Svensson: Auch Götter machen Fehler (V)

ArneSjoeberg

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„Besonderheiten?“
Ryland Mikkelsen ließ sich auf den Beifahrersitz des Mercedes fallen. Vorsichtig und mit beiden Händen zog er die Tür heran und mit einem kurzen, leisen Ruck zu. Es war kurz nach zwölf Uhr in der Nacht und das Zuschlagen einer Autotür war weit zu hören.
Seine Frage war überflüssig gewesen. Seit sie den Mord an Bengt Ängström unerledigt zu den Akten gelegt und zu dessen Sohn gewechselt hatten, wusste er, dass er sich auf Wielander verlassen konnte. Wäre etwas gewesen, dann hätte der es entweder selbst erledigt oder er wäre davongefahren.
Der verzog dann auch nur kurz die Lippen zu einem schalen Grinsen. „Sie sind zu Hause. Abendbrot in der Küche, ein kurzes Gespräch im Arbeitszimmer, nichts Wichtiges. Mehr war nicht außer fünf Hunden und elf Katzen. Die Ratten habe ich nicht gezählt.“
„Dachte ich mir. Hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Ängström landet in zwei Stunden mit seinem Privatjet in Hamburg.“
„Dann solltest du besser die Karre nicht wieder so vollqualmen. Sonst bekommt der feine Herr schlechte Laune, weil er den Gestank aus seinem Cashmerepullover nicht rauskriegt. Schon schlimm genug, dass der hier aufkreuzt. Irgendwann wird er sich aus seiner Mord-Lust noch selbst umbringen. Wie viel Millionen hat er? Und dann will er bei einem Feldeinsatz dabei sein? Der ist krank.“
„Er bringt Perverdrin mit.“
„Was?!“ Wielander stöhnte auf, dann murmelte er: „Das wird hässlich.“
„Zu hässlich“, stimmte Mikkelsen ihm zu. „Nach dem Einsatz wechseln wir zu Hakonsen. Der ist berechenbar.“
„Du bist dir sicher, dass Ängström uns so einfach gehen lässt?“
„Wir wissen genug über ihn. Und dann ist da noch Marianna Raikkaanen.“
Wielander nickte. Sie wussten beide eine Menge über Ängströms Machenschaften und seinen pathologischen Frauenhass. Er hatte dafür gesorgt, dass die Tochter der Frau, die ihn zu dem gemacht hatte, der er war, eine perfekte Ausbildung bekommen hatte, die sie vor ein paar Monaten beendet hatte. Er hatte sie verschwinden lassen und selbst Mikkelsen und Wielander wussten nicht, wohin. Sie waren sich sicher, dass sie noch lebte und auch, dass es für das Mädchen besser gewesen wäre, tot zu sein als das Spielzeug Ängströms.
Wielander hätte jetzt aussteigen und noch ein paar Stunden schlafen können, doch er blieb sitzen und Mikkelsen sagte: „Red schon.“
„Ich schlafe schlecht.“
„Nimm eine Tablette. Oder zwei.“
„Gute Idee. Warum bin ich nicht darauf gekommen. Fällt dir sonst noch etwas ein?“
„Erschieß dich. Aber erst, wenn der Job erledigt ist.“
Wielander stieg aus und schloss die Fahrertür genau so leise wie Mikkelsen zuvor. Wie eine Katze schlich er davon, keiner seiner Schritte auf den Steinplatten verursachte auch nur den geringsten Laut.
Mehrere Minuten lang saß Mikkelsen nur da, ohne sich zu bewegen. Er wusste, warum Wielander schlecht schlief. Sie hätten nicht mit dem Hubschrauber über dem sinkenden Schiff bleiben dürfen. Alle waren froh gewesen, aus der Antarktis endlich nach Hause zu kommen und nur Granerud hatte gefragt, warum sie mit so einem alten Seelenverkäufer zurückfuhren und nicht mit der Seahawk II, dem gleichen Schiff, dass die Expeditionsteilnehmer auch an der Küste der Antarktis abgesetzt hatte.
Mikkelsen hatte ihn damit beruhigt, dass die Seahawk wegen eines Maschinenschadens hatte umkehren müssen. In Wirklichkeit war sie zu dem Zeitpunkt nur knappe zweihundert Seemeilen entfernt gewesen. Es hatte einen Grund dafür gegeben und der war es auch, der Wielander nicht schlafen ließ.
Zwei Stunden, nachdem der alte Frachter die Leute der Antarktisexpedition an Bord genommen und abgelegt hatte, waren Mikkelsen, Wielander und Hakonsen mit dem Helikopter gestartet. Es war Hakonsen gewesen, der den Knopf gedrückt hatte, der die Explosion ausgelöst hatte und er war es auch gewesen, der darauf bestanden hatte, dass der Hubschrauber so lange über den Ertrinkenden kreiste, bis auch der Letzte untergegangen war. Es waren ihre Gesichter, ihre Hilfeschreie und ihre flehend zum Hubschrauber emporgereckten Arme, die Wielander nicht schlafen ließen. Er war gut mit dem Messer, Mann gegen Mann und mit fast jeder anderen Waffe und er konnte einem Menschen Dinge antun ... Aber nur einem. Zusehen, wie zweiundsechzig Menschen um Hilfe schreiend ertranken, hatte er nicht so einfach weggesteckt. Mikkelsen schon, denn er war es nicht gewesen, der den Knopf gedrückt hatte.
