Es schreitet der Kranich.
Old School mit 17 Silben.
Schau, im Whirlpool
die Maus! Ertrunken treibt sie
stumm im Kreis herum...
aligaga
Freilich fraß die Gans
meine Gerste - aber weh
tat ihr Scheiden doch.
Yasui
Schau nur her, Showtime, sozusagen, gewissermaßen: Die erste Viertelstunde ist vorbei im Seminarraum R 205, Wacherstraße. Fünf Tische, an jedem zwei Studenten: „Literarisches Schreiben“, erste Sitzung.
Vorne links der junge Mann da, er heißt Konrad Miltenberger - kurzer Blick in die Anmeldungsliste - im 7. Semester Germanistik. Er ist fertig mit Schreiben, die anderen auch, er beginnt vorsichtig: „Zum Thema Tiere, in vier Minuten aufs Papier hingeworfen, hab ich jetzt was." Und dann: "Ich habe Sie schon richtig verstanden, Herr Tanner, wir sollten so schreiben, was uns einfällt. Und es soll ein wenig gewählt und literarisch und altmodisch sein, Old School? Heftige Old School? Jetzt gleich unseren Text präsentieren, Herr Tanner?”
Hm, die Stimme hörte sich ein wenig zittrig an, ein wenig flach. "Ja, jetzt”, sagte Tanner und fuhr sich über sein kurzes, graues Haar, das danach (ist halt so) sicher wieder vom Kopfe abstehen würde. Er hatte ihnen gesagt, das hier sollte schon beachtet werden beim Vorlesen: Akustik, Blickkontakt. Einfach auf das Umfeld achten.
Nun ein aufmunterndes Lächeln für Konrad Miltenberger. Der nahm Blickkontakt auf, zuerst zu Tanner, dann zu den anderen. Tippte nun aber kurz an den Nasenbügel der metallgefassten Brille, schob sie dort hoch, rückte die Seitenbügel zurecht, schaute in die Runde: Augen wie die eines Autofahrers hinter einer Windschutzscheibe bei Fahrt im Regen durch die Nacht. Er startete mit Lesen und fuhr über das Lenkrad gebeugt hinter den vorausleuchtenden Scheinwerfern her:
"Der Katzenfürst hat nichts zu tun,
maunzt gar sehr und kann nicht ruhn.
Horcht gar bang zum Gang hinaus,
endlich kommt Sie.- Ei, der Daus!
Schlank und biegsam, wunderbar,
braune Augen, schwarz das Haar."
„Ein bisschen Eugen Roth”, murmelte Friedrich Tanner und schwieg ein bisschen. Dafür auch hatte man sechs Semester Germanistik in München studiert. Bibliothek, Seminar, Seminararbeit, Seminararbeit. Noch eine Seminararbeit. Dann Literaturinstitut in Leipzig. Austausch, Inspiration, Kritik. War besser, praktischer und kognitiver und weniger „splendid isolation in der Kammer". Sehr gut für das Hier und Jetzt. Aber am besten war doch die Sache mit dem Großvater gewesen: Fünf Bücherschränke im Wohnzimmer, drei im Flur, Eduard Engel
Deutsche Stilkunst, Thomas Mann
Zauberberg, Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen. Camping tagsüber auf dem Sofa bis spät. Konnte man tagelang durchhalten. Manchmal in der Küche ein Butterbrot holen. Kirschen aus dem Garten oder aus den Weckgläsern in der Speisekammer oder im Keller. Dann hatten sie zusammen Neues entdeckt, diesen W.A. Auden: "Over the heather the wet wind blows/I've lice in my tunic and a cold in my nose. When I'm a veteran with only one eye/ I shall do nothing but look at the sky" (Roman Wall Blues). Und Thomas Kling: "5 tage und nächte, schwimmend, in brüllender see, das schwert in der hand, selbstverständlich" (Rollen). Glück war das und Freude. Dann wieder der Griff zu den Alten, "Buddenbrocks", Bengtsons "Röde Orm" mit Frater Willibald, manchmal mit Griff in den Rumtopf. „Die Geister längst verrauchter Ahnen wachrufen“, sagte der Großvater dazu. Und: „O du meine hürnene Brille, dein Macher tauchte einst dein Gestell in Drachenblut, dann schliff er die Gläser ein. Du Meisterwerk! Wo bist du denn eigentlich schon wieder hin?“ „Ach, Großvater, immer dein alter Witz. Oben auf´m Kopf.“). - Tanner klinkte sich wieder in den Raum 205 ein, nickte dem jungen Mann zu:
„Ja, Herr Miltenberger. Old School. Das ist Old School. Das war Old School.“
Pause. Dann blickte Tanner zu Thomas Anderson: "Herr Anderson?"
