder einen Infarkt erleiden. Weil sechs Stunden pro Tag ein happiges Pensum ist. Zumindest scheinbar. Zwischendurch schiele ich manchmal auf die Uhr und sehe: noch nichtmal Halbzeit. Gegen Lektionsende kommt dann stets ein unerklärlicher Energieschub und wir überziehen dann nicht selten.
Wir wollen das Ende irgendwie nicht wahrhaben.
Die heutigen Teilnehmerinnen schienen zufrieden mit dem Unterricht. Es gab viel Interaktion, viele Dialoge, viel Diskussion und spannende Einblicke in die Erfahrungswelt einer jeden. Es wurde auch gelacht und geschmunzelt.
Früher habe ich mich nach jeder so verlaufenen Unterrichtsstunde in allzu grosser Sicherheit gewogen. Ich habe mir darauf etwas eingebildet, so als wären Tageserfolg und lebenslangem Erfolg gleichbedeutend. Inzwischen weiss ich: Jede Minute muss immer aufs Neue erkämpft werden. Nichts ist selbstverständlich, alles ist möglich - um es in Angela Merkels Worten zu sagen.
Ich frage mich, wie K. es machen wird.
Sie ist auf der Suche nach einer Sicherheit, die es nicht gibt. Sie will sich gegen alle Unwägbarkeiten wappnen, nichts Ungeplantes in ihr Leben lassen, als wäre sie in einer dichten Blase eingeschlossen oder besser gesagt: abgeschottet.
Es gibt heilende Berufe und das Unterrichten gehört für mich dazu. Ich jedenfalls wurde darin von jenem ungesunden Sicherheitsstreben befreit. Noch nicht vollständig, aber ich bin auf gutem Weg dazu.
Rilkes Worte fallen mir dazu ein:

"Aber jetzt in diesen Frühlingswochen
hat mich etwas langsam abgebrochen
von dem unbewussten dunkeln Jahr.

Etwas hat mein armes, warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiss, was ich noch gestern war."

Mein Herz wurde gebrochen - aufgebrochen.
 

zeitistsein

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Weil die Reise aufs Land schon längst überfällig war, entschloss sich Mutter am Mittwoch kurzerhand, dass heute der richtige Tag dafür se. Mir ist es gleichgültig, wann wir in ihr Geburtshaus fahren, um ein paar Tage dort zu verbringen, Unkraut zu jäten und einfach mal vom Stadtrummel abzuschalten. Es könnte von mir aus jedes Wochenende oder einmal im Monat sein. Für mich ist das wie Abschalten und ich sehe den Ausflug unkompliziert an. Das Geburtshaus liegt in einem abgelegenen Bergdorf, in dem von einst etwa 100 Einwohnern noch 5 übrig sind, wenn man die Jungen dazuzählt. An Erwachsenen sind es derer drei an der Zahl, man kann also mit Fug und Recht von einem einsamen Dorf sprechen - Mutter spricht von einem Geisterdorf, der ihr die Laune komplett verdirbt. Da kommen Kindheitserinnerungen hoch und der ganze Ballast, den das alte und nur teilweise renovierte Steinhaus mit sich bringt. Mutter zerbricht sich den Kopf. Sie möchte es loswerden, aber auch wieder nicht. Das Familiengrab ist ja noch da.
Wir kamen also heute um die Mittagszeit da an und trafen auf fensterhohes Gestrüpp auf dem kleinen Grundstück an. Mutter seufzte. Keine Menschenseele weit und breit, an den Fenstergläsern der umliegenden Häuser hingen Spinnennetze. Alles verlassene Häuser, die niemanden mehr interessierten.
Wir sind beide angespannt, wenn wir hier sind - der Aufenthalt birgt hohes Konfliktpotenzial.
Ginge es nach mir, dann würden wir übers Wochenende auswärts essen gehen. Das nächstgrössere Dorf liegt in 6 km Entfernung und ein Auto haben wir ja. Ich verstehe nicht, warum man das Auto mit Lebensmitteln vollpacken muss, so als würden wir dort überwintern. Es ist nur ein Wochenende. Aber Mutter will zwei Tage lang wenigstens so tun, als würde sie im verhasst-geliebten Geburtshaus leben. Wir gerieten uns in die Haare, selbstverständlich nicht wegen diesem einen Punkt. Hier zu sein ist für uns beide belastend und wir können nicht über unsere Gefühle sprechen - nicht miteinander.
___