Er öffnete das Handschuhfach und nahm einen schmalen Hefter heraus. Alles, was sie in den letzten Wochen über die Oldenburgs zusammengetragen hatten, stand auf nur zehn A4-Seiten. Mikkelsen wusste, dass sie immer zu wenig Informationen über die Leute besaßen, mit denen sie es zu tun hatten und dass es Teil ihres Jobs war, damit umzugehen. Er wusste auch, dass er sich nie daran gewöhnen würde, vor allem dann nicht, wenn er es mit einem Mann wie Christian Oldenburg zu tun hatte. Einem Mann, der ein Profi war und gefährlich.
Seite für Seite blätterte er um, obwohl er es nicht hätte tun müssen, weil er jedes Detail davon im Kopf hatte. Ab und an machte er Notizen am Rand und auf die letzte Seite schrieb er die drei Fragen, die ihm keine Ruhe ließen: Für wen Johanna arbeitete, warum sie zu Christian Oldenburg geflohen war und warum der noch lebte. Dann machte er sich noch kleiner, als er ohnehin schon war, zündete sich eine Zigarette an, schloss die Augen und dachte nach.

Christian räumte die Küche auf, wusch noch ab, tief in Gedanken versunken. Nichts passte wirklich zusammen für ihn. Er wusste, dass sein Vater eine solche Operation wie die Zerstörung des Labors nie im Alleingang durchgeführt hätte, wenn es nicht um alles oder nichts gegangen wäre. Er hatte nicht sicher sein können, mit einer einzigen Aktion das Perverdrin für immer zu beseitigen. Ängströms Forschung verstieß gegen alle Gesetze und egal, wer sie ihm finanzierte oder deckte, er musste wissen, dass sie ihn an den Galgen bringen konnte. Wenn sie so wichtig für ihn war, war es mehr als wahrscheinlich, dass er die Forschungsergebnisse an einem sicheren Ort deponiert hatte und nicht nur in dem Labor, und das gleiche galt auch für etwaige Proben. Von seinen Auftraggebern ganz zu schweigen.
Um eine solche Waffe aus der Welt zu schaffen, musste man anders vorgehen. Man brauchte ein Team und Ressourcen, Beobachtung, Aufklärung und erst, wenn man alle Daten zusammen hatte, schlug man zu. Danach begann erst die eigentliche Arbeit. Ängström und die, die hinter ihm standen, hätten weiter beobachtet werden müssen, wahrscheinlich sogar über Jahre hinweg. Und auch danach hätte man, um ganz sicher zu gehen, noch jemanden einsetzen müssen, der weiterhin das Umfeld beobachtete, bis es wirklich absolut ausgeschlossen war, dass noch etwas von dem Gift übersehen worden war. Das, was Sven da begonnen hatte, war ein Job über Jahrzehnte für ein großes Team mit Ressourcen und kein Ein-Mann-Kamikaze-Unternehmen.
Christian zermarterte sich den Kopf, warum sein Vater es trotzdem getan hatte. Diese Aktion machte nur Sinn, wenn der gewusst hätte, dass das Forscherteam kurz vor einem Durchbruch gestanden hatte. Nur dann hätte er hoffen können, die Einsatzfähigkeit des Giftes um Jahre zu verzögern. Aber auch dann hätte er jemanden gebraucht, der in dem Fall, dass er bei dem Einsatz starb, ihn ersetzt und weitergemacht hätte. Hatte sein Vater Müller dafür vorgesehen? Hatte Johanna deshalb Kontakt zu ihm aufgenommen? Dazu hätte sie nicht nach Schwerin kommen müssen. Das hätte sie nicht einmal tun müssen, um ihn vom Tod seines Vaters zu unterrichten.
Nichts ergab einen Sinn für Christian. Er ging in sein Arbeitszimmer. Es war nur ein schmales Handtuch, aber er hielt sich am liebsten hier auf. Die ganze linke Wand nahm ein riesiges, übervolles Holzregal ein, das er selbst gebaut hatte. Obwohl es bis zur Decke reichte, hatte er Mühe gehabt, seine eintausendzweihunderteinundzwanzig Bücher darin unterzubringen. Sie waren weder sortiert, noch standen sie in Reih‘ und Glied. Er mochte es so. Auch auf seinem alten Eichenholzschreibtisch, einem Erbstück von seinen Urgroßeltern, war kaum noch ein freier Platz zu finden. Er war vollgestapelt mit Studienunterlagen und Zeitschriften. Sicher kein Raum, um die High Society zu empfangen, doch es war sein Bereich und er fühlte sich hier wohl.
Über der Couch an der rechten Wand hing die Fotokopie der Seekarte, die ihm sein Vater in Kühlungsborn gebracht hatte, ohne Rahmen, nur mit Stecknadeln an die Tapete gepinnt.
