(Lese-)Tagebuch

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zeitistsein

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Trost

Wo bist du unentbehrlich? -
fragt dich der Trost,
in deinen dunklen Stunden.

Auf dein Schweigen,
dein ratloses,
weiss der Trost
eine Antwort.

Und er zählt auf:
Auf dich
ist die Milchpackung
im Kühlschrank
angewiesen.
Dass du sie öffnest
und sie
so
dank dir
zur Quelle wird
die deinen Durst
stillt.

Der Staub
empfängt dich freudig
dass du ihn
entfernst,
wo er sich
durch Schwerkraft
niedergelegt hat
und aus
eigener Kraft
nicht
wieder wegkommt.

In deinen Händen
wollen
die Stoffe
die Wäschetrommel
verlassen
und sich sonnen
im leichten Wind,
der sie trocken
bläst.

Unentbehrlich
bist du
für alles,
was dich umgibt.
Alles lebt.
Und durch dich wird es
verwandelt.
 

zeitistsein

Mitglied
Waffen liefern

Um Arbeitsplätze zu schaffen,
um sich zu verteidigen,
um den Feind einzuschüchtern,
um statt Kochtöpfen
Gewehre herzustellen
und Bomben
statt Wohnblöcken.

Um den Hass zu schüren,
um Auge um Auge
zu vergelten,
um das Gesetz
selbst
in die Hand
zu nehmen,
als Messer,
Schwert
oder Stein.
Hauptsache Rache
für das Gesetz.

Denn wer gerecht ist,
ist gerächt.
 

zeitistsein

Mitglied
Du hast viel gegeben und es wurde nicht wertgeschätzt? Du wurdest sogar dafür heruntergemacht.
Ein Arzt,
der auf Haiti
freiwillig
Beine amputiert,
nach dem Erdbeben
- wird angepöbelt
wegen
versäumter
Arbeitsstunden,
die auf
Kollegen
abfallen.
Dein Einsatz ist nicht vergessen.
Er ist gut aufgehoben,
unter Dach und Fach
in der Scheune
des Gewesenen.
 

zeitistsein

Mitglied
Der freie Wille...
Gibt es ihn? Manchmal passieren Dinge, wo man sich fragt: Wie konnte es so weit kommen? Wer hat was verursacht? Was war der Auslöser? Und wie hängt der Ausgang dieser Situation mit einem mulmigen Gefühl schon zu ihrem Beginn zusammen? War das etwa schon eine Vorahnung, dass man auf dem falschen Dampfer ist, über die man sich hinweggesetzt hatte? Und jetzt darf man also die Quittung entgegennehmen dafür, dass man dem Offensichtlichen einfach jegliche Bedeutung abgesprochen hat.
Nun ja. Jetzt ist es, wie es ist. Es gibt kein Zurück. Der Vorhang ist gefallen und die schmerzliche Erkenntnis unausweichlich. Diese ist, um es mit Rilke zu formulieren, "schon im Blut". Die Präzision dieses Bilds erschüttert mich immer wieder. Als die Entscheidung fiel, überkam mich tatsächlich die Angst, eine Sepsis zu haben.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich selbst in diese Lage hineinmanövriert. Mangels Alternativen. Ich kann doch nicht für den Rest meines Lebens einfach zuhause rumsitzen und Kaffee trinken. Ohne Perspektiven, ohne eine Aufgabe. Das ist doch kein Leben, zumindest keins, was mir meine Eltern vorgelebt haben. Leben heisst leisten, und zwar möglichst viel.
Welche Optionen habe ich jetzt? So weitermachen wie bisher? Im gleichen Bereich? Oder mich umschulen lassen? Zu was? Zur Influencerin vielleicht? Gott behüt'!
Auf TikTok tummeln sich jede Menge Zeitgenoss:innen, denen man die Verzweiflung förmlich ansieht. Sie betteln geradezu um Geld, auch wenn sie behaupten, TikTok wäre für sie nur ein Zeitvertreib, in Wahrheit hätten sie ein ausgefülltes und erfülltes Leben.
Influencer sein ist eben doch kein richtiger Beruf, würde ich meinen. Man muss schon was können; einfach da sein und schön lächeln reicht nicht.
Also ist das nichts. Ich bin weder eine Partylöwin noch in irgendwas aussergewöhnlich begabt. Nicht mal im Faulenzen. Das kann ich auch nicht richtig.
Irgendwas schreiben. Aber was denn? Worüber? Schreiben kann ich schon. Aber wer will es lesen? Wem nützt es?
Ich habe keinen Bock, mich schon wieder irgendwo zu engagieren, wo ich geduldet, aber nicht wertgeschätzt werde. Irgendwann geht einem die Luft aus. Jetzt spüre ich es wieder. Habe keine Energie, um mich weiter zu bewerben und wieder von vorn anzufangen. Es scheint alles so schwer und so hoffnungslos.
 