Im Zuge des Unkrautjätens bin ich heute in eine Art Rausch geraten, der mich übermütig hat werden lassen. Folge: Ich habe einen schweren Stein gewälzt und der wäre mir um ein Haar auf Schienbein gefallen. Wie durch ein Wunder entkam ich dem schweren Aufprall und kam mit zwei Schürfwunden davon. Übrigens die einzigen Schürfwunden in meinem ganzen Leben. Während Mutter vor Schreck beinahe in Ohnmacht fiel, als sie das Geschehen beobachtete, rief ich ihr ihre eigenen Schürfwunden ins Gedächtnis - ihren Berichten zufolge gehörte sie zu den Kindern, die immer mit aufgesprungenen Knien herumliefen und ständig zu Boden stürzten - sowie die Tatsache, dass ich selbst , aufgrund ihrer Überfürsorglichkeit, noch nie Schürfwunden gehabt hatte.
Mutter machte mir Vorwürfe. Auf die Wunden zu pusten kam ihr nicht in den Sinn - das war auch früher so gewesen. Instinktiv spürte ich den Drohfinger über mir, der mich mahnte, der Mama ja keine Probleme zu bereiten, sonst hätte das böse Folgen.
Es hat sich nicht geändert. Der Drohfinger ist immer noch da.
 

zeitistsein

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Sonntag, 8 Uhr früh. Habe bereits eine Stunde unterrichtet, die letzte mit T. Nächste Woche hat sie die Prüfung. Alles schläft hier rundherum; draussen ist dichter Nebel. Die Hunde haben die ganze Nacht gebellt; mit Schlafen war nichts. Trotzdem bin ich ziemlich zackig aufgestanden, als der Wecker klingelte, hier in der Natur habe ich mehr Energie, bin ständig in Bewegung. Das Leben ist weniger bequem, hält einen auf Trab, sei es, dass man eine kleine Strecke zurücklegen muss, um Wasser zu holen oder man aufpassen muss, nicht über Steine zu stolpern. Dazu kann ich mich an dieser Landschaft nicht sattsehen - diese weiten grünen Felder, der Sonnenuntergang, die Bäume, die Vögel, die hin und wieder ans Fenster kommen, kurz innehalten und dann ihren Flug fortsetzen. Das hat einen ungemeinen Zauber. Zeitgleich zum Wecker krähte ein Hahn - auch das eine Erfahrung, die einem in der Stadt vorenthalten bleibt.
Nicht zu leugnen ist die Tatsache, dass die wenigen Nachbarn, die noch hier leben, in Kürze entweder wegziehen oder sterben werden. Ob es sich im Winter hier auch so gut lebt, wie im Sommer? Unser Haus ist jedenfalls noch nicht für den Winter ausgestattet und es ist die Frage, ob es sich lohnt, hier noch Geld zu investieren: einen Kamin einzubauen, das untere Stockwerk renovieren. Und dann noch die Land, die sogar für geübte Arbeiter strapaziös ist, hier oben in der rauen Bergwelt.
Jetzt hätte ich gerne einen Partner an meiner Seite. Einer, der mit anpackt. Der mir hilft, das Ganze zu stemmen und auf den ich mich verlassen könnte.
 