Er lehnte sich an seinen Schreibtisch und betrachtete sie, obwohl er jeden Pinselstrich darauf kannte. Sie war ein Geschenk seines Vaters gewesen in einer Zeit, in der Christian dringend etwas für seinen Kopf benötigt hatte, dass nichts mit Uniformen, Drill und vorgegebenem Denken zu tun gehabt hatte.
Nordenskjölds Reisebericht über die Antarktis war das erste Buch gewesen, das Christian gelesen hatte und es hatte auch seinen Wissensdurst geweckt. Nicht, dass er vorgehabt hätte, es dem großen Norweger jemals nachzumachen – im Zeitalter der Satellitenortung waren die Zeiten solcher Abenteurer für immer vorbei. Doch wie für jeden halbwegs intelligenten und in solchen Dingen furchtlosen Menschen hatte das Unbekannte eine starke Faszination für ihn und die Karte des Piri Reis war wie ein frisches Holzscheit für das Feuer seines Wissensdurstes gewesen.
Es hieß, dass der osmanische Seefahrer die Karte fünfzehnhundertdreizehn gezeichnet hatte. Er war um 1470 geboren und 1554 in Kairo geköpft worden. Ein Teil der Karte zeigte die Küste der Antarktis mit einem deutlichen grünen Rand, doch zu Zeiten von Piri Reis war die Antarktis schon seit mehr als fünftausend Jahren unter kilometerhohem Eis begraben gewesen. Außerdem wies die Karte eine sphärische Verzerrung auf, die in etwa der eines Fotos von der Erdoberfläche entsprach, das aus mehreren einhundert Kilometern Höhe aufgenommen wurde. Sie war echt und erstaunlich genau, das hatte neunzehnhundertsechzig sogar der NASA bestätigt.
Die Karte war eines der vielen ungeklärten Mysterien, mit der sich Geschichte beschäftigen sollte, es aber nicht tat und stattdessen Vermutungen lieber so lange wiederholte, bis sie jeder Dummkopf nachplapperte und glaubte. Von der Kugelgestalt der Erde wusste man frühestens seit Magellan 1519, dementsprechend hatten alle Karten bis dahin eine flache Erde dargestellt. Außerdem war die Antarktis erst im neunzehnten Jahrhundert entdeckt worden, Piri Reis hatte von der Existenz des sechsten Kontinents gar nichts wissen können und selbst wenn es Gerüchte darüber gegeben hätte – um ihre Küstenlinie ohne Eis gesehen zu haben, hätte er sechstausend Jahre alt sein müssen. Nicht nur für Christian stand fest, dass niemand auf der Erde damals hätte das Wissen haben können, um eine solche Karte zu zeichnen. Doch sie existierte, lag in Istanbul im Topkapi unter Glas und spottete seit fünfhundert Jahren jedem Erklärungsversuch.
Menschen brauchen immer für alles eine Erklärung, sie können nichts einfach hinnehmen und so rankten sich um diese Karte Deutungsversuche, die von einem simplen Zufall bis zu dem Besuch von Außerirdischen reichten. Wer vor dieser Karte stand und ihre Geschichte kannte, musste einfach über sie nachdenken. Christian machte da keine Ausnahme und er hielt seine Idee für wesentlich wahrscheinlicher als die meisten anderen.
Hochkulturen wie die Mayas, die Phönizier oder sogar die sagenhaften Atlantiden - wenn es sie denn tatsächlich gegeben hat, was er bezweifelte – waren in der Geschichte verschwunden, und zwar spurlos. Nicht ausgerottet, nicht dahingesiecht oder langsam akkulturiert, sondern verschwanden von einem Tag auf den anderen. Wären sie das nicht, hätten sie sich in dem gleichen Tempo wie der Rest der Menschheit weiterentwickelt, wären sie den Menschen heute himmelhoch überlegen gewesen, immerhin hatten sie ein paar tausend Jahre mehr Zeit dafür gehabt und das war für die Menschen die Zeit vom Eisenschwert bis zur Atombombe. Zur Zeit von Piri Reis wären sie etwa da gewesen, wo die Menschheit so um das Jahr 2500 sein würde, wenn es sie dann noch gab.
Ein Volk von Millionen kann sich jedoch nicht so einfach in Luft auflösen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, es sei denn, es hätte es mit Absicht getan und sorgfältig alle Hinweise auf seine Existenz getilgt. Es gab auf der Erde genug Orte, an denen ein ganzes Volk, vorausgesetzt, es besaß die Technik dafür, sich verstecken konnte. Die Menschheit wusste von dem, was im Dschungel des Amazonas, in der Tiefsee und in der Antarktis vorging, immer noch weniger als von der Mondoberfläche. Der Amazonasdschungel schied aus, weil die Menschen ihn früher oder später vollständig erforschen würden und die Tiefsee ebenfalls. Der gigantische Druck der kilometerhohen Wassermassen garantierte zwar, dass die Menschheit noch Jahrhunderte brauchen würde, bis sie den Meeresboden da unten wirklich erforschen konnte, aber anderseits stellte er auch jedes intelligente Leben da unten vor solche unglaublichen Herausforderungen, dass Christian sich das nicht wirklich vorstellen konnte.