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zeitistsein

Mitglied
Ich habe schon so lange keinen Sonnenuntergang gesehen.
War so lange schon nicht mehr spazieren,
in der Kühle des ausklingenden Tages.
Habe den Abschied verlernt.
Bewege mich im ewigen Mittag.
 

zeitistsein

Mitglied
Nach langem Hin und Her habe ich mich gestern in der Früh ins Industriequartier aufgemacht, um neue Türklinken zu besorgen. Diese kann man hierzulande nicht einfach mal schnell um die Ecke finden. Man muss sich in einen von zwei verfügbaren Baumärkten begeben, der eine über viele Umwege mit dem Bus erreichbar, der andere entweder zu Fuss oder mit dem Auto.

Ich frage Mutter, ob sie mitkommen will. In dem Fall würden wir das Auto nehmen. Das wäre eine Ablenkung. Sie will nicht. Sie hat Angst vor dem Autofahren. Die wilden Fahrgewohnheiten, die engen, holprigen und unübersichtlichen Strassen - nein, das will sie sich nicht antun, meint sie.

Gut, dann gehe ich eben allein und zu Fuss.

Ich sage Mutter "Bis später", fahre runter zum Erdgeschoss und lasse die Eingangstür hinter mich zufallen. Dann gehe ich einfach drauflos. So wie früher in Basel. Egal, wohin es mich verschlug, ich verirrte mich nie. Auf jeder Strasse war ein vertrautes Café, eine alte Eiche, ein Denkmal , ein Park oder ein Gebäude, die wie Schutzengel über mich wachten. Durch ihr blosses Dasein wiesen sie mir den Heimweg. Oder ich hätte auch problemlos auf der Strasse übernachten können. Der blosse Basler Asphalt ist mir Heimat. Dorthin würde ich zurückkehren, wäre ich in Not, er wäre mir in all seiner Härte ein weiches Bett, auf dem ich sanft einschlafen würde. Basel ist der Ort der guten Mächte, die mir Geborgenheit schenken.

Nicht so hier. Ich wähle bewusst, mich in der Stadt zu verirren, um die bergenden Mächte aus ihr hervorzulocken. Doch ich verfange mich ein ein Netz aus lauter Sackgassen. Jede von ihnen erscheint mir wie ein kläffender Hund am Zoll eines fremden Landes. "Geh weg, du bist nicht von hier", scheint es von überall her heraus zu hallen. Ich weiss, dass Asphaltblöcke nicht sprechen. Die Stimme, die mich des Platzes verweist, ist in mir drin, im kleinen Zeh, in der trockenen Haarspitze, im Auge und im Ohr.

Der Baumarkt vermag diese Fremde etwas aufzufangen. Dort treffe ich auf Vertrautes: Schrauben, Holzschränke, Maschinenzubehör. Auch das ist nicht von dieser Welt. Wie entwurzelte Zootiere stehen die Ausstellungsstücke herum, zwar da, aber nicht eigentlich zugehörig. Wie ich.
 
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John Wein

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Heimat ist überall, aber natürlich nicht für jeden. Auch der Kläffer, die Uniform des Amtmanns und die Sackgasse kann Heimat sein, die aus den Wurzeln eines Lebens heraus, einem vertraut ist.
Interessant, einmal die Perspektive auf das Thema Heimat und die damit verbundenen Gefühle zu beschreiben. Der Begriff ist ein bisschen veschlissen und diffamiert als altbacken abgetan. Aber Heimat ist in uns tief verwurzelt.
Bei jedem!
LG, John W.
 

zeitistsein

Mitglied
Heimat ist überall, aber natürlich nicht für jeden. Auch der Kläffer, die Uniform des Amtmanns und die Sackgasse kann Heimat sein, die aus den Wurzeln eines Lebens heraus, einem vertraut ist.
Interessant, einmal die Perspektive auf das Thema Heimat und die damit verbundenen Gefühle zu beschreiben. Der Begriff ist ein bisschen veschlissen und diffamiert als altbacken abgetan. Aber Heimat ist in uns tief verwurzelt.
Bei jedem!
LG, John W.
Es ist natürlich immer ein Wagnis, sowas zu veröffentlichen. Denn die Öffentlichkeit verändert alles.
Schön ist, dass solche Forentexte einfach auf dem Weg sind und jeder einzelne Leser etwas anderes daraus macht. Das ist wohl überhaupt das Schöne am Schreiben.
In diesem Sinne: Danke für deinen Kommentar. :)
Viele Grüsse
Z
 

zeitistsein

Mitglied
Heute ist der 11. September. Vermutlich weiss jeder noch ganz genau, wo er sich vor genau 23 Jahren am späten Nachmittag befand, als die Nachricht vom Einsturz der Twin Towers gesendet wurde.
Ich war auf der Arbeit. Mein ohnehin schon cholerischer Chef kam ungewöhnlich nervös in mein Büro und sagte mit bebender Stimme, dass "die beiden Türme in New York" nicht mehr stünden. Erst später, als ich die Bilder in der Abendausgabe der Tagesschau sah, stellte sich Erschütterung bei mir ein.
Bilder haben eine eigene Sprengkraft. Und diese wirkte damals auch ohne Worte. Selbsterklärende Bilder, wie aus einem Actionfilm. Nur, dass das keine Fiktion war, sondern das grausame Ende von 3000 Menschenleben und die Traumatisierung der ganzen Weltbevölkerung, schon nur durch das Starren auf den Fernsehbildschirm.
Ich selber hatte damals noch kein Handy. Deshalb war meine erste Frage, wer die Anschläge überhaupt gefilmt habe. Waren da zufällig Kameras zur Stelle? Jedenfalls sah man die beiden Flugzeuge nacheinander in die Türme prallen. Deren Einsturz wurde ebenfalls bildhaft festgehalten.
Wenn schon ein einzelnes Bild nach 23 Jahren immer noch seine traumatisierende Wirkung entfaltet, wie schwer traumatisiert müssen wir heute sein, da unser Blick fast nicht mehr vom Bildschirm weicht?
Da poppt Werbung für ein Kriegsspiel auf, dort wird der Trailer für einen Actionfilm eingespielt - am laufenden Band sind wir der Gewalt ausgesetzt. Sobald wir's merken, ist es eigentlich schon zu spät. Das gesehene Bild kann nicht mehr aus der Wahrnehmung gelöscht werden. Es hat sich in unsere Nervenbahnen eingegraben. Für immer.
Das Miteinander ist harscher geworden. Jeder macht den anderen klein. Und das hat bestimmt mit den Bildern zu tun, die wir tagtäglich konsumieren. Die machen was mit uns, ohne dass wir's merken.
Erich Fromm sprach schon zu Lebzeiten vom passiven Menschen. Das ist einer, der nach aussen hin geschäftig tut, aber innerlich wie hypnotisiert ist. Die Maschinen, meinte Fromm, haben diese hypnotisierende Wirkung auf den Menschen, indem sie ihm die innere Aktivität abnehmen.
Was ist die innere Aktivität?
Das ist die Ausrichtung des ganzen Menschen auf eine bedeutungsvolle Sache. Wird dies auf Maschinen ausgelagert, kann die menschliche Passivität schnell in Zerstörung kippen.
Die Attentäter von 9/11 haben sich der Technik bedient. Wären sie noch am Leben, wäre es für sie ein Leichtes, die Tat auf die Maschinen zu schieben und sich selbst aus der Affäre zu ziehen. Sie haben ja nur ein Flugzeug geflogen, weiter nichts. Sehr leicht könnten sie sich rausreden.
In unsrem kleinen Alltag sind wir ebenfalls Attentäter. Wir posten Shitstorms, betreiben Hetze, verbreiten Falschinformationen. Dabei sitzen wir bequem in unseren Sesseln. Der Computer verbreitet den Hass, nicht wir. Wir sitzen ja nur da und bedienen eine nichtssagende Tastatur.
Die schrittweise Auslagerung der Aktivität auf die Technik ist besorgniserregend. Denn sie bedeutet ein neues Schulterzucken der Massen angesichts der Zerstörung, die sich vor ihren Augen ereignet.
All das hat nicht erst mit 9/11 begonnen und wird so schnell nicht wieder zu Ende sein.
 
