Meine Fresse

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Meine Fresse, jetzt bin ich also fünfunddreißig und es ist noch immer nicht anders geworden.
Paco, da schaust du.
Um sowas machen sich die Menschen einen Kopf, nicht zu fassen.
Ja, komm her, mein Guter, bist ein ganz Braver, magst ein Leckerli.

Sie kramt eine Packung Leckerli hervor, die liebt er heiß.
Nicht zu verwechseln mit dem Kotbeutel, wo sie normal die Hundekacke drin verschwinden lässt. Der bleibt vorerst leer, denn Paco ist nicht in Stimmung.
Es ist noch frisch am Morgen, der Himmel ein wolkenlos blitzender Spiegel und sie schaut dem Tier in die tiefbraunen Brunnenaugen. Die sind so groß und tief und dunkel wie überhaupt alles an dem Vieh.
Ganz nah sind sich die zwei Gesichter, und bald wird es soweit sein, sie spürt das.
Sie zieht ein wenig an diesem abgenutzten, ledernen Halsgeschirr. Grad so viel, dass es länger und brutaler als notwendig ist, mit Absicht.
Bis sich ein Gespensterschatten auf Pacos Sehschlitze legt, das ist zu erkennen.
Bei Fuß!

Meine Fresse, jetzt gehen wir schon seit Monaten miteinander spazieren, und noch nie ist was passiert.
Bist ein ganz Braver, Paco, wirklich, ein ganz Braver.
Darf nicht jeder mit dir raus, sicher nicht jeder.
Ist strenge Vorschrift.
Mein Lieber, du bist was für Profis. Kein einfacher Fall.
Muss man sich erst mal verdienen, ehe man mit dir losdarf, kannst du glauben.
Was war ich geduldig und geschickt, sehr, und habe mich bewiesen.
Da sind wir.

Fünfunddreißig und es ist noch nicht anders.
Aber mit Viechern konnte sie immer schon gut.
Das ehrenamtliche Gassigehen fürs Tierheim war eine Spitzenidee, aber echt.
So sehr sie die Menschen grundsätzlich anwidern, so sehr kann sie mit Viechern.
Sogar körperlich. Die Viecherliebe ist ja immer gleich körperlich.
Die kennen keine Distanz, keinen Anstand und drängen auf Direktkontakt, aber ist schon gut.
Die Viecher dürfen, das ist einfach was anderes.
Recht unmotiviert streichelt sie über Pacos kurzes, schlammbraunes Fell, das ist wie eine geknüpfte Haut mit abstehenden Widerborsten.
Wollen wir uns mal nix vormachen, da ist so gar nichts Reizvolles an dem Tier, oder Glanz.
Weil grad keiner hersieht, kratzt und ritzt sie außerdem wie beiläufig ein wenig in den nackten hündischen Unterbauch.
Die Nägel hat sie sich extra nicht geschnitten, aber spitzgefeilt.
Paco springt auf und knurrt, vielleicht jault er auch ein bisschen.

Aber Paco, was hast du denn?
Ganz ruhig, es tut dir ja keiner was.
Komm her, schau mal, Leckerli.

Paco weiß natürlich, dass von vorn bis hinten alles gelogen ist.
Ist ja eigentlich eine traurige Geschichte, die Geschichte von Paco, aber so sind Tierheimgeschichten doch immer.
War nicht grad feinfühlig, das Herrchen, mit dem verdreckten Zwinger im Hinterhof weit, weit draußen, und Paco hat das mit Sicherheit nicht vergessen. Auch nicht die Eisenstange.
Im Bericht steht, die war fünfzig Zentimeter lang und dem Ende zu schon ganz blutig, aber ist eh wieder Fell drüber gewachsen. Wie das so geht mit der Zeit.
Armer Paco, eigentlich ist er hier das Opfer, aber er geht bei Fuß.
Sobald Leute entgegenkommen, hält sie den Hund so kurz es geht, dabei rüttelt sie so leise wie grob am engsitzenden Halsband, dass es außer dem Tier möglichst niemand mitkriegt.
Was müssen die auch in Allerherrgottsfrühe im Weg sein, Blödies.
Haut lieber ab.
Kommt bloß nicht näher.
Paco ist kein spaßiger Hund, kein duldsames Kuscheltier für dummdreiste Patschehändchen. Der braucht gekonnte Führung, und sie führt ihn.
Schließlich kommt das Gespann an den großen Pappeln vorbei. Paco hebt wie gewohnt sein kräftig fleischiges Hundebein.
Schon klar, ist sein Lieblingsbaum, der gehört markiert.