"Habe einen Haiku notiert." Und nun ließ Anderson - die Silben balancierten auf den Zeilen - den Japaner durch den Raum staksen:
"Der Kranich schreitet
Im Sonnenschein sich plusternd,
hier auf dünnem Eis."
Ausatmen nach der dritten Zeile. Konrad Miltenberger, der Katzenfürstendichter, zeigte keine Regung, die Hand lag auf seinem Blatt von vorhin, die anderen hatten gespannt zugehört, jetzt schauten sie auf ihre Texte. Georg Mallon drüben fummelte einen Zettel vom Tisch hoch. Hatte vor fünf Minuten neugierig Andersons Haikuschreibe seitwärts mitverfolgt (was der da an Wörtern in drei Zeilen verteilte?). Jung und wach, dachte Tanner, kein Hans-Castorp-Studiker. Ein Mix aus Waschbär, Snoopy, Schroeder und Leberecht Hühnchen. So auf den ersten Blick. "Bitte, Sie sind dran." Mallon schloss die Augen, öffnete sie wieder, seine Stimme war gedämpfter Singsang:
"Es hat mich erblickt
Und macht ein saures Gesicht
Der alte Kranich."
Da schau her! Was für zwei schöne Kurztexte von den zwei. Nehmen die Vorgabe „altes Schreiben“ auf, spielen damit, haben wahrscheinlich ein Gefühl für die gewisse Komik des gravitätischen Schreitens. Jetzt besser nicht herumschwadronieren, die Leute sprechen lassen. Also, Ansage an alle: „Zwischenstopp. Kurzer Austausch untereinander“, Friedrich Tanner lehnte sich zurück, „ die anderen Texte kommen später, plaudern wir los."
Mallon: „Ho, dein Haiku war gut, der schreitende Kranich auf dünnem Eis.”
Anderson: „Deiner auch: der alte, saure Kranich.“
Mallon:„Aha?”
Anderson:„Wenn wir Menschen uns von Tieren irgendwie unterscheiden,
dann durch unsere Fähigkeit, Haikus mit Tieren zu schreiben.”
Mallon (lachend): „Hoho.“
Anderson: „Und durch unsere Fähigkeit, darüber zu lachen.”
Sieh da: Mallon tippt mit dem Zeigefinger gegen die Brust von Anderson, betont jede einzelne Silbe, fern von lockerer Prosa: „Du Mensch. Du-Stelz-vo-gel!”
Anderson: „In-kor-rekt. Ich gleiche nämlich dem Adler.”
Mallon (blickt zuerst Anderson an, dann zur Decke hinauf): „Aha. Droben kreist in höchsten Höhen der Herrscher der Vögel, des Sturmes gewaltiger Aar.”
Mallon (deutet auf den braunen Laminat-Boden): „Drunten aber im Sande buddelt die Milbe.”
Die beiden heben ihre Schreibstifte, kreuzen sie über den Tisch: Klirrende Klingen, elegant gekreuzt, sprühende Funken - Gawain von Orkney, Parzival, Lancelot, Prinz Malagant, Feirefiz, Wolfram von Eschenbach - die zwei jungen Recken verneigen sich spielerisch voreinander.
Schau, schau, dachte Tanner, das wird gut.