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zeitistsein

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In meinem Insta-Feed tauchen seltsam viele Teenie-Reels auf. Von sogenannten Influencerinnen, die Gleichaltrige zum Thema Verhütung u.dgl. beraten. Dabei habe ich mir als Teenager nie viel aus Gleichaltrigen gemacht. Die waren mir irgendwie suspekt und ich habe mich nie zugehörig gefühlt. Die älteren Leute - die hatten's mir angetan. Die sprachen über die wirklichen Probleme des Lebens; die wussten, wovon sie sprachen, von denen konnte man was lernen, auf die konnte man sich verlassen.
Schon möglich, dass da bei mir ein Entwicklungsschritt zu kurz gekommen ist. Andere haben davon nichts gemerkt; für sie war ich halt ein ganz normaler Teenager, mit den ganz normalen Fragen, die einen da umtreiben.
In den 80ern war schon vieles anders als heute. Man sprach nicht so offen über Sex, Probleme mit den Eltern, mentale Gesundheit und alles, was die jungen Leute heute ohne grosse Bedenken öffentlich machen, freilich um so manchen Shitstorm dafür zu ernten. Unsere Generation war da vorsichtiger. Die Bravo-Heftchen las man höchstens heimlich oder teilte sich eins während der Unterrichtspause. Taschengeld, um sich selbst eins zu kaufen - undenkbar!
Nun, Tatsache ist: Ich habe alle diese Mädchen in meinem Feed, die ihre Unterwäsche zum Besten geben und die mit 15 oder 16 oder wie alt auch immer, sich schminken, als hätten sie nie was anderes gemacht. Und sie wissen alles - scheinbar - über Psychologie, Beziehungskrisen, Redemitteln fürs Vorstellungsgespräch, Lohnverhandlungen, bis hin zu anspruchsvoller Philosophie, etwa, wenn es um Ausserirdische oder das Leben nach dem Tod geht. Alles wird mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit hinausposaunt, wie das "bei uns früher" - lieber Himmel, das klingt ekelhaft altbacken! - kaum denkbar gewesen wäre.
Ja, wir haben mehr nachgedacht, haben länger zugewartet, abgewogen; wir haben mehr im Moment gelebt, standen wohl nicht so unter Druck, uns vor den Augen der Welt beweisen zu müssen. Auch das hatte seine Schattenseiten.
Anderes, aber doch verwandtes (sonst hätte ich keinen so langen Vorlauf gebraucht) Thema: Habe P. die Zusammenarbeit aufgekündigt. Es ging einfach nicht mehr. Was soll denn das heissen, habe ich ihn gefragt, du willst "ein bisschen Literaturgeschichte" machen? Wie soll denn das gehen?
P. meinte, er wolle einfach ein paar Eckdaten zur deutschen Literaturgeschichte haben, mehr aber auch nicht. Nicht allzu tief ins Thema einsteigen, sonst wird es verwirrend - so lautete sein Motto. Na ja, so Tik-Tok-mässig Literaturgeschichte machen, mag ich nicht. Das Eigentliche bleibt verborgen, wie der Meeresgrund, zu dem man sich auch mühsam vorarbeiten muss. Kafkas Werk gehört in den Expressionismus - nicht nur nichtssagend, sondern auch falsch. Und was der Türhüter in der Parabel bedeutet? Really, Peter? Das willst du von mir wissen? Wenn das so ist, dann hast du von Literatur gar nichts verstanden. Selber denken - darum geht's. Aber dafür musst du erstmal was wissen. Sonst hast du keinen Bodensatz, an den du anknüpfen kannst.
P. entgegnete ein Aber nach dem anderen. Und so trennten wir uns.
Es gibt nur eine einzige Ursache für Depressionen, lässt Instagram gerade verlauten.
Wer ist das Genie, dass da wohl spricht?
Will ich es wissen?
Nein, nicht wirklich.
Ich tauche lieber ab, am besten bis zum Meeresgrund.
 
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zeitistsein

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In letzter Zeit schreibe ich gefühlt nur noch Kondolenzkarten. Letze Woche für Karl, diese Woche für Claude. Wer wird der nächste sein?
Der Tod, mein ständiger Begleiter. Eigentlich ein guter Denkzettel für die Tage, an denen wegen Banalitäten der Zorn in mir aufsteigt. Der Tod steht mahnend daneben und sagt: Bringt nichts; ich lasse mich nicht verscheuchen. Ich bleibe da und umarme dich eines Tages. Wenn mir danach ist. Wenn meine Hände frei sind, nachdem ich jemand anderen losgelassen habe. Zuerst aber sind die anderen an der Reihe.
Ich glaube, Nick war für mich so eine Art Todesbote. Deshalb habe ich ihn so abgrundtief geliebt. Mit ihm würde unsereiner gern mitgehen und in Ewigkeit zusammenbleiben. So habe ich den Tod gerne in meiner Nähe. Ich möchte ja wissen, wer da auf mich wartet. Gut, wenn es Nick ist, der mich am Ende in seine Arme schliesst. Dorthin entschlafen - ein Lebenstraum. Bis dann leben, eine Strafe.
 

zeitistsein

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C. hat sich heute per WhatsApp gemeldet, um mir mitzuteilen, dass sie ihre Eltern "zu sich" genommen hat. Na und?, habe ich mir gedacht. Was geht mich das an? Zurückgeschrieben habe ich meinen Wunsch an die beiden gebrechlichen, älteren Herrschaften, dass sie sich am neuen Ort gut eingewöhnen mögen.
Der neue Ort ist eine Mansarde, ein Dachboden ohne Liftzugang, gut geeignet für einen bohemen Lebensstil als Single oder junges Studentenpaar, aber sicher nicht auf die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern ausgerichtet. Noch dazu in einer touristischen Altstadt, wo man erstmal einen halben Kilometer laufen muss, bis zum nächsten Supermarkt und wo das Nachtleben tobt. Würde man da als betagter Mensch wohnen wollen? Wohl eher Nein. Aber was geht mich das an? "Zu sich genommen" stimmt auch gar nicht. Denn C. lebt bequem mit Mann, Tochter und Schwiegermutter in einem geräumigen Haus, ausserhalb der umtriebigen Stadt, während sich die gebrechlichen Alten jetzt durch die im Sommer überhitzte und im Winter unterkühlte Dachwohnung zwängen.
Dagegen hatten die alten Leute hier eine wunderbar eingerichtete und von A bis Z durchrenovierte Wohnung, alles, von der Apotheke bis zum Spital in Reichweite und am wichtigsten: das soziale Umfeld voll etabliert. Die Mutter ging wegen Knochenbeschwerden kaum noch aus dem Haus, aber den Vater traf man öfters mal beim Kaffeetrinken mit Kumpels an. Ein fröhlicher Mann, der sich in seiner Haut wohlfühlte.
Wie wird es ihm ergehen, in der Dachmansarde, mit seiner mobilitätseingeschränkten und psychisch angeschlagenen Frau. Wie wird sich der Umzug auch auf die Frau auswirken, die hier schon desorientiert war?
Nun ja. Ich denke mir so diese Sachen, aber mit der Tochter habe ich nichts am Hut. Was schreibt sie mir auch, wo wir doch sowieso keinen Kontakt zueinander haben?
Doch eigentlich geht mich diese Situation was an und berührt eine tiefe Saite in mir. Das Setting "alte Frau in Mansarde" ist mir nur allzu gut bekannt. Von meiner Oma nämlich, die im selben Alter von Cs. Eltern ebenfalls ihr Haus verliess, um in einer Mansarde zu hausen, die eher einer Gefängniszelle glich. Meinetwegen, sagt meine Mutter immer. Weil sie mich, die einzige Enkelin, so liebte und mich aufwachsen sehen wollte. Diese Erzählung habe ich lange genug geglaubt; inzwischen, weil ich ja mit meiner Oma aufgewachsen bin, weiss ich, was für ein freiheitsliebender Mensch sie war. Sie hat ihr Haus, ihren Garten, ihre Nachbarn geliebt. Aber meine Mutter, manipulativ wie sie ist, hat ihr wahrscheinlich eine Szene gemacht, wie sehr sie sie braucht und dass Oma doch auf mich aufpassen sollte, damit sie, meine Mutter, ungehindert arbeiten könne. Ich sehe es vor meinem inneren Auge, als wäre ich dabei gewesen. Und Oma hat halt nachgegeben, im Wissen, dass es falsch wäre, mit Ü-70 noch in ein anderes Land zu ziehen. Die Einsamkeit, die Sprachbarrieren, das Leben mit uns drei Jüngeren - das Gefängnis schlechthin.
Ich komme mein Lebtag nicht darüber hinweg, wie viel psychische Gewalt meine Oma in dieser Situation erleiden musste. Und meine eigene Schuld ist mir durchaus bewusst. Ich hätte mit ihr wegziehen sollen. Sie aus dieser unerträglichen Situation befreien sollen. Aber ich war zu feige, zu hilflos.
Cs. Tocher steht ein ähnliches Schicksal bevor. Die Ohnmacht angesichts des Leidensdrucks der Grosseltern. Das lässt einen nicht los.
Ich wünsche dem Kind und den Grosseltern das Beste. Das habe ich C. auch so geschrieben. Wenn sie zwischen den Zeilen lesen kann, wird sie die Message verstehen.
 
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zeitistsein

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Die Temperaturen sind kaum auszuhalten und gar nicht oktobergerecht: ganze 31 Grad sind noch auf dem Schirm, während die Uhr halb sechs anzeigt. Bei geschlossenen Fensterläden und insgesamt abgedunkelten Zimmern sitzen wir drinnen und sprechen über Gott und die Welt. Wir machen uns Gedanken, über das, was ist und was noch sein wird. Eigentlich sind Mutter und ich einander gerade sehr nah. So nah wie nie zuvor.
 

zeitistsein

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Habe das Buch von Deborah Feldman noch nicht ganz zu Ende gelesen, es hat mich aber jetzt schon zum Nachdenken gebracht.

Die in den USA geborene Jüdin wuchs in einer ultraorthodoxen Sekte auf und schaffte es, als 23-Jährige mit ihrem kleinen Sohn nach Deutschland zu fliehen. Sie landete mit ihrer Autobiografie "Unorthodox" einen Bestseller, der auch verfilmt wurde und legt jetzt ein Buch vor, in dem u.a. folgende Thesen vertreten werden:

- Deutschland hat einen "Judenfetisch", d.h. das Jüdisch-Sein fungiert als Feigenblatt und Schutzschild, hinter dem Individuen sich unangreifbar wähnen und das sie, wie Feldman meint, tatsächlich als Freibrief fungiert, um sich über den Rechtsstaat hinwegzusetzen.

- Nicht alle Juden werden gleichermassen vor Antisemitismus in Schutz genommen, sondern nur die, die einem bestimmten Bild des Judentums entsprechen, d.h. zum Beispiel religiös sind. Die liberalen, weltoffenen werden antisemitischen Angriffen preisgegeben. Es herrscht also, Feldman zufolge, eine Art selektiver Philosemitismus, der sich bei genauerem Hinsehen als selektiver Antisemitismus erweist.

Ein interessantes Buch, das sich flüssig liest. Feldman kommt im November in die Schweiz, nach Liestal und auch nach Zürich ins Kaufleuten.

https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1068357813
 

zeitistsein

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An den Uterus

Fristgerecht vernahm ich dein Signal,
nicht wissend, dass du existiertest,
ahnungslos über deine Gestalt
und dein Wesen,
das sich erst noch
offenbarte.

Weisse Unterhose,
blutverschmiert am Mittag -
betreten schwieg die Oma,
gab es abends weiter,
an die Eltern.
Stilles Raunen,
übermüdet,
nach Fabrikarbeit,
andere Sorgen,
als nach dir zu
fragen.

Mutter sollte ich dich nennen,
da du,
wie dieselbe
fordertest,
wütetest,
vor Neid auf andere Mütter,
deren Blut,
statt ins Leere,
in andere Bahnen lief.
Jahrzehnte
dauerte deine Rache;
Margaretha Maultasch,
bist du eigentlich,
das Schloss
nicht im Sturm, sondern
durch Aushungerung
erobernd.
So blutetest du mich
innerlich aus.
Im KZ hättest du
den letzten Brotkrümel
an dich gerissen,
statt das
Gemüt eines Kränkelnden
damit zu erfreuen.

Du wütest noch einmal,
bäumst dich auf,
sträubst dich gegen das Ende.
Auch ich möchte,
dass du bleibst.
Ich werde dich nicht verbannen.
Trotz deiner Tyrannei.
Du gehörst zu mir.
Und ich werde jetzt wissen, dass du da bist,
selbst wenn ich dich nie gesehen
und du nun bald
schweigst.

Ein neues Kapitel beginnt.
Und du wirst
still
in mir.
 

zeitistsein

Mitglied
Heute habe ich mich mit einer Schriftstellerin über das Schreiben unterhalten. Sie meinte, sie habe sich immer als Schriftstellerin gesehen, selbst dann, als sie reihenweise Absagen von Verlagen einstecken musste. Das hat mich beeindruckt. Und auch überrascht.
Denn für mich ist "Schriftsteller" eine Zuschreibung. So wie "Mama" zum Beispiel. Wenn das niemand zu dir sagt, dann bist du's auch nicht. Oder "Professor" oder sowas. Wobei diese Vergleiche irgendwo hinken, das ist mir schon klar.
Aber die Schriftstellerin sieht für sich keinen Unterschied zwischen Schreiben und Schrifsteller sein.
Ich schon.
Nur weil ich schreibe, bin ich noch lange keine Schrifstellerin. Selbst wenn ich mir einbilde, ich wäre eine. Und selbst wenn ich mehrere Bestseller lande, muss ich mich auch nicht als Schrifstellerin sehen oder als solche wahrgenommen werden. Man könnte mich ja trotz (oder wegen!) der Bestseller auch als Dilettantin bezeichnen.
Die grossen Autoren haben oft im Stillen gearbeitet. Anne Frank zum Beispiel wollte zwar Schrifstellerin werden. Das hat sie in ihrem Tagebuch so notiert. Dennoch wäre sie wohl nie auf die Idee gekommen, dass ihr Tagebuch schon zur Weltliteratur zählen würde. Sie hat darin einen Romanentwurf geschrieben. Aber das Tagebuch? Das war zum Überleben da. Das hat ihr Halt gegeben in einer lebensbedrohlichen Lage.
Die Identitätsbildung geschah ganz nebenbei.
Ich weiss noch nicht, was ich von diesem "Ich bin Schriftstellerin, egal, was andere denken" halten soll. Es ist so aufgepfropft. Fast zwanghaft.
Vielleicht gefallen mir ihre Bücher deshalb nicht. Sie sind sowieso voller sprachlicher und stilistischer Ungereimtheiten. Aber sie hat es geschafft. Sie macht Lesungen, tritt auf den grossen Bühnen auf. Sie ist eine gefeierte Schriftstellerin, für sich und für andere.
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Zeitistsein,

vielleicht überträgst Du da die Aversion gegen die Person auf den Umstand, sich als Schriftstellerin zu fühlen.
Und dann denke ich auch nicht, dass dies lediglich eine Zuschreibung von außen ist. Schriftsteller sind Künstler - einen Maler würde man sein Künstlertum auch nicht per se absprechen, nur weil keine Galerie ihn vertritt.
Ich hatte mal eine Bekannte, die quasi rund um die Uhr schrieb, nur proforma eingeschrieben war. Sehr gebildet, sehr eloquent, sehr kratzbürstig und provokant. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihre Identität in Zweifel zu ziehen, auch, wenn ich davon ausgehe, dass sie nie etwas veröffentlichen konnte. (Ist jetzt natürlich auch eine Projektion dessen, dass ich sie mochte - aber so individuell ist das eben.)
Das widerspricht natürlich nicht Deinem Eindruck, dass es auch eine fast zwanghafte Selbstzuschreibung sein kann - man denke an diese Florence Foster Jenkins, die aus Hingabe zur Musik sich selbst zur Operndiva stilisierte, weil sie die MIttel hatte. Aber das sind ja nur die Auswüchse.
Grundsätzlich würde ich persönlich die Künstleridentität nicht von 'Erfolg' ahängig machen.
Aber das ist auch nur eine Meinung.

Liebe Grüße
Petra
 

zeitistsein

Mitglied
Liebe Zeitistsein,

vielleicht überträgst Du da die Aversion gegen die Person auf den Umstand, sich als Schriftstellerin zu fühlen.
Und dann denke ich auch nicht, dass dies lediglich eine Zuschreibung von außen ist. Schriftsteller sind Künstler - einen Maler würde man sein Künstlertum auch nicht per se absprechen, nur weil keine Galerie ihn vertritt.
Ich hatte mal eine Bekannte, die quasi rund um die Uhr schrieb, nur proforma eingeschrieben war. Sehr gebildet, sehr eloquent, sehr kratzbürstig und provokant. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihre Identität in Zweifel zu ziehen, auch, wenn ich davon ausgehe, dass sie nie etwas veröffentlichen konnte. (Ist jetzt natürlich auch eine Projektion dessen, dass ich sie mochte - aber so individuell ist das eben.)
Das widerspricht natürlich nicht Deinem Eindruck, dass es auch eine fast zwanghafte Selbstzuschreibung sein kann - man denke an diese Florence Foster Jenkins, die aus Hingabe zur Musik sich selbst zur Operndiva stilisierte, weil sie die MIttel hatte. Aber das sind ja nur die Auswüchse.
Grundsätzlich würde ich persönlich die Künstleridentität nicht von 'Erfolg' ahängig machen.
Aber das ist auch nur eine Meinung.

Liebe Grüße
Petra

Liebe petrasmiles

Vielen Dank für deine Nachricht.

Ich glaube, ich würde von mir selbst nie sagen "Ich bin Schriftstellerin", nur weil ich gerne schreibe. Ich schreibe einfach gerne. Und die Florence hat einfach gerne gesungen. Aber ich bezweifle, dass sie sich selbst als "Sängerin" bezeichnete.

Was meine Bekannte betrifft: Sie war tatsächlich beharrlich und ihre Bücher werden inzwischen sehr gut verkauft. Sie hat Erfolg. Ich bin aber nicht sicher, ob sie auch gerne schreibt oder ob sie das einfach nur eben aus dem Zwang heraus tut, sich als Schriftstellerin fühlen zu wollen. Weil sie unbedingt mit ihrer Mutter wetteifert.

Es ist ein weites Feld. :)

Viele Grüsse
Z
 

zeitistsein

Mitglied
Die Kolleg:innen beklagen sich über Stundenmangel. Dabei sind gerade neun mehrmonatige Kurse ausgeschrieben. Warum bucht ihr sie nicht, Leute? Da gibt's Arbeit bis zum Abwinken.
Ich selber habe schon vier - mehr kann ich nicht übernehmen.
Keiner will diese Kurse also und die Schule macht sich auf die Suche nach weiteren Lehrkräften. Das wiederum empört die Kolleg:innen. Sie wollen Unterricht, aber eben nach ihrem Gusto. Entlöhnung, Kundschaft - alles massgeschneidert.
War die Arbeitswelt überhaupt jemals so? Woher rühren diese Ansprüche?
Also, ich bin in einem Alter, in dem ich niemandem mehr was beweisen muss. Daher nehme ich bei den Kund:innen auch kein Blatt vor den Mund. Heute kam eine Frau in den Unterricht, die meinte, sie wäre eine Woche krankgeschrieben gewesen, habe dann einen Tag gearbeitet und fahre morgen acht Tage in den Urlaub.
Punkt 11 Uhr hat sie mich mitten im Satz stehen lassen und sich einfach ausgeloggt. Nicht mal von den Kollegen verabschiedet hat sie sich. Das lasse ich so nicht stehen.
Ich habe ihr eine E-Mail mit Kopie an die Schulleitung geschrieben. Das gehe so nicht, steht da drin.
Was jetzt wohl passiert? Vielleicht verweigert sie sich. Oder hasst mich. Alles ist möglich in sozialen Berufen. Beim Unterrichten sowieso.
Nun, langer Rede kurzer Sin: Ich verstehe, dass gerade jüngere Kolleg:innen die Arbeit mit derlei schwierigem Klientel scheuen. Sie wollen, dass niemand ihr Herz bricht.
Ich kann das verstehen. Am Anfang als junge Dozentin wollte ich das auch nicht. Ich wollte mich verkriechen.
Heute weiss ich: Das Herz kann gar nicht gebrochen werden. Es wird bei schmerzhaften Erfahrungen in Form gebracht, wie ein gemeisselter Stein. Das ist zu seinem Besten. Man kann daraus was machen. Einen Text schreiben zum Beispiel. Oder über das Leben nachdenken.
Es ist es wert, sich auszuliefern und halt einzustecken, was kommen mag. Um der Herzensbildung willen.
 



 
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