Doch Menschen hatten sich schon immer gut vor Kälte schützen können und so blieb noch die Antarktis. Vor einem halben Jahr hatten russische Wissenschaftler bestätigt, dass unter ihrer Antarktisstation ‚Wostok‘ ein riesiger See existierte, der mehr als eintausend Kilometer lang und fast neunhundert Meter tief war und sie waren sich sicher, dass er nur einer von über 360 ähnlichen Seen unter dem Sockel der Antarktis war. Sie kamen nicht an ihn heran, weil er mehr als vier Kilometer unter dem ewigen Eis lag, aber sie vermuteten Protoleben darin, das viel älter als die Menschheit war.
Christian lächelte, ohne dass es ihm selbst bewusst wurde. Da wäre genug Platz, ein ganzes Volk zu verstecken. Alles, was sie brauchten zum Leben, fänden sie da unten - Bodenschätze und Wasser. Nahrungsmittel und Luft könnten sie sicher synthetisch herstellen, von Licht ganz zu schweigen. Sie hätten 1513 die Technologie haben können, Fotos aus dem All zu machen und vielleicht war eines davon Piri Reis in die Hände gefallen.
Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Bevor er „Ja“ sagen konnte, hatte Johanna sie schon geöffnet. „Ich sah noch Licht unter der Tür. Ich kann nicht schlafen.“
„Und du willst, dass ich dir ein Schlaflied singe?“
„Natürlich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Haare nach allen Seiten flogen, sich wie eine rote Flut über den weißen Bademantel bis hinab zur Hüfte ergossen und die silberne Kette mit dem leuchtenden Anhänger zwischen dem Ansatz ihrer Brüste hin und her wippte.
Sie war ihm schon beim Abendessen aufgefallen. Kein Schmuckstein, den er kannte, pulsierte gleichmäßig in einem sanften roten Licht, fast in einem Rhythmus wie sein Herzschlag.
„Schöne Kette“, sagte er.
„Ein Sternenherz. Irgendeine Modespielerei. Ich trage es, seit ich denken kann.“
Sie zog den Bademantel vor ihren Brüsten zusammen, so dass der Frotteestoff das Schmuckstück verdeckte. „Dein Vater hatte gewollt, dass du das hier bekommst.“ Sie reichte ihm ein in abgegriffenes rotes Leder eingeschlagenes Buch. „Es ist das Tagebuch von Thore Wejndahl, unserem Expeditionsleiter.“
Er nahm es, kurz berührten sich ihre Finger und er zog seine Hand zurück. „Was hat er noch gewollt?“
„Wer?“
„Mein Vater. Oder warst du es?“
„Ich verstehe nicht ...“
„Ich kann auch Müller morgen fragen, bevor ich ihm das Rattengift in den Rachen stopfe, ob mein Vater den Auftrag hatte, das Labor zu zerstören und die Leute da umzubringen. Ich müsste mich sehr täuschen, aber Müllers Antwort wird ein Nein sein. Jemand wie er vernichtet so etwas nicht, der reißt sich das unter den Nagel. Also hat jemand meinen Vater überzeugt - vielleicht sogar aus guten Gründen, die er mir aber nicht mitteilt – den Plan zu ändern. Mir fällt da nur eine Person ein. Die Gleiche, die mir immer mehr das Gefühl gibt, dass sie etwas von mir will, aber wie die Katze um den heißen Brei schleicht. Du!“
„Und der Mond ist aus grünem Käse.“
Er hinkte zum Fenster, riss die Flügel auf und sog tief die kühle Luft der Novembernacht ein. Es war kurz vor elf in der Nacht und nichts mehr los. Hier, in seiner Gegend, wurden abends die Bürgersteige hochgeklappt. Sogar die kleine Kneipe an der Ecke zur Fritz-Reuter-Straße hatte schon geschlossen. Nur auf dem Obotritenring, einige Blocks entfernt, fuhren noch ein paar Autos. Irgendwo jaulte eine verliebte Katze, eine andere antwortete ihr und aus einem großen weißen Mercedes an der Ecke zur Fritz-Reuter Straße stieg Zigarettenrauch in die Luft.
Nachdenklich, in die Nacht hinein sagte er: „Nein, er ist aus Sternenstaub. Federleicht, silberhell und er glitzert im Licht der Sonne wie das Gewand einer Märchenfee. Aber jeder Windstoß, jedes Fingerschnipsen lässt ihn auf Nimmerwiedersehen davonfliegen wie einen Traum.“
Er hörte ihre Schritte und dann so leise, dass er es kaum verstand, direkt hinter ihm ihre Worte: „Wenn du tatsächlich Angst hast, dass jeder Windstoß deinen Traum auf Nimmerwiedersehen davonfliegen lassen kann, bist du nichts weiter als ein Phantast, wie es viel zu viele gibt; eine Kopfgeburt wie die Kinder des Zeus; ein Bastard mit einem Herz aus Stein, den niemand je gewollt hat. Weil Menschen Träume voller Hoffnung brauchen; Glückstränen in Kinderaugen; heiße Herzen, Geschichtenerzähler, Liebende und jemanden, der sie beschützt. Jemanden wie dich. Dein Vater hat an dich geglaubt.“
Ganz bestimmt, dachte er. Aber garantiert nicht, dass ich den Helden geben. Helden waren immer die, die man bei ihrer Ehre und ihrem Gerechtigkeitsgefühl an den Eiern packen und ihnen einen Ring durch die Nase ziehen konnte, damit sie für andere die Kohlen aus dem Feuer holten. Für nichts weiter als den Augenaufschlag einer schönen Frau. Aber irgendwann hatte jeder sein Heldentum satt und ließ dann junge Helden an seiner statt die Kohlen aus dem Feuer holen und mauserte sich dann, eh man sich es versah, zum Tyrannen. Er wusste, dass er gut war, vielleicht sogar besser als sein Vater. Die Krücke brauchte er nur für seinen Kopf, sein Körper war stark und fit und mit entsprechendem Training und guter Vorbereitung hätte er die Arbeit seines Vaters fortsetzen können. Aber dann würde er endgültig zu der Mordmaschine werden, zu der Müller ihn hatte ausbilden lassen. Nein, den ersten Teil – das Heldentum – hatte er hinter sich. Dass der Tyrann in ihm erwachte, darauf war er nicht scharf. Manchmal bedeutete, ein Held zu sein, es nicht zu sein.