Wenn nur endlich die vertrottelte Fragerei aufhören würde und die kaum verstellte Enttäuschung in der Stimme, wenn Mutter anruft!
Bei aller Toleranz, aber du…
Jetzt bist du schon fünfunddreißig, und es ist immer noch nicht anders mit dir.
Kannst du dir nicht vorstellen, dass vielleicht doch einmal…

Nein, kann sie nicht.
Jedes Mal, wenn sie versucht sich was in der Richtung vorzustellen, wird ihr umgehend grottenschlecht und es kommt ihr die Galle hoch.
Sie versucht es ja, sie stellt es sich vor.
Wie sie am Sonntagmorgen neben einem anderen Menschen aufwacht, so zum Beispiel. Irgendein Mensch, ausgewachsen, ein kompletter Körper. In ihrem eigenen Bett, keine Armlänge entfernt.
Nein, das kriegt sie nicht hin. Kotz.
Dabei ist das Aufwachen am Sonntagmorgen noch das Geringste.
Hat noch gar nicht unbedingt was Sexuelles, kein Begehren; nur zwei Leiber nebeneinander, und dann macht einer Frühstück und trägt es auf dem Tablett herein, das hat zwei geflochtene Henkel und es stehen kitschig verbrüderte Kaffeegedecke drauf und vielleicht ein gekochtes labbriges Ei.
Oder der eine Mensch steigt sorgfältig über den anderen drüber, weil der andere länger schlafen mag.
Man wacht auf und riecht den fremden modrigen Mundgeruch, die salzig stechenden Ausdünstungen - und dann soll man selig grinsen, weil man nur ja nicht allein ist.
Für die Vollhonks da draußen ist das scheinbar das Schlimmste überhaupt, das Alleinsein, die sind ja vielleicht hinüber.

Sie stellt sich oft vor, wie die Leute am Sonntagmorgen miteinander tun, das kann sie gut, aber für sich selbst kann sie sich das partout nicht vorstellen. Absolut nicht.
Ist an sich nix Schlimmes.
Sie mag einfach Menschen nicht in ihrer Nähe haben, und nicht am Sonntagmorgen.
Hat sie nun mal so gar kein brennendes Bedürfnis, jemanden anzutatschen und noch weniger mag sie berührt werden und da unten lässt sie ganz sicher keinen ran.
Nur Paco drängt sich manchmal an ihre Beine, gut, manchmal auch dazwischen, ist okay.
Geht auch gar nicht anders, wenn doch dauernd wer entgegenkommt und sie den Hund kurzhalten muss, das ist Vorschrift. Ist so.

Gleich, gleich, sind wir für uns.
Wirst sehen, nur wir zwei.
Paco.
In die Fresse, Paco, ins Gesicht.

Meine Fresse, jetzt hat sie schon alles Mögliche probiert, aber es fallen ihr langsam echt keine Sprüche mehr ein.
Sie geben ja doch keine Ruhe und stochern und piesacken ohne Pause, und so wird sie dasselbe mit Paco machen.
Vielleicht wird er sie totbeißen, gut, das ist Risiko und ist dann auch schon egal.
Gewiss, Absicht wär‘s nicht gerade, das Ziel ist ein anderes.
Nur obenrum soll er sie beißen, mittenrein. Mittenrein in die Fresse.
Ob er das verstanden hat?
Sie wird sich nicht wehren.
Paco, hörst du, oder doch.
Damit er nicht gleich wieder lockerlässt.
Schön fest verbeißen, dass man die beiden Schädel gar nicht so leicht wieder auseinanderkriegt mit einer Brechstange.
Soll schon nachhaltige Effekte haben, das Ganze; bleibend und effektiv. Nur so eine zierlich genähte Zickzacknarbe wie ein hübsches Lochmuster auf einer Tischdecke hilft nicht viel.