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zeitistsein

Mitglied
Ich bin am Türen streichen. Es geht schleichend voran, weil ich mich nicht so gut motivieren kann. Immerhin habe ich zwei Türen ganz geschafft, die anderen sechs sind erst angestrichen und warten auf die zweite Beschichtung.
Mehr Kopfzerbrechen bereiten mir die dunkelbraunen Türklinken, die jetzt so gar nicht zur weissen Türfarbe passen. Ich have vor, sie goldfarben zu streichen. Auswechseln kommt nicht infrage, weil ich mir das Bohren nicht zutrauen. Auf das bestehende Türloch haargenau passende Türklinken habe ich nicht gefunden.
Das Ganze wird sich noch eine Weile hinziehen.
Danach möchte ich noch die Küche streichen. Vielleicht auch weiss, mit beigen Möbeln. Die Küchenwände bestehen aus den gleichen Fliesen wie das Badezimmer, sodass ich beides in einem Zug streichen würde. Zuletzt wird dann auch die rosa Badewanne aus dem farblichen Rahmen fallen und ausgewechselt werden müssen.
Mutter würde am liebsten ausziehen und diese Wohnung hier verkaufen. Aber wohin?
Ich würde ja gerne wieder in die Schweiz. Aber für Mutter kommt das nicht infrage.
Hier scheiden sich unsere Geister.
 

zeitistsein

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Endlich habe ich mich dazu durchgerungen, Dethlefsens "Schicksal als Chance" zu lesen. Zumindest quer zu lesen. Denn die Esoterik hat so ihre Tücken. Sie kann ganz schön viel Suggestivkraft haben und dadurch mehr Schaden anrichten, als manch einer verkraften kann.
Aber gut: Nach der ersten Durchsicht dünkt mich das Buch eher eine Art spirituelle Psychologie und gar nicht übersinnlich-abgehoben, wie ich zunächst befürchtet habe. Und gegen Spiritualität an sich ist auch erstmal nichts einzuwenden.
Die Deutung der darin erwähnten Bibelstellen ist jedoch allzu schematisch und klischeehaft. Wirklich Neues über die Bibel erfährt man nicht. Auch das, eine gewiefte Taktik der Esoteriker - den Leser in seinem eigenen Wissen bestärken. Das schafft Vertrauen.
Neben vereinzelten Bibelstellen kommen der Tarot sowie das Thema Reinkarnation vor, wiederum auf wenige vereinfachende Schlagworte heruntergebrochen. Kenntnisse über die jeweils dahintersteckende Philosophie werden entweder vorausgesetzt oder übergangen.
Jedenfalls macht das Buch Lust auf Mehr. Ich ertappte mich schon während der Lektüre dabei, mehrere Vorträge des Autors gleich online kaufen zu wollen. Es ist also Vorsicht geboten. Wenn Inhalte aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und dem Leser als unumstössliche Wahrheiten in lauter Hauptsätzen präsentiert werden, gilt es aufzuhorchen und innezuhalten.
Trotz aller Bedenken würde ich das Buch nicht als reine Manipulation abtun. Es hat schon einen aufrichtigen Kern, der darin besteht, die Psychotherapie auch sogenannten gesunden Menschen nahezulegen. Psychotherapie als Selbstfindungsweg statt als blosse Symptombehandlung zwecks Wiederherstellung der gesellschaftlichen Funktionstüchtigkeit.
Wertvoll sind ebenfalls der Aufruf zur Verantwortungsübernahme und zum Verlassen der Opferrolle im eigenen Leben sowie die Querbezüge zu Mystik und Alltag. Dethlefsen spricht vom Alltag als Ritual, heutzutage würde man dafür wohl den Begriff der Achtsamkeit in den Mund nehmen.
Unter dem Strich kommt das heraus, was Theresia von Avila schon feststellte: Gott begegnet einem auch in den Kochtöpfen oder: Esoterik entsteht dann, wenn das Alltägliche als Anlass zur Mediation genommen wird. Hier lassen auch Jaspers und Heidegger grüssen. Letzterer meinte: Sofern der Mensch existiert, geschieht Metaphysik. Eine schöne Art, den Sinn des Lebens auf den Punkt zu bringen.
 

zeitistsein

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Meine Französischlehrerin am Gymnasium war ein Fall für sich. Dachte ich zumindest.
Sie liess uns spüren, dass wir ihr nicht das Wasser reichen könnten. Eine Note Abzug pro Fehler bei Vokabeltests, gleichgültig ob aus Versehen oder aus Wissensmangel - so lief das bei ihr. Grund dafür war ihr Frust ob der gescheiterten akademischen Karriere. Nicht mal die Promotion hatte sie, wie viel zu viele andere Frauen auch, zu Ende führen können, der Familiengründung zuliebe. Ein widerwilliger Verzicht, wie sich tagtäglich zeigte.
Das ist eben das Problem, wenn man jemand anderem zuliebe die eigenen Ziele aufgibt. Irgendwann macht man das diesem Anderen zum Vorwurf, spätestens dann, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie laufen sollten.
Auch ich tappe gelegentlich in die Falle. Wenn ich zurückblicke, bereue ich dies und das. Dann werde ich wütend auf mich selbst. "Wie konntest du nur so dumm sein?", fauche ich mich innerlich an. Es vergeht eine ganze Weile, bis ich darauf komme, was der genaue Grund für meinen damaligen Verzicht war. Dass niemand anders daran Schuld trägt, ausser ich selbst, sofern in dem Fall überhaupt von Schuld die Rede sein kann.
David Foster Wallace beschreibt in seiner Rede "Was ist Wasser?", wie der Mensch verzweifelt, sobald er sich einredet, etwas Ewiges verloren zu haben. Ewig kann dabei alles sein, vom Stofftier bis zur Liebe des Lebens, der vermeintlichen. Dieses Verlorene wird zur ewigen und nie wiederzuerlangenden Seligkeit hochstilisiert; es wird zum verlorenen Paradies, auf das nur noch Not und Mühsal folgen können. Dass der verlassene Pfad ebenfalls leidvoll hätte ausfallen können - das wird in der Verzweiflung an der Gegenwart abgestritten. Man hätte können / sollen / müssen / dürfen / mögen / wollen und dann wäre alles viel besser gewesen.
Nur hat man eben nicht. Und dazu gilt es zu stehen.
Ich habe die letzten 20 Jahre praktisch nur mit Weinen zugebracht. Das war die notwendige Trauerarbeit über alles, was losgelassen werden wollte. Nicht weil mich jemand dazu gezwungen hätte, sondern weil der Verzicht das einzig Richtige war. Man nennt das auch vorgezogene Trauer, denn mit jeder Entscheidung entsteht eine Ahnung dessen, worauf man sich einlässt, die es ebenfalls zu betrauern gilt.
Diese 20 Trauerjahre waren eine Zeitspanne der inneren Begutachtung: Wer bin ich im Begriff zu werden? Man tritt neben sich und beobachtet die eigene Geburt. Man fragt sich, wer da das Licht der Welt erblickt und wie es dem neuen Menschen da ergehen wird. Bis eine neue Häutung ansteht und man sich erneut gewandelt haben wird.
Über meine Französischlehrerin habe ich gehört, dass sie schon lange nicht mehr unterrichtet. Sie war keine leidenschaftliche Pädagogin. Das Unterrichten war für sie Broterwerb, mehr nicht. Sie betreibt inzwischen eine eigene Praxis. Ich erfuhr, dass sie keine gebürtige Schweizerin ist, sondern Migrationshintergrund hat. Und ich frage mich, ob ihr die Forschung, angesichts dieser frühen Entwurzelung, nicht vielleicht eine neue Heimat bedeutet hat, auf die sie erneut verzichten musste. Nichts ist schlimmer als der Heimatverlust. Der Mensch wird zu einem wilden Tier, spaltet sich auf in einen Bedürftigen und einen Verfolger. Den Verfolger hat sie auf uns losgelassen. In letzter Instanz aber auf sich selbst.
Ich hoffe, sie hat Frieden und Heimat in sich selbst gefunden. Bestimmt ist sie inzwischen mehrfache Grossmutter.
 
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zeitistsein

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Unterhaltung an Feierabend

A: "Ich bin müde."
B: "Ich auch."

So wissen wir voneinander.
Es geht nicht darum, wer recht hat.
Nicht um graue Theorie.
Auch nicht um einen Wettstreit.
Ebensowenig um Rechtfertigung.

Wir wissen voneinander.

Gemeinsam erkunden wir
die Landschaft
der Müdigkeit.
 

zeitistsein

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Ich bewundere ja Leute, die gut reden können. Die einfach so drauflos quatschen können. Deshalb bin ich bei TikTok. Um zu schauen, wie die das machen. Was das für Menschen sind. Was sie sagen. Wie sie denken und wie sie sich geben.
Warum sie das machen - einfach so in die Kamera hineinplaudern, ohne genau zu wissen, an wen sie sich richten -, ist mir noch nicht ganz klargeworden. Vielleicht wissen sie ja genau, wer ihnen zuhört und sie haben einen klaren Auftrag, was sie wie zu sagen haben. Möglicherweise sind nicht alle so transparent, wie sie sich auf den ersten Blick geben. Sie handeln möglicherweise im Namen irgendwelcher Parteien oder Vereine, ohne das in ihren Profilen offenzulegen. Anders kann ich mir die Bestimmtheit mancher Aussagen nicht erklären.
Natürlich gibt es jene, die sich klar zu einer Partei bekennen. Die wollen ganz einfach Wähler gewinnen. Da weiss man, woran man ist und das finde ich gut so. Bei anderen wird mir immer ein bisschen mulmig, wenn ich deren Videos angucke und zuhöre, was sie so sagen. Da gibt es zum Beispiel Arbeitslose, die ihren Alltag teilen. Wollen die Geld von mir?
Oder andere, die angeblich X Mal durch irgendeine Prüfung gefallen sind und jetzt vor der Kamera ihrem Frust Ausdruck geben. Warum tun die das? Haben die keine Busenfreundin, um sich auszuheulen? Sind die alle einsam?
Wenn ich an deren "Content" Anteil nehmen will, kann ich einen Kommentar hinterlassen. Bei 1000 Followern wären das 1000 Kommentare, sodass der jeweilige Account damit gepusht wird, egal, was man kommentiert. Also geht es letztlich um Geld.
Dann gibt es noch die Lehrer. Die stellen sich vor eine Leinwand und erklären irgendwelche Konjugationsregeln. Welchen Sinn soll das haben, wenn die nicht mal wissen, wer ihre Schüler sind? Einige sprechen durchaus Klartext, nach dem Motto: Ich mache das hier alles in meiner Freizeit, also lasst gefälligst einen Kommentar oder wenigstens einen Like da.
Insgesamt beschleicht mich das Gefühl, dass es dabei einzig und allein um Geld geht. Implizite Spendenaufrufe, Werbung oder einfach Selbstvermarktung, wobei eindeutig mit Gefühlen gespielt wird. Es soll Mitleid geweckt werden. Und manch einem scheint es damit ganz gut zu gehen.
Aber vielleicht bin ich auch zu alt für diese ganzen Medien und habe den Dreh, um damit umzugehen, einfach noch nicht raus.
In diesem Leben werde ich das jedenfalls nicht mehr lernen.
 
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zeitistsein

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Deutschland führt wieder Grenzkontrollen durch. Ich hoffe, sie begehen nicht denselben Fehler wie die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Da wurde Juden das Asyl verwehrt, weil sie nicht als politische Flüchtlinge galten.
Und so wie es damals die Juden traf, kann es heute jeden anderen treffen, der in seinem Herkunftsland rassistisch verfolgt wird.
Nie wieder ist jetzt.
 

zeitistsein

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Mit sich allein sein können - so wichtig!
Wem das gelingt, bei dem kommt keine Einsamkeit auf.
So viel Ego heutzutage.
Das verblendet.
Das Wesentliche bleibt unentdeckt,
schlimmstenfalls
bis
zum
Tod.
 

zeitistsein

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Die Sonne scheint noch immer hell an diesem Septembernachmittag. Über die wahllos hohen Stadtgebäude, der blaue Himmel.
Soeben hat es an der Tür geklingelt. Es ist wohl die Postbotin. Sie muss in allen Stockwerken klingeln, weil sie sonst nicht ins Gebäude zu den Briefkästen kommt. Der Aufzug geht, irgendwo fällt eine Wohnungstür zu.
Die Wände sind nicht gedämmt. Man hört viele Aussengeräusche, sogar die Automotoren auf der engen, viel befahrenen Strasse, trotz der Fensterdämmung.
Im Winter nutzen wir praktisch nur die Küche. Die übrigen Räume der Wohnung sind zu kalt, weil die Heizungswärme entweicht. Vor dem Schlafengehen wärmen wir die Bettwäsche im Tumbler und legen noch ein oder zwei Wolldecken aufs Duvet.
Noch ist die Kälte mild.
Ich bin immer noch im Pyjama und versuche, von meinem geschwätzigen Hirn, das immer wieder die Vergangenheit aufrollt, Abstand zu gewinnen.
Früher dachte ich, ich müsste die Geschichten aufschreiben, die mir mein Gehirn erzählt.
Heute weiss ich, dass das nicht stimmt. Weil das Gehirn einfach Gedanken produziert, so wie das Rückenmark Blut oder der Pankreas Insulin. Das Insulin hat einen Zweck, die Gedanken aber setzen sich aus Vergangenem zusammen. Sie käuen höchstens wieder. Wenden keine Not, erschaffen weder Neues noch Nützliches.
Im Erzählen verbindet man sich mit dem zu Erzählenden. Das erfordert viel Geistesgegenwart und eine hohe Aufmerksamkeit. Erzählen ist intensives Wahrnehmen - mit allen Sinnen. Und dafür dann Worte zu finden.
Die Toten sind wohl die besseren Erzähler als die Lebenden. Sie haben alle zivilisatorischen Häute ein für alle Mal abgelegt und sind zu Höherem aufgestiegen.
Gelänge es den Lebenden ihren inneren Schwätzer zum Schweigen zu bringen, wäre unsere Welt eine bessere.
Wir wären alle Erzähler.
Wir wären über das Wort verbunden.
 

zeitistsein

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Ich habe es getan. Der Brief ist abgeschickt und bei der Staatsanwaltschaft eingegangen.
Die Antwort hat auf sich warten lassen, war aber gestern, als ich schon nicht mehr damit gerechnet hatte, in meinem Posteingang.
Es sei nicht klar, meinte die Frau, die da schrieb, ob ich Anzeige erstatten wolle oder nicht. Und ich solle das doch bitte klarstellen.
Tatsächlich sehe ich keinen Sinn darin, nach 33 Jahren des Vergewaltigungsversuchs formell Strafanzeige zu erstatten. Die Tat ist verjährt, Zeugen gibt es keine; es stünde meine Aussage gegen die Aussage des Täters.
Warum ich trotzdem an die Staatsanwalt schrieb: Die Schweizer Justiz ist frauenfeindlich.
Im Jahr 2005 begann eine Untersuchung von Amtes wegen an einem bekannten Schweizer Unispital, nachdem gegen einen Chefarzt Anzeige erstattet worden war, wegen versuchter Vergewaltigung an einer damals noch minderjährigen Patientin. Das war in der Gynäkologie.
Die Untersuchung zog sich über fast fünfzehn Jahre, es wurden Mitarbeitende und Kolleg:innen verhört, der Werdegang des Arztes kleinteilig unter die Lupe genommen.
Am Ende kam es zum Prozess, der die Anklägerin praktisch als psychisch labil hinstellte und die von ihr berichteten Ereignisse letztlich als Einbildung abtat. Sie habe in der Vergangenheit unschöne Dinge erlebt, hiess es von Seiten der Verteidigung; mit dem Verhalten des Angeklagten habe das aber nichts zu tun. Dieser habe sich nichts zu Schulden kommen lassen.
Die vielen Mitarbeiterinnen, die laut Pressebericht von "unangemessenen Berührungen" ihres Vorgesetzten berichtet hatten, diejenigen, die seinetwegen in der Burnoutklinik gelandet waren und die Pornovideos, die die Ermittler auf seinem Bürorechner festgestellt hatten - all das wurde beiseite gewischt. Es sei, laut der Zusammenfassung des Gerichtsurteils, für den vorliegenden Tatbestand ohne Belang.
Und so wurde er freigesprochen, vom Unispital zwar fristlos gekündigt, aber dennoch von niemandem an der Weiterführung seiner Privatpraxis gehindert.
Das hat mir den Rest gegeben.
In der Privatpraxis kann er ja erst recht tun und lassen, was er will. Wer soll ihn dort beaufsichtigen?
Und so habe ich dem zuständigen Richter geschrieben. Um mich mit der anonymen Anklägerin zu solidarisieren.
Es geht doch nicht, dass ein solcher Wiederholungstäter einfach folgenlos davonkommt. Sogar eine Schadenersatzzahlung hat er erhalten, die er dann einem Verein gegen sexuelle Gewalt gespendet haben soll.
Kein Wort über die psychiatrische Behandlung, der sich die Anklägerin als Folge der Übergriffe unterziehen musste. Auch nicht über das, was so ein Übergriff langfristig mit dem Opfer macht. Psychisch labil, lautet das Urteil. Und der Täter kommt ungeschoren davon.
Ich bin entsetzt, dass das in unserem Land noch möglich ist. Ich dachte, wir wären inzwischen weiter.
 
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zeitistsein

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Gestern Nacht träumte ich, dass ich auf Reisen war. Ich wollte vor irgendwoher zu meinen Eltern fliegen. Plötzlich fand ich mich in Berlin wieder. Ich bewunderte die schöne Stadt und wollte ein paar Fotos machen. Ausserdem nahm ich mir vor, ins Theater zu gehen und den Aufenthalt zu geniessen. Dann sah ich auf die Uhr und merkte, dass mein Flug schon in 10 Minuten ging. Ich versuchte, meine Sachen zu packen, doch sie waren über einen ganzen Platz verstreut. Es waren lauter leere, abgetragene Taschen, die ich schnell einsammelte, um wenigstens die nächste Tram in Richtung Flughafen zu erwischen. Am Flughafen angekommen musste ich erstmal zum Schalter, das Ticket lösen. Aber das Flugzeug war längst weg. Und ich stand da mit meinem schweren Gepäck bestehend aus all diesen leeren Taschen.

Dann wachte ich auf.
 

zeitistsein

Mitglied
Es gibt so vieles, was mich triggert. Alles finde ich ungerecht, unsauber, unverantwortlich. Letztlich sinnlos.
Das hat mit meinem unerfüllten Kinderwunsch zu tun. Mit der nicht zustande gekommenen Partnerschaft. Mit meinem Leben überhaupt, in dem ich mich nicht gesehen fühle. Mit dem Gefühl, nicht gut genug gewesen zu sein. Mit einem kaum vorhandenen Selbstwert. Mit dem Gefühl des Eingespurt-Seins auf eh und je.
Ich bin auch ein bisschen paranoid geworden. Überall wittere ich feindselige Verschwörungen, sei es beim falsch herausgegebenen Wechselgeld oder bei der Jobabsage.
Zum Glück habe ich das Schreiben. Da kann ich das objektivieren und schwarz auf weiss sehen, wie mein Unbewusstes funktioniert.
Hierzulande gibt es an fast jeder Strassenecke Kinderwunschkliniken. Sie spielen mit urmenschlichen Emotionen, wie Geborgenheit, Nähe, Zuneigung. Und das Geschäft läuft gut. 40 Prozent aller künstlichen Befruchtungen innerhalb der EU werden laut NZZ in Spanien durchgeführt. Ein Millionengeschäft.
Sowas wie den "Mutterinstinkt" gibt es bekanntlich nicht. Was es aber gibt, sind gesellschaftlich festgefügte Bilder darüber, was eine Frau zu tun hat. Und dazu gehört das Gebären. Kann sie damit nicht aufwarten, gilt sie als Fehler der Natur oder wie die katholische Philosophin Filippa Foot sich wohl ausdrücken würde: als Sünde der Natur.
Solche Bilder sitzen tief. Worte sind mächtig, so mächtig, dass sie die Physiologie unseres Körpers beeinflussen können.
Ich gebe zu: Auch ich hatte Panikattacken und Depressionen, als mir klarwurde, dass aus dem Kinderwunsch nichts würde. Den Kinderwunsch selbst hinterfragt habe ich zum damaligen Zeitpunkt nicht. Auch nicht die Frage, warum ich meinen Selbstwert an die Erfüllung des Kinderwunsches binde.
Mein Vater sagte den wohl gut gemeinten Satz: "Wenn du ein Kind möchtest, unterstütze ich dich dabei." Er wäre bereit gewesen, dieser Riesenindustrie Geld in den Rachen zu schmeissen, nur um vor seinen Geschwistern nicht ohne Enkelkind dazustehen.
Meine Mutter war da zurückhaltender. Sie wusste, was es mit der Schwangerschaft auf sich hat. Und dass die Frau letztlich mit ihrem Körper für alle Folgen haftet, nicht nur für die gesundheitlichen, auch für die gesellschaftlichen.
Ich für meinen Teil hatte rein rational schon längst entschieden, kinderfrei zu leben. Dennoch meldete sich die unbewusste Prägung, als Frau Kinder kriegen zu müssen, lautstark und mit voller Wucht zu Wort. Das war ein Widerstreit zwischen Kopf und Bauch, der jahrelang tobte.
Der Kopf hat gewonnen und der Bauch begehrt gelegentlich auf. Er will es einfach nicht einsehen.
Nächstes Jahr werde ich 50 und wenn mir vor etwas graut, dann davor, mit Ü50 doch noch schwanger zu werden. Die Angst zieht das Gefürchtete an, heisst es. Ich hoffe es nicht. Es wäre ein einsamer Mensch, der da auf die Welt käme: ohne Grosseltern, vielleicht ohne Vater, wenn sich dieser nach der Geburt wieder davonmachen würde, ohne Geschwister, ohne Tanten und Onkeln, ohne Cousins und Cousinen. Einfach nur ein Mensch mit einer alten Mutter und der Bürde, sich um sie kümmern zu müssen.
Die unbewusste Prägung von Pflicht und Schuld würde weitergegeben.
 



 
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