„So weit die Theorie.“ Er drehte sich zu ihr um. Hoffnung strahlte ihm aus ihrem Gesicht entgegen, gespeist von zwei grün lodernden Sonnen. Sehr nah stand sie vor ihm, doch diesmal hielt er stand. „Die Praxis sieht dann so aus, dass mein Vater tot ist, Bernard Müller jetzt für den Bundesnachrichtendienst arbeitet und ich nicht interessiert bin. Was auch immer dich hierhergeführt hat – du hast den Weg umsonst gemacht.“
Lange schaute sie ihn, als ob sie sich jeden Zentimeter seines Gesichts einprägen wollte, dann schob sich wie Wolken ein Vorhang aus Wimpern vor die brennende Glut in ihren Augen. „Ich wusste es schon vorher“, sagte sie schließlich und er hätte taub sein müssen, um das Zittern der Enttäuschung nicht im Klang ihrer Stimme zu hören. „Aber ich musste es wenigstens versuchen.“
Sie wandte sich um und ging zur Tür. „Leb wohl.“
„Du willst jetzt gehen? Mitten in der Nacht?“
„Nein. Ich bin morgen früh noch da.“
„Dann wäre ‚gute Nacht‘ passender.“
„Ich weiß. Leb wohl.“ So leise wie am Morgen schloss sie die Tür hinter sich.
Irgendwann setzte er sich und blätterte durch Thores Tagebuch, um sich abzulenken. Dessen Muttersprache war Norwegisch gewesen und auch wenn er in gut leserlichen Druckbuchstaben geschrieben hatte, so hätte es für Christian auch ebenso gut Chinesisch sein können. Er wollte es schon zur Seite legen, dann überlegte er es sich anders. Auf den beiden letzten beschriebenen Seiten waren kurze Einträge mit einer anderen Handschrift ohne Datum gemacht worden, der erste in sehr großen, unruhigen Buchstaben, der zweite Eintrag war hingegen akkurat. Trotzdem waren beide Einträge von ein und derselben Person geschrieben worden.
Neugier ist es, die jedes Murmeltier aus dem Bau treibt. Er griff nach einem Wörterbuch und übersetzte den ersten Eintrag: Mörder Sörensen; wartet zehn Stunden auf mich, nicht länger. Nicht zum Schiff zurück, andere Station suchen.
Er runzelte die Stirn und übersetzte den letzten, augenscheinlich wesentlich jüngeren, aber mit der gleichen Handschrift geschriebenen Eintrag: Der aber nach uns kommt, wird stärker sein als wir. Sein Zorn wird fürchterlich sein und mit Feuer und Schwert wird er vernichten das Monster. So es nicht geschieht in diesem Leben, wird es geschehen in seinem nächsten und es wird die Liebe sein, die ihm den Weg dahin erleuchtet.



- 15 -


Mikkelsen presste eine Hand auf sein rechtes Ohr mit dem kleinen Lautsprecher, mit der anderen zündete er sich eine Zigarette an und angewidert verzog Ängström auf dem Rücksitz des Mercedes das Gesicht. „Übermüdet oder nervös?“
Nichts davon traf zu. Mikkelsen hörte konzentriert dem zu, was in der Wohnung der Oldenburgs geschah und Ängström störte ihn dabei. Dass der persönlich nach Schwerin gekommen war, stank ihm ohnehin. Ängström war das Geld und hatte in einem Feldeinsatz nichts zu suchen; weder besaß er die Erfahrung dafür, noch machte es irgendeinen Sinn, dass er sich einem solchen Risiko aussetzte.
Leise fragte Mikkelsen Wielander auf dem Beifahrersitz „Antworten?“
„Auf die drei im Hefter? Sie werden dir nicht gefallen.“
„Wenn es die gleichen sind wie meine, brechen wir hier ab.“
„Das wird wiederum ihm nicht gefallen“, erwiderte Wielander noch leiser.
Mikkelsen zuckte die Schultern. „Ist dann so.“ Er reichte Wielander den Ohrhörer.
„Was wird mir nicht gefallen?“, raunzte Ängström von hinten.
Er konnte genauso hart blicken wie Mikkelsen und lieferte sich mit ihm ein Blickduell im Rückspiegel. Mikkelsen holte die nächste Zigarette hervor und ließ ein Zippo aufflammen. Wütend sog er am Filter und sein quadratisches Gesicht wurde so hart, als wäre es aus Stein gemeißelt.
Wielander sagte: „Sie hat uns quasi eine Einladung geschickt, dass wir das Perverdrin doch umgehend liefern möchten, damit sie ihren Job zu Ende bringen kann.“
„Können Sie ihre Gedanken lesen oder was?“
Ängström nahm das Ziertaschentuch aus seiner Brusttasche, fuhr sich kurz damit über die Lippen und lehnte sich zurück. Mikkelsen warf die Kippe halbaufgeraucht aus dem Fenster. „Was sie da in die Luftdruckwaffe in ihrer Manteltasche geladen haben, macht jeden zum Mörder. Privatmann, Regierung, Geldsack und Johanna interessiert wahrscheinlich, wie sie es verkaufen kann. Oldenburg hat versagt, in Oslo konnte sie alleine nichts mehr gegen uns machen, also sorgt sie dafür, dass Sie mit dem Zeug hier auftauchen, damit sie es in die Hände kriegt. Sie hat sich ausrechnen können, dass wir zuerst hier suchen. Es war kein Fehler von hier, sondern Bestandteil ihres Plans. Wer sagt Ihnen, dass in den Häusern rundum nicht ein ganzes Rollkommando nur auf uns wartet? Dem Jungen wird sie irgendeine Geschichte erzählt haben, oder sie hat ihm den Kopf verdreht, vielleicht sogar flach gelegt – schön genug ist sie ja dafür und er jung genug. Er geht, sie ist scheinbar alleine zu Hause und mich würde nicht wundern, wenn genau in dem Augenblick, wo wir reingehen, die Kavallerie auftaucht, uns fertigmacht und Sie einkassiert.“
Wielander ergänzte: „Oldenburg war ein Profi. Er hätte Johanna nie zu seinem Sohn geschickt. Der hat eine Ausbildung als Einzelkämpfer und wir haben nur das mitbekommen, was in seinem Arbeitszimmer gesprochen wurde. Wer sagt Ihnen, dass Sie mit ihm nicht einen Plan ausgeheckt hat, von dem wir nichts wissen?“
Böse grinste Wielander Mikkelsen an. „Aber das ist deine dritte Frage. Der worst case. Sagst du es ihm?“
Mikkelsen steckte die Hände in die Taschen seiner Lederjacke. Er wollte nicht, dass Ängström sah, wie er sie zu Fäusten ballte und es war die Wut, die ihn in ganzen Sätzen reden ließ: „Wir erklären Ihnen gerade, dass es gut möglich ist, dass sie uns verarscht. Wir wissen nicht, was da in dem Lazarett geschehen ist, aber wir wissen, dass Oldenburg noch lebt. X-44 war genau so tödlich wie Perverdrin, also ist die Frage: Wieso atmet der noch? Weil sie ein Gegenmittel besaß und es ihm gegeben hat, ist die einzig logische Antwort. Dann war sie aber viel weiter, als Ihre tollen Wissenschaftler sich das vorstellen können. Sie hat das Gegenmittel für das gefährlichste Gift der Welt, ihr fehlt nur noch das Gift selbst, dass ihr Oldenburg besorgen sollte und das liefern wir ihr gerade.“
Wielander feixte: „Er meint, dass Sie gar nicht der große Zampano sind, Mr. Ängström. Sie hängen genau so an den Fäden wie wir alle und dass es Johanna und ihre Hintermänner sind, die daran ziehen. Wir sollten uns hier vom Acker machen und zwar schneller, als eine Maus pupsen kann, um es mal nett auszudrücken.“
„Auf gar keinen Fall. Es endet hier und jetzt und wenn es so ist, wie Sie glauben, machen wir eben aus ihm eine Waffe.“
In Ängströms Gesicht waren die Wangenmuskeln so straff gespannt wie Klaviersaiten. „Da vorne kommt er aus dem Haus. Sie tun jetzt genau das, was ich sage, oder sie werden es bitter bereuen. Es ist dunkel genug, dass wir nicht allzu viel Aufsehen erregen werden. Fahren Sie los und halten Sie so, dass er an uns vorbei muss. Ich rede mit ihm, dann kommt einer von Ihnen hinzu, lenkt ihn ab und ich verpasse ihm die Ladung Perverdrin. Sollte sie tatsächlich nicht wirken, knallen Sie ihn hiermit über den Haufen.“ Er griff in seine Aktentasche und reichte Mikkelsen eine Glock 20. „Ein Privatjet hat so seine Vorteile. Ich muss Ihnen wohl nicht erklären, wie sie funktioniert. Nanu, wieso hat er eine Krücke?“
„Braucht er nicht, nicht körperlich. Posttraumatisches Stresssyndrom. Steht in der Akte.“ Mikkelsen wartete noch, bis Christan Oldenburg in die Fritz-Reuter-Straße einbog, dann ließ er den Wagen langsam anrollen. Nach knapp einhundert Schritten zog er an ihm vorbei, hielt, Ängström öffnete die Tür und stieg aus.
„Good morning, Mr. Oldenburg. I have a question.“
„And you are?“, erwiderte Christian.
„Johannes Hakonsen und die beiden Männer im Wagen sind von der Osloer Polizei.“
Christian Oldenburg bückte sich ein wenig und schaute ins Wageninnere. Der Mief von Mikkelsens Zigarette zog aus dem Fenster direkt in seine Nase. Er knurrte: „Er raucht zu viel. Hat er auch heute Nacht schon gemacht.“
Er wechselte die Krücke in die rechte Hand und umfasste sie unterhalb des Griffs. Das Lächeln in Ängströms Gesicht verschwand wie weggewischt und er sah ernst, ja fast besorgt aus. „Tatsächlich. Wir haben uns Sorgen gemacht und Ihretwegen die ganze Nacht kein Auge zugetan.“
Er nahm die linke Hand aus der Manteltasche und hielt Christian ein Foto Johannas vor die Augen. „Das ist meine Frau. Ich suche nach ihr.“
Christian sagte: „Schöne Frau. Ich würde mich an sie erinnern. Jetzt lassen Sie mich vorbei.“
Ängström rührte sich nicht. „Sie lügen. Ich will Ihnen helfen, auch wenn Sie es noch nicht verstehen.“
„Und der Mond ist aus grünem Käse. Schönen Tag noch. Machen Sie Platz oder muss ich grob werden?“
Ängström warf einen Blick über die Straße, dann machte er einen Schritt zur Seite und wies mit der linken Hand auf die geöffnete Tür. Die rechte behielt er in der Manteltasche. „Seien Sie kein Idiot. Sie sprechen sogar schon wie sie. Haben Sie schon einmal in den Spiegel geschaut heute? So sieht einer aus, dem man eine Gehirnwäsche verpasst hat. Setzen Sie sich ins Auto, damit ich wenigstens Sie noch retten kann! Sie will sie in etwas hineinziehen, dass auch Ihren Vater schon das Leben gekostet hat. Wollen Sie ihr nächstes Opfer sein?“
Mikkelsen stieg aus und kam um den Wagen herum. „Du solltest ihm glauben, Junge. Ich bin von der Osloer Kriminalpolizei“, sagte er und streckte den Arm aus, als wollte er die Hand reichen. Es war der rechte, der gleiche, an dem er auch die Armbanduhr trug. Man hatte Christian Oldenburg beigebracht, auf Kleinigkeiten zu achten, angespannt war er ohnehin und als Mikkelsens seinen linken Haken abschoss, war er schon in Bewegung, drehte sich zur Seite und rammte ihm seine Faust in den Magen. Es war ein antrainierter Reflex gewesen, er hatte dazu nicht denken müssen und Mikkelsen klappte zusammen wie ein Taschenmesser.
Christian Oldenburg fuhr herum zu Ängström, doch in der halben Sekunde, in der er abgelenkt gewesen war, hatte Ängström die Luftdruckpistole aus der Tasche gerissen. Er feuerte, der Pfeil bohrte sich in Christians Oldenburgs Hals, durchschlug die Haut, entleerte sein Gift in dessen Blutbahn und blockierte augenblicklich jeden Nervenstrang, der hätte einen Befehl an die Muskeln weiterleiten können.
Ängström trat ganz nah an ihn heran, fasste mit einer behandschuhten Hand nach dem Kinn von Christian Oldenburg und drehte seinen Kopf so, dass der ihm in die Augen schauen musste. „Setz dich ins Auto!“, befahl er.
Mikkelsen kämpfte darum, sein Frühstück nicht auf dem Pflaster zu verteilen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelte er sich auf, hielt den beiden Frauen, die erschrocken stehengeblieben waren, eine Blechmarke vors Gesicht und knurrte: „Policedepartment. Go away, please!“ Ächzend ließ er sich auf den Fahrersitz fallen, startete und fädelte sich in den Verkehr ein. Er fuhr nur bis in die nächste Seitenstraße, parkte nur halb ein, riss die Tür wieder auf und erbrach sich.
„Diese Drecksau ... dachte, mich hat eine Dampframme getroffen“, röchelte er. Er richtete sich stöhnend wieder auf, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und schloss die Fahrertür.
Mit mokiertem Gesicht reichte ihm Ängström ein Taschentuch nach vorne. „Machen Sie sich sauber. Sie stinken.“
„Wie viel haben Sie ihm gegeben?“, fragte Mikkelsen und reinigte sich die Jacke.
„Dreißig Minuten, höchstens“, erwiderte Ängström.
Wielander wurde bleich. „Sind Sie wahnsinnig?“
„Entspannen Sie sich. Ich habe alles unter Kontrolle. Es ist wie Fahrradfahren. Orstchov hat hervorragende Arbeit geleistet. Er hat es mir gezeigt.“
„Wie einer, der die Gebrauchsanweisung von einem Jumbo gelesen hat und denkt, jetzt kann er Schwerlasten in die Staaten fliegen.“
„Aufhören, sofort!“
Mikkelsens Zischen stoppte den beginnenden Streit. Er justierte den Rückspiegel auf Christian Oldenburg. Aufmerksam und seltsam intelligent schauten dessen Augen, das Gesicht zeigte keinerlei Emotion. Was sechsundzwanzig Jahre daraus geleuchtet hatte - Perverdrin hatte es mit einem Schlag ausgelöscht und durch etwas Undefinierbares ersetzt, das ihn jetzt kontrollierte. Es war nicht zu sehen, nicht einmal zu fühlen, aber der kalte Blick aus dessen Augen ließ Mikkelsen frösteln.
Ängström hatte befohlen: „Aufrecht hinsetzen“, Christian Oldenburg hatte es getan und sich seit diesem Moment nicht mehr bewegt. Mikkelsen wusste, dass der es auch erst dann tun würde, wenn Ängström es ihm sagte. Oder wenn der innere Count-down auf null heruntergelaufen war und das Perverdrin ihn von innen zerriss.
Mikkelsen fragte: „Bekommt er eigentlich etwas mit?“
„Alles.“ Ängström nickte. „Sogar mehr als wir. Er riecht Olafs Angstschweiß, sieht wie Sie die Hand ums Lenkrad krampfen, Ryland; analysiert jede Schwankung in der Stimme und vergisst bis zu seinem Tod nichts mehr davon und weil er keine Gefühle hat, schreibt sein Unterbewusstsein es auch nicht für seine Erinnerung um. Ja, er bekommt alles mit. Es nutzt ihm nur nichts mehr.“
Sie sprachen kein Wort mehr, bis aus dem linken Augenwinkel von Christian Oldenburg ein erster Blutstropfen rann. Mikkelsen schnippte seine Kippe aus dem Fenster und Ängström sagte: „Es geht los.“
Er öffnete die Tür, verließ den Wagen, reckte sich, blickte sich um und nickte einem vorbeikommenden Paar freundlich zu. Dann beugte er sich wieder ins Innere und sagte: „Jetzt geh nach Hause und töte Johanna.“
Christian Oldenburg stieg aus und wie er das tat, ließ Mikkelsen die Hände um das Lenkrad krampfen. Eben hatte der noch gesessen, im nächsten Moment war er schon auf dem Weg mit gefühlten null Zehntelsekunden Reaktionszeit auf Ängströms Kommando. Der Reeder setzte sich wieder auf den Rücksitz. „Nur die Ruhe.“
Mikkelsen ließ den Wagen anrollen, folgte Christian Oldenburg mit Abstand bis zur Ecke Fritz-Reuter-Straße und Sandstraße und wieder überlief ihn ein stilles Grauen. Er sah ihn nur von hinten, doch die Art, wie der sich plötzlich kraftvoll und ohne jedes Hinken bewegte, lag eine nicht einmal allzu subtile Drohung und Mikkelsen hätte sich ihm jetzt um nichts in der Welt mehr in den Weg gestellt. Ohne Zögern öffnete Christian Oldenburg seine Haustür, verschwand dahinter und Ängström sagte: „In einer viertel Stunde geht einer von Ihnen nachsehen. Ich will mir sicher sein.“
Sein Gesicht sah so zufrieden aus, als hätte er eine gute Tat vollbracht und nicht gerade einen bestialischen Doppelmord in die Wege geleitet.
„Was für ein krankes Gehirn brütet so etwas aus?“
Es war Wielander, der das sagte und Ängström fauchte: „Vergessen Sie nicht, wer Sie bezahlt! Ausgerechnet Sie müssen das sagen.“
Mikkelsen schüttelte den Kopf. „Sie nicht. Die Eierköpfe.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“
Ängström entfernte einen Staubfussel von seiner grauen Anzughose und summte: „Dass ich erkenne, was die Welt … im Innersten zusammenhält.“
Er war höchst zufrieden mit sich, lächelte breit, schlug die Beine übereinander - was auf der Rückbank nicht einfach war - und ließ sich dann zu einer Erklärung herab.
„Ein bisschen klassische Bildung würde Ihnen guttun. Wie Doktor Faustus wollte dieser Russe damals etwas Gutes schaffen. Er wollte den Menschen besser machen, ihm seine volle Gehirnkapazität geben, schnellere Selbstheilung und so weiter. Alles für den kommunistischen, den besseren Menschen. Kennen Sie vielleicht aus schlechten Filmen. Er stieß dabei auf ein paar Schwierigkeiten, die auch bis heute nicht beseitigt werden konnten. Eine davon ist der Kollaps kurz vor Wirkungsende, bei dem das Opfer zu einem blutrünstigen Tier wird und alles zerfleischt, was ihm in die Krallen kommt. Wie Faust hat er sich auf einen Deal mit dem Teufel eingelassen – dem russischen Militär. Ein typisches Problem der meisten Eierköpfe - sie wollen das Universum erforschen, aber wie die Welt funktioniert, blenden sie aus, damit sie hinterher sagen können: Sorry, wie sollte ich wissen, dass jemand mit meinem Hammer Köpfe einschlagen will. Nehmen Sie nur den guten Einstein, er war das größte dumme Genie, das die Welt je gesehen hat. