Meine Französischlehrerin am Gymnasium war ein Fall für sich. Dachte ich zumindest.
Sie liess uns spüren, dass wir ihr nicht das Wasser reichen könnten. Eine Note Abzug pro Fehler bei Vokabeltests, gleichgültig ob aus Versehen oder aus Wissensmangel - so lief das bei ihr. Grund dafür war ihr Frust ob der gescheiterten akademischen Karriere. Nicht mal die Promotion hatte sie, wie viel zu viele andere Frauen auch, zu Ende führen können, der Familiengründung zuliebe. Ein widerwilliger Verzicht, wie sich tagtäglich zeigte.
Das ist eben das Problem, wenn man jemand anderem zuliebe die eigenen Ziele aufgibt. Irgendwann macht man das diesem Anderen zum Vorwurf, spätestens dann, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie laufen sollten.
Auch ich tappe gelegentlich in die Falle. Wenn ich zurückblicke, bereue ich dies und das. Dann werde ich wütend auf mich selbst. "Wie konntest du nur so dumm sein?", fauche ich mich innerlich an. Es vergeht eine ganze Weile, bis ich darauf komme, was der genaue Grund für meinen damaligen Verzicht war. Dass niemand anders daran Schuld trägt, ausser ich selbst, sofern in dem Fall überhaupt von Schuld die Rede sein kann.
David Foster Wallace beschreibt in seiner Rede "Was ist Wasser?", wie der Mensch verzweifelt, sobald er sich einredet, etwas Ewiges verloren zu haben. Ewig kann dabei alles sein, vom Stofftier bis zur Liebe des Lebens, der vermeintlichen. Dieses Verlorene wird zur ewigen und nie wiederzuerlangenden Seligkeit hochstilisiert; es wird zum verlorenen Paradies, auf das nur noch Not und Mühsal folgen können. Dass der verlassene Pfad ebenfalls leidvoll hätte ausfallen können - das wird in der Verzweiflung an der Gegenwart abgestritten. Man hätte können / sollen / müssen / dürfen / mögen / wollen und dann wäre alles viel besser gewesen.
Nur hat man eben nicht. Und dazu gilt es zu stehen.
Ich habe die letzten 20 Jahre praktisch nur mit Weinen zugebracht. Das war die notwendige Trauerarbeit über alles, was losgelassen werden wollte. Nicht weil mich jemand dazu gezwungen hätte, sondern weil der Verzicht das einzig Richtige war. Man nennt das auch vorgezogene Trauer, denn mit jeder Entscheidung entsteht eine Ahnung dessen, worauf man sich einlässt, die es ebenfalls zu betrauern gilt.
Diese 20 Trauerjahre waren eine Zeitspanne der inneren Begutachtung: Wer bin ich im Begriff zu werden? Man tritt neben sich und beobachtet die eigene Geburt. Man fragt sich, wer da das Licht der Welt erblickt und wie es dem neuen Menschen da ergehen wird. Bis eine neue Häutung ansteht und man sich erneut gewandelt haben wird.
Über meine Französischlehrerin habe ich gehört, dass sie schon lange nicht mehr unterrichtet. Sie war keine leidenschaftliche Pädagogin. Das Unterrichten war für sie Broterwerb, mehr nicht. Sie betreibt inzwischen eine eigene Praxis. Ich erfuhr, dass sie keine gebürtige Schweizerin ist, sondern Migrationshintergrund hat. Und ich frage mich, ob ihr die Forschung, angesichts dieser frühen Entwurzelung, nicht vielleicht eine neue Heimat bedeutet hat, auf die sie erneut verzichten musste. Nichts ist schlimmer als der Heimatverlust. Der Mensch wird zu einem wilden Tier, spaltet sich auf in einen Bedürftigen und einen Verfolger. Den Verfolger hat sie auf uns losgelassen. In letzter Instanz aber auf sich selbst.
Ich hoffe, sie hat Frieden und Heimat in sich selbst gefunden. Bestimmt ist sie inzwischen mehrfache Grossmutter.