Ob sie das Viech am Ende danach einschläfern werden, wer weiß das schon.
Kann sie sich nicht um alles kümmern.
Sie will, sie braucht nur eines, und das sind Pacos scharfe Zähne in ihrem Fleisch, in ihren Knochen, wie sie sich reinbohren und alles umrühren wie Salat bis ein Auge runterhängt vielleicht.
Ein Auge würde sie schon gern behalten, sonst wäre sie ja künftig erst recht auf jemand angewiesen, der ihr über die Straße hilft und all sowas und das Leben wäre dahin, dann erst recht.
Nein, keinesfalls hilflos, nur hässlich will sie sein, unendlich hässlich – und allein.
Endgültig eine geheiligte Ruhe haben, das wär‘s.
Dass sich schlussendlich niemand mehr fragt, warum sich keiner nach ihr umdreht am Sonntagmorgen; kein Schwein, das neben ihr aufwacht und selig grinst.
Das wär’s doch.
Hässlich sein wie jemand, mit dem man nur dann ins Bett geht, wenn man ihm vorher einen Papiersack übern Kopf stülpt, was doch auch unhöflich wäre irgendwie.

Ich hab mir das gut überlegt, Paco, und tut mir leid, wenn mit dir dann was schiefgeht.
Ehrlich, ich bin dann raus.
Kannst ja nix dafür, bist ja ein Braver, nicht wahr.
Magst ein Leckerli?

Wieder raschelt sie mit der Packung vor Pacos Nase herum, ohne ihm auch nur ein einziges abzugeben, das wird ihn herrlich frustrieren.
Sowas kann sie gut, ist sie sich sicher.
Und den Schmerz kann sie aushalten, das wird schon gehen, muss halt.
Pacos Kiefer ist mächtig und groß wie der ganze Hund.
Es reicht vermutlich ein Happ, also hey, es wird fix gehen.

Und sie geht, geht, geht, quer übern Rasen, der ist noch gar nicht hochgewachsen, aber taunass und kaltsumpfig.
Es flatscht schon richtig sabschig in ihre Sneakers rein und sie weiß, Paco mag das gar nicht, nasskalte Pfoten.
Bei jedem Schritt quietschen ihre Schuhe, diese vollgesogenen Plastikbehälter für Füße, und quiieek-flatsch macht es bei jedem Schritt, ganz nah an Pacos Ohren.
Klingt fast wie das nervige rote Gummispielzeug, das Paco so hasst, dieses blassrosa verblichene. Die anderen Hunde im Heim fahren voll drauf ab, nur Paco ist anders.
Paco ist nun schon prima aus dem Tritt.
Sicherheitshalber steigt sie ihm auch noch mit vollem Gewicht auf die Pfoten und spielt, dass es ein Versehen ist, obwohl weit und breit keiner da ist, um möglicherweise einen Verdacht zu schöpfen.
Will ja keiner, dass ein Unbeteiligter dazu kommt; einer, den das alles überhaupt nichts angeht.

Für den Fall, dass unerwartet einer auftaucht, Paco, du weißt ja.
Glaub mir, ich schau schon drauf, dass wir allein sind, versprochen.
Ist allerdings gar nicht so einfach, die Deppen sind ja überall.

Sie geht, geht, weiter, weiter.
Das könnte sie freilich gar nicht brauchen, dass ihr noch einer zu Hilfe kommt, der dann auch noch was abkriegt und dann sind sie eine Schicksalsgemeinschaft. Müssen sich Genesungskarten schreiben und später mal was trinken gehen.
Stell dir vor, zwei total kaputte Visagen stoßen in der Krankenhauskantine mit schaler Limo ausm Automaten auf das Massaker an, das sie gemeinschaftlich überlebt haben.
Würg.
Wer will das schon.

Aha, jetzt also doch. Paco.
Mach nur.
Na geht doch.
Launisches Vieh, und wie erbärmlich.
Wirklich; wenn das jetzt jemand sehen könnte, wie es jämmerlich dahockt das bedauernswerte Wesen und sich die hinfällige Seele ausm Leib kotet, wirklich, ohne jede Anmut, ohne Würde.
Wie kann man das einer Kreatur antun.
Als Mensch mit Feingefühl sollte man da echt nicht hinschauen, aus Rücksicht auf das Tier.
Noch nicht mal heute.
Als Paco endlich fertig ist, hebt sie wie gewohnt die dampfenden Exkremente mit dem Kotbeutel auf.

Braver Hund.
Schöner großer Haufen, ganz kompakt.
Keiner, der fast durch die Finger rinnt wie letztes Mal, das war echt die Härte.
Dafür schuldest du mir was, hörst du.
Weißt du, ich verlange ja nicht viel, und tut mir leid, dass ich dich so benutzen muss, aber du benutzt mich ja auch.
Und seien wir uns ehrlich, dein Leben ist noch viel mehr am Arsch als meins, das rechnet sich irgendwie.
Ist eine Erlösung für uns beide.
Jaja, bist ein ganz Braver.
Ein bisschen müssen wir noch, komm weiter.

Ungeduldig zieht sie an Pacos abgehalftertem Lederband.
Dabei gehört das diesem Hund noch nicht mal richtig. Gar nix gehört ihm.
Alles nur geliehen, das Geschirr, hat schon so viele Hundehälse umklammert gehalten, auch die Leine gehört dann doch nur dem Tierheim.
Vermutlich wird das Zubehör bald schon wieder frei für den nächsten elenden Kandidaten, denkt sie sich und schämt sich dann doch.

Wenn sie nur ein bisschen hässlich wäre!
Aber so…
Ist alles nicht so einfach.
Es fragt sich natürlich ein jeder, warum sie am Sonntagmorgen so gar niemals jemanden hat.
Wenn sie nur wollte, sie könnte doch jeden haben, hat man ihr wiederholt gesagt, oder auch jede, zwinker zwinker. Man ist ja offen heutzutage.
Die zwanzig Kilo, die sie sich draufhin angefressen hat, haben dann aber auch nicht geholfen. Wenn es wenigstens geschmeckt hätte, das öltriefend frittierte Zeug und Sahnepudding so viel reingeht und extra aufgezuckert.
Jetzt steigen ihr auch noch die Fetten nach, das kann sie gar nicht brauchen.
Trotzig steckt sie die eine Hand in die Jackentasche und fühlt ihre weichen Bauchlappen, die von innen entgegen quillen; die andere Hand hält die Leine straff im Griff.

Sie klimpert ein wenig mit dem Werkzeug in ihrem Parka, das hat sie mitgebracht.
Paco kann sich schon mal drauf einstellen.
Die Eisenstange ist gar nicht so lang, sonst hätte sie nicht so unauffällig in die Jackentasche reingepasst.
Beim Gehen spielen ihre Finger lustig mit dem metallgespickten Lederriemen, den hat sie eigenhändig präpariert.
Ganz spitz, man muss aufpassen.

Jetzt ist allerdings Ernst, Paco weiß es.
Der Probelauf ist vorbei.
Schon vorgestern und letzte Woche hat sie es versucht, hat ein bisschen angefangen, aber noch nicht wirklich und ohne Werkzeug. Sie wird sich ordentlich steigern müssen.
Heute muss es klappen.
Letztens war der Hund schon kurz davor, aber beißen wollte er noch nicht.
Ganz nah waren sich die Schädel; entschlossene Sehschlitze und dunkle Gespensterschatten, sooo finster.
Dröhnendes Knurren und gefletschte Grimassen, wildsabbernde Lefzen wie direkt aus der Hölle.
Na sieh mal an.
Braver Paco, da vorne.
Kein Mensch weit und breit.
Paco.
 

Klaus K.

