Val Sidal sucht nach der Geschichte
@ Architheutis:
Werk des Monats, dass damit der herausragendste Text eines bestimmten Monats ausgezeichnet werden sollte, steht meines Wissens nirgendwo und ist eine Interpretation von dir.
Schau doch mal zurück, was alles schon WdM war, gehe bis in die Profile der Autoren rein, dann wirst du sehen, dass es tatsächlich nicht gerade selten vorkam, dass ein fünf Jahre altes Werk von einem Schreiber WdM wurde, der seinem Verzeichnis nach seit mindestens zwei Jahren an der LL nicht mehr teilnimmt. (Und einen weitere Tendenz, die sich finden lässt: Meist werden Werke ausgezeichnet, die vorher bereits viel Leserresonanz und dann durchweg positive erfahren haben, besonders bei Lyrik fällt dies auf. Das war dieses Mal nicht so und ich lobe das ausdrücklich, diesen Mut des Jurors, etwas zu kören, was nicht schon gut abgehangen und allseits abgenickt war.)
Ich meinerseits finde es sehr richtig, dass so verfahren wird. In der Zeit als ich meine eigene LL-Kritik-Rubrik "Klama liest..." betrieben habe, guckte ich meist extra nach "alten" Texten, nach Ausgrabungen, da das, was zufällig gerade gestern eingestellt wurde, doch nicht repräsentativ für die gesamte Leselupe sein kann, wenn ich mit der Zeit aber Texte aus zehn Jahren versammele, dann habe ich diese Repräsentativitat. Es ist auch nicht einsehbar, wenn ein Spitzentext auf Nobelpreisträgerniveau nur deswegen nicht gelesen wird, weil er zehn Jahre alt ist und der Autor seither nichts veröffentlicht hat - weil aber viele, viele Gartenzwerge gerade vor zwei Stunden ihre Gartenzwergtexte eingestellt haben.
Sobald man erkennt, das sowieso nie Texte aus dem laufenden Monat zu WdM gemacht werden (einzelne Ausnahmen mögen die Regel bestätigen), ist es doch unnötig, die Wahl ans Ende und die Bekanntgabe an den Beginn eines Monats zu legen. Was zutrifft, ist, dass auf der Startseite das jeweils neueste WdM schon anfangs des Monats angezeigt wird, während einen die Mailnachricht über dieses Werk, der Infodienst, den man abonnieren kann, erst gegen Ende des Monats aufmerksam macht, wenn schon viele vor einem es gelesen und womöglich gelobt oder verrissen haben. Als ich regelmäßig noch
jedes WdM las und rezensierte, dachte ich eine Weile, nur ich würde so spät benachrichtigt, weil man darauf gekommen wäre, dass ich dann fast immer eine schlechte Kritik drunter schreibe. Dieses hier hatte ich zufällig schon lange vorher entdeckt, bevor die Nachricht kam. Ich gucke da hin und wieder in den Kasten auf der Startseite rein, was da gerade drin ist, damit ich, wenn es ein gereimtes Gedicht ist, die später ankommende Benachrichtigungsmail löschen kann, sie gar nicht mehr aufmachen muss.
@ Val Sidal:
quote:
"Und in der Tat halte auch ich nicht das Ausdenken erzählenswürdiger Geschichten für die Hauptaufgabe literarisch schöpferischer Tätigkeit."
... lässt seine "antrittsrede" in einem veränderten licht erscheinen: er hatte die absicht, mist zu schreiben.
Das ist nun kein Zufall, dass diese kritische Einordnung des kleinen (ersten) Archras-Textes gerade unter solchen Gesichtspunkten von dir gekommen war. Wir haben das auch in privaten Nachrichten schon mal gestreift: Wenn man deine eigenen Texte anguckt, merkt man, dass du so eine Art "Geschichtenerzähler" bist. Man kann sich das vorstellen als der einzige Schriftkundige, der am kalten Winterabend in der Steinzeithöhle ohne Fernsehen am Lagerfeuer bei den gut mit Mammutfleisch versorgten Jägern sitzt und anhebt: "Jetzt werdet ihr gleich was hören, das wird euch umhauen..." Und dann erzählt er ihnen, wie Prometheus von den Göttern die brennende Fackel stahl. Oder so was. Also eine packende Geschichte. Ein Film fürs sogenannte [blue]Kopfkino[/blue].
Dass dies eine sehr verbreitete und uns allen geläufige Art des Prosaschreibens ist, heißt nicht, dass sie die einzige wäre. Der Schluss "Wenn du dich weigerst, eine Geschichte zu erzählen, sobald du Prosa schreibst, erklärst du, dass du nur Mist schreiben willst" ist kein logischer und zwingender.