Mitglied
Hallo Dichter Erdling,

brutalste Tierquälerei einer psychisch Kranken, verbunden mit teilweise abstoßenden Details.

Ich goutiere das absolut nicht und verzichte damit jetzt auf eine drastischere Formulierung.

Diese Geschichte gehört zudem in die Rubrik "Horror und Psycho" und ist hier völlig deplatziert.

Mit Gruß, klaus k.
 
Hallo Klaus K.!

Für die Rubrik „Horror und Psycho“ fehlt es der Geschichte dann doch an surrealen, phantastischen oder blutrünstigen Elementen, wie ich finde.
Ich finde, die Kategorisierung passt hier schon.
Auch eine Kurzgeschichte darf mitunter die düsteren, dunklen Abgründe des Menschseins beleuchten. Literatur darf das.

Primär geht es auch gar nicht um Tierquälerei.
Die Protagonistin handelt nicht unbedingt aus sadistischer Freude heraus.
Ob die beschriebene Figur psychisch krank ist, wie du sagst, das ist der nächste streitbare Punkt.
Sie zerbricht an den Vorstellungen und Ansprüchen ihrer Wirklichkeit, was sie dann überhaupt erst zur Grausamkeit hintreibt – und uns zur Frage führt, ob nicht eher diese Wirklichkeit krank ist, die Menschen oft partout nicht annehmen will, wie sie sind.

Bitte hier auch das Werk vom Autor (ausgewiesenes Herz für Tiere) zu trennen.
Schreibe nicht immer autobiographisch.
Habe auch schon andere Texte mit Tier-Bezug hier eingestellt.
Generell schreibe ich bevorzugt lieber freundlich, dem Positiven zugewandt.
Kann man aber nicht immer nur herzige weichgespülte Vorlagen liefern.
Ich merke zudem, dass die ruppigen, kantigen und abgründigen Texte zumeist besser angenommen werden und sich besser „verkaufen“.
Das ist schon auch ein Dilemma für mich, kannst du mir glauben.

Übrigens interessant auch, wie die „Gelesen“-Klickzahlen plötzlich raufgehen nach deiner prinzipiell negativen Kritik (ein Plus von ca. 30 % in den letzten 8 Stunden).
„Schlechte Werbung“ scheint es demnach wirklich nicht zu geben.

Auch derlei Gesetzen scheinen wir ausgeliefert, wir alle. Ich. Du.
Mal schauen, ob wir ihnen weiter gehorchen oder ob wir daraus ausbrechen wollen wie die „Heldin“ meiner Geschichte – um den Bogen nochmal zurück zu spannen.

Mit diesen Gedanken grüße ich dich,


Erdling
 
Ob die beschriebene Figur psychisch krank ist, wie du sagst, das ist der nächste streitbare Punkt.
Sie zerbricht an den Vorstellungen und Ansprüchen ihrer Wirklichkeit, was sie dann überhaupt erst zur Grausamkeit hintreibt – und uns zur Frage führt, ob nicht eher diese Wirklichkeit krank ist, die Menschen oft partout nicht annehmen will, wie sie sind.
Sehr gut analysiert.
Beislgrüße
 

Klaus K.

Mitglied
Hallo Erdling,

"es fehlt der Figur an blutrünstigen Elementen"? Der Wunsch nach dem Verlust eines Auges, dem Biss ins Gesicht, der blutigen Eisenstange? Aber keine Rasierklinge? Deshalb?
"Hier geht es nicht um Tierquälerei". Etwas anderes ist es doch nicht. Mit dem Autor und seiner Haltung hat das überhaupt nichts zu tun.
"Die Protagonistin handelt nicht unbedingt aus sadistischer Freude heraus". Das hat auch niemand behauptet.
"Ob die Figur psychisch krank ist", das sei der nächste "streitbare" Punkt? Ja, ist sie. Massiv. Was denn sonst? Wer macht so etwas, aus welchen Gründen auch immer? Was ist denn daran "streitbar"? Sie verhält sich also "normal"? Mir fehlen die Worte. Jetzt ist also die Wirklichkeit krank und damit für ihr Handeln verantwortlich? Wessen persönliches Umfeld ist derart abartig gestrickt oder veranlagt? Ist sie so geworden, weil sie als Kind ihren Namen nicht tanzen durfte? Warum? Wieso? Das ist doch hier völlig unerheblich.

Diese Geschichte gehört in die Rubrik "Horror und Psycho". Da finden sich genau diese Pole, das ist der maximale Bewegungsspielraum für die Story.
Es ist - jetzt ganz wohlwollend ausgedrückt - der Versuch deiner Gratwanderung zwischen "Woyzek", der gequälten Kreatur, und Stephen King.
Ich vermute, dass eine entsprechende Vorlage aber im Vorfeld gedanklich nicht unbedingt verantwortlich war.
Eine Interpretation in Richtung "ist nicht tierquälerisch, ist nicht so aufzufassen, sie konnte ja nichts dafür" und "sie ist nicht psychisch krank, die Umstände sind es, die Gesellschaft ist dafür verantwortlich" - das ist der eher woke Zeitgeist. aber das ist fernab der Realität.
Hier gibt es keine Umdeutung. Hier braucht es kein tiefes Verständnis.
Die Story ist extrem negativ, teilweise ekelerregend und in keiner Weise die Lust nach "mehr davon" fördernd. Er ist das Produkt aus zwei Grundbausteinen (Horror und Psycho), ähnlich den Drehbüchern von Serien mit "sex and crime", um einen Effekt zu erzielen. Als Versuchsballon hier aber definitiv in der falschen Rubrik.

Erdling, ich wollte keine Diskussion entfachen. Ich will dir auch persönlich nichts Böses. - Aber die Gegenargumentation ist schwach und nicht haltbar,
es sind m.E. eher Ausflüchte in die Philosophie, eine zu kleine Strickleiter für eine zu große Bordwand.
Bei einer Leseprobe in einer Buchhandlung wäre diese Art von Literatur eher chancenlos. Man will das nicht, behaupte ich. Man hat selbst genug Probleme.
Wie ein kurzer Satz mit einem Reizwort als "Contact-Booster" arbeitet ist mir bestens bekannt. Es freut mich für dich, somit habe ich wenigstens mal wieder etwas Gutes getan. Eventuell gibt es ja noch andere Reaktionen. Ich klinke mich aber dann aus. Und keine Reaktionen sind auch Reaktionen, das weißt du sicher auch.
Mit bestem Gruß, Klaus
 

Aledi

Mitglied
Extrem spannend geschrieben!

Schöne Grüße
SilberneDelfine
Unter spannend verstehe ich etwas anderes.

brutalste Tierquälerei einer psychisch Kranken, verbunden mit teilweise abstoßenden Details.
Die Geschichte ist nicht schlecht geschrieben. Ich als Leser habe kein Interesse daran, mir eine Kurzgeschichte von einer psychisch kranken Frau einzuverleiben. Ich schließe mich dem Kommentar von Klaus an.
In was für einer Welt leben wir, wenn nur noch reißerische Literatur den Weg zum Leser findet? Schreibt man hier eine Liebesgeschichte, wird man gleich mit Rosamunde Pilcher auf eine Stufe gestellt.

Liebe Grüße Aledi
 
Unter spannend verstehe ich etwas anderes.
Dein gutes Recht. Über Geschmack lässt sich nicht streiten.

Schreibt man hier eine Liebesgeschichte, wird man gleich mit Rosamunde Pilcher auf eine Stufe gestellt.
Das muss man, wenn man seine Texte veröffentlicht, genauso aushalten wie Kritik an „reißerischer Literatur."
Aber eigentlich hat dein Kommentar überhaupt nichts mit Dichter Erdlings Geschichte zu tun. Ich finde sie übrigens immer noch super. Warum? Weil sie spannend ist und psychologisch raffiniert gestrickt.
So driften halt die Meinungen auseinander. Muss man halt akzeptieren.
 
Zuletzt bearbeitet:

GerRey

Mitglied
Also ich weiß nicht, wo da bei den Allerweltsätzen Spannung oder gar Kunst aufkommen soll? Ich schaffte drei Absätze, dann war mir das Gassigehen schon zu viel. Erst bei den Kommentaren las ich Horror und Psycho. Also da kam noch was? Wenn es bei Leckerli und Kotbeutel schon einmal metallisch geklimpert hätte oder auch eine Andeutung zu einer dunklen Ahnung, sodass man stutzig wird und sich zum Weiterlesen bemüßigt fühlt ...
 
Ist ja auch nicht unbedingt schlecht, wenn ein Text polarisiert.

Ein wenig wundert es mich aber schon, wie die Zuschreibung „psychisch krank“ an meiner Protagonistin haften bleibt – und wie ablehnend diesem Charakteristikum begegnet wird.
„…habe kein Interesse daran, mir eine Kurzgeschichte von einer psychisch kranken Frau einzuverleiben“, schreibt hier jemand.
Das erstaunt und befremdet mich einigermaßen.
Wenngleich die Figur in dieser Geschichte frei erfunden ist, bin ich im Leben durchaus schon mehrmals mit Menschen in Kontakt geraten, auf die die Zuschreibung „psychisch krank“ zutrifft/zutreffen könnte.
Ihre Sicht der Welt und wie sie erleben, fühlen, denken… fand ich dabei grad besonders interessant - ob die offizielle Diagnose nun „autistisch“, „schizophren“ (ein vielschichtiges und oft missverständliches Krankheitsbild) oder „depressiv“ … gelautet hat.
Es erstaunt mich also, wie man hier ein Desinteresse an Personen, welche vielleicht nur anders, vielleicht krank sind, so offen zur Schau stellen möchte.
Primär habe ich eine Frau beschrieben, die sich in der heutigen (vielleicht hypersexualisierten) Gesellschaft als asexuell empfindet und schwer mit allem hadert: Da bleibt es an dieser Stelle natürlich extra fraglich, wie weit das Sujet „Asexualität“ dem Stigma „krank“ entsprechen mag.

Gegen den Vorwurf „reißerisch“ möchte ich mich im Übrigen schon auch ein bisschen wehren.
In einer solchen Absicht - also „reißerisch“ zu sein, um Aufmerksamkeit zu erregen - schreibe ich meine Geschichten nicht.
Ich versuche bloß, unverblümt und ehrlich zu schreiben, wie Menschen denken und ticken können - das kann eben auch mal grausam sein.

Explizite Grausamkeiten oder Gewaltbeschreibungen gibt es im konkreten Fall aber gar nicht wirklich.
Das Brutale wird höchstens angedeutet und bleibt am Ende nur fiktiv; ein Gedankenspiel der Protagonistin.
Ob sie es tatsächlich „durchzieht“, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen.

Das wollte ich noch gesagt haben.
Ich möchte mein Werk aber auch nicht zu Tode verteidigen.
Ist schon okay, wenn es nicht gefällt.
Ist ja auch nicht unbedingt schlecht, wenn ein Text polarisiert…
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es ist völlig ok, wenn ein Text polarisiert. Vielleicht ist das sogar interessanter als völlige Einigkeit der Kritiker. Der Autor lasse sich nicht irritieren!

Eine Empfehlung meinerseits unterstreicht nur, wie gut und spannend auch die Auflösung des bis zum Schluss unklaren Beweggrundes des Ich-Erzählers gestaltet wird.

Gruß DS
 

GerRey

Mitglied
Sicher ist es gut, wenn ein Text polarisiert - da sollte er aber Qualität haben! Ein Highlight der Erkenntnis: "Sie kramt eine Packung Leckerli hervor, die liebt er heiß." Gibt's einen Hund, der keine Leckerlis mag?
 
Ich habe das Gefühl, einige Leser kleben hier zu sehr an der Wirklichkeit. Eine Geschichte lässt sich nicht 1:1 auf die Wirklichkeit übertragen und das ist ja auch gar nicht der Sinn. Eine Geschichte ist dazu da, aus dem Alltag auszubrechen. Sie darf ruhig auch mal verstörend sein. Das muss nicht jedem gefallen.

"Sie kramt eine Packung Leckerli hervor, die liebt er heiß." Gibt's einen Hund, der keine Leckerlis mag?
Es geht nicht darum, was Hunde lieben. Es geht um die Gedankenwelt der Protagonistin.
 

GerRey

Mitglied
Eine Geschichte darf viel sein - von mir aus auch langweilig; nur höre ich zu lesen auf, wenn man mich mit Allerweltsätzen zu beglücken versucht; Spannung erwächst nicht nur daraus, das gleich was Schlimmes passiert. Und die Wirklichkeit ist oft spannender als man denkt.
 

Mimi

Mitglied
Auch wenn die Geschmäcke der Leser bekanntlich verschieden sind, es bleibt ein gut eingefangener Einblick in die Tiefen einer komplexen menschlichen Gedanken- und Gefühlswelt.
Wer lieber "weichgespülte" Literatur lesen möchte, vergisst dabei allerdings, dass selbst die Realität aus alles andere als nur "Friede, Freude Eierkuchen" besteht.
Literatur sollte möglichst vielfältig und breit gefächert sein.

Sicherlich, stilistisch wäre der Text an einigen Stellen ausbaufähig, aber auch das ist Geschmackssache...

Kurzum : Nicht irritieren lassen, als Autor erreicht man nicht jeden Leser.
Diesen Anspruch haben nicht mal die größten Autoren.
Ich habe die Geschichte jedenfalls gerne gelesen...

Gruß
Mimi
 

Natalkamajka

Mitglied
Ich finde die Geschichte super! Es gibt so viele kranke Menschen, geformt durch diese genau so kranke und kalte Welt. Wie Mimi schon schrieb, weichgespülte Literatur ist mir zu wenig und zu langweilig. Ich liebe deine Art zu schreiben und die Wortspiele, ebenso wie die Handlung, die ich so noch nie gelesen habe. Ich bin vielleicht neu hier, habe allerdings schon vieles gelesen und dies hier ist bis jetzt meine absolute Lieblingsgeschichte. Schaurig und skrupellos ehrlich. (Finde dennoch nicht, dass es unbedingt in Horror oder Psycho gehört, aber auch dort würde es reinpassen.) Weiter so! :)
 
Hallo Natalkamajka!

Als jemand, der hier auch noch nicht lang „dabei“ ist, freut mich deine erbauliche Rückmeldung sehr!
Ist angekommen, also danke und liebe Grüße von


Erdling
 

Nostoc

Mitglied
Hallo Dichter Erdling,

ich empfinde mich im „Autoren-Geschäft“ auch noch als Neuling, dennoch würde ich gerne einige Gedanken zu Deiner Geschichte anbringen:
Technisch finde ich es gut geschrieben, es ist düster, unheimlich, auch verstörend. Das war wahrscheinlich die Idee dahinter.
Ob die Protagonistin psychisch krank ist, könnte man diskutieren, immerhin ist sie beziehungsunfähig/-unwillig, hat eine Neigung, Tiere zu au-Leon oder mindestens zu erniedrigen. Eine Fantasie, von einem Tier schwer verletzt (oder gar getötet?) zu werden, um „seine Ruhe“ zu haben, erscheint mir auch nicht geistig gesund. Aber dann ist dies tatsächlich im Sinne von Krankheit zu sehen, ähnlich einer Lungenentzündung oder einem gebrochenen Bein, nur im psychischen Sinne (psychisch kranke Menschen sind KRANK, sie suchen sich das nicht aus).
Abgesehen davon, dass es auch nicht mein Genre ist, wofür aber niemand was kann, finde ich die Story gut erzählt.
Kritisch würde ich anmerken, dass es mir zwischendrin etwas zu langatmig war und ich mich fragte: „Wann passiert denn jetzt was?“
Für Horror und Psycho fehlt mir ein Schock-Effekt, ein blutrünstiger Untoter oder dergleichen.

Viele Grüße,
Nostoc
 



 
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