Wir hatten das neulich bei einem anderen Thread, wo ich ein wenig herumgestammelt hatte um anzudeuten, was mir beim Verfassen eines Textes vorgeschwebt war: "neben der Bedeutung der Wörter schreiben, gar nicht das erzählen wollen, was man erzählt, sondern geistige Reaktionen des Lesers anstoßen, Reaktionen auf das, was er da zu lesen bekommt". (Also schreiben nicht für das, was im Text zu sehen ist, sondern für das, was der Text beim Leser anregt.) Sofort hast du protestiert: Man könne nicht etwas anderes erzählen, als das, was man erzählen wolle, es sei absurd. Und man kann es ja auch nicht - in der Tradition des Höhlenerzählers: "Der Blitz schlug in die Eiche auf dem Gipfel ein und sie brannte lichterloh", das heißt, dass man tatsächlich will, dass die Zuhörer oder Leser eine Eiche auf einem Berg vor ihrem geistigen Auge haben und so weiter. Sie sollen es irgendwo "glauben" (können), was sie lesen. Auch heute noch. John Irving schreibt: "Die Eingeborenen bohrten ihm ein dünnes Rohr in den Penis" und die Leser: "Oh Gott, da wird ein Penis durchbohrt!" Hingegen der Klama-Erzähler: "Die Eingeborenen der Insel bohrten dem an die Trage gefesselten Marcel Reich-Ranicki..." und so weiter. Sofort wissen die cleveren LL-Mitglieder, das war natürlich niemals so und er meint es noch nicht mal, sondern, na ja, wenn wir uns anschauen, was er sonst so schreibt, will er wohl, dass wir jetzt an obskure homosexuelle Praktiken denken, und Marcel Reich-Ranicki mag er nicht, weil er weiß, dass der seine Texte niemals ernst genommen und darum fürs Gegenteil von Literatur erklärt hätte, darum foltert er ihn hier virtuell. Und gucke: Jetzt interpretieren die Leser das nicht nur so, sondern ich hab das überhaupt nur geschrieben, damit die Leser anfangen so was zu denken. Das habe ich gemeint mit Neben-den-Worten-Erzählen.
Ich komme (schon wieder) auf meinen Thomas Bernhard zurück, was eben daran liegt, dass dieser Mensch mal für zwei Jahrzehnte mein persönlicher Bravo-Starschnitt-Star gewesen ist, ich infolgedessen einiges von ihm weiß. Es könnte sein, dass all diese Gedanken viel passgenauer an Benabou oder Smith aufgehängt werden könnten, nur nicht von mir, denn die habe ich nie gelesen.
Also, Bernhard behauptete: "Ich bin ja der typische Geschichten-Zertrümmerer. Immer, wenn bei mir beim Schreiben eine Geschichte sich über den Horizont des Textes zu schieben beginnt, nehme ich den Hammer und zertrümmere sie."
Wie oft schon nachgewiesen wurde, stimmt das gar nicht. Es lassen sich viele Geschichten in seinem Werk finden. Aber darum geht es hier nicht, sondern es geht um die Idee, dass Geschichtenzertrümmern eine dankbare Aufgabe für einen Schreibenden bilden könnte.
Du wirst mir zustimmen, dass ein Gemälde von Papst Innozenz uns zwar genau diese Person zeigt, Papst Innozenz, aber in gar nichts dieser Papst [blue]
ist[/blue], sondern es tut nur so. In Wahrheit besteht es aus einer Ansammlung von Zeichen. Nämlich bunten Pinselstrichen. Der Maler hat diese Pinselstriche so lange organisiert, bis der Papst gesagt hat: "Gut, genau so sehe ich aus. Das haben Sie gut gemacht." Dieser Gedanke erscheint uns heute als höchst trivial und jedes Kind kennt ihn unter dem René-Magritte-Diktum "Das ist keine Pfeife". Mitte des 19. Jahrhunderts kam eine neue Technologie auf, die nannte sich Photographie. Du wirst mir vermutlich zustimmen, dass es nicht mehr notwendig ist, große Ölgemälde vom jeweiligen deutschen Herrscher zu malen, seitdem es die Photographie gibt. Man kann sie einfach fotografieren, tut dies ja auch.
Ab diesem Zeitpunkt konnte man in der Bildenden Kunst ganz andere Dinge tun, als Geschichten zu erzählen. Man konnte eine quadratische schwarze auf eine rechteckige weiße Fläche setzen und das für ein Werk erklären. Man konnte irgendwelche Tarnnetze durch große Räume spannen und darunter ganz verschieden farbige Tütenlampen aus den fünfziger Jahren anknipsen. Und immer glaubten irgendwelche Leute, dass es Kunst wäre.
Gehen wir nun in die Literatur. Da hat es irgendwann einen Zeitpunkt gegeben, wo einerseits alle Gechichten wenigstens einmal schon erzählt waren. Also nicht ganz exakt bis in jedes Detail hinein. Aber, es hatte schon mal jemand eine Geschichte erzählt, wo Eingeborenen einen Penis durchbohren um einem abgestürzten Kriegsteilnehmer bei seiner tropischen Krankheit Linderung zu verschaffen. Es hatte vielleicht bloß noch keiner diese Geschichte mit Reich-Ranicki darin erzählt, war aber egal. Andererseits war etwas aufgekommen, das hieß Film und absolut jeder Mensch im Weltall hörte und sah sich so was gelegentlich an. Auch dort wurden Geschichten erzählt. Und die schreibenden Leute konnten nicht mehr so tun, als seien bloß die Geschichten den Leuten erzählt worden, die in Büchern stehen, sondern den Leuten waren auch die Geschichten erzählt, die sie im Kino und Fernsehen angesehen hatten.
Ab diesem Zeitpunkt konnte man eine Literatur machen, die keine Dienerin fürs Geschichtenerzählen mehr war, sondern die Zeichen (beim Maler die bunten Pinselstriche, beim Schreiber die Wörter und Sätze) als Selbstzweck irgendwie absichtsvoll sortierte und anordnete. Bei welchem Vorgang man darauf zählen kann, dass der Lesende ein Geistorgan hat, das von sich aus sofort damit anfängt Zeichen zu Gebilden zusammenzuschrauben, sobald mehrere nebeneinander auftauchen.
Man schüttelt also einige Wörter aufs Papier oder ins Internet hinaus:
Pfennig - Hochdruck - transzendieren - jedoch - arschlings
und es ist Quatsch, wie jeder sofort sieht. Oder auch nicht. Die Leute erwägen diese Möglichkeit immerhin. Weil nicht mehr jedes Wort für sich steht, sondern es anfängt, irgendwie zu flimmern zwischen allen zusammen. Die Wörterliste ist mehr als die Summe ihrer Teile.
Und so kann man anfangen zu basteln. Man kann dann aber auch alle drei Zeilen die sich abzeichnende Bedeutung wieder zertrümmern, weil man dem Leser vielleicht zeigen will, dass Sprache ihn denken lässt und dass sie das hier mal nicht tun soll. Oder irgendwas.
Von dem kurzen Achras-Text wäre prinzipiell vorstellbar, dass Thomas Bernhard ihn zu einem 280 Seiten langen, so genannten Roman verarbeitet hätte. In diesem Roman tritt ein Erzähler auf, der nichts über sich selber sagt, vielmehr, sagt er, werde er alles berichten, was er von den inneren Vorgängen eines Herrn Achras weiß, welcher aber unbekannt verreist, von der Erdoberfläche wie verschunden sei. Dieser Achras habe diese und jene und diese Schriftsteller immer wieder und wieder gelesen und aus diesen und jenen und diesen Gründen hoch geschätzt, dann unter deren Einfluss selbst die Feder ergriffen, um sein eigenes Hauptwerk zu verfassen, dieses aber wieder und wieder verworfen, vernichtet, nie beendet. Aus diesen und jenen Gründen, vor allem, weil es ein Wahn sei, so zu schreiben wie diese genannten Vorbilder, die ja alle vollkommen wahnsinnig gewesen wären. Und so weiter. Immer so fort in einer Tour. Bis die 280 Seiten geschafft sind. Dann sagt er, eigentlich solle man sich eher im Gehen an der fischen Luft üben, da kämen einem frische Gedanken und nach all diesen Seiten wäre das jetzt dringend nötig.
Das ist Text, was da entstanden ist. Ein gewaltiges Stück Literatur, das mit seinen Sprachpartikeln irgendwas tut beim Leser, wenn auch vielleicht nicht das, was dieser erwartet hatte, und nicht das, was es in der Einleitung zu tun angekündigt hatte, nämlich die Lebensgeschichte dieses verschollenen Autors Achras zu erzählen.
Es wird immer die einen Leute geben, die sagen: "Das ist von Anfang an Mist gewesen. Dass man ihn auf 280 Seiten streckte, hat am Mistcharakter nichts geändert. Wie es andererseits auch Leute geben wird, die meinen: "Das ist herausragend. Das muss sofort den Büchnerpreis bekommen!"
Diese beiden Lesergruppen werden sich vermutlich auch im Fortgang einer längeren Diskussion nicht mehr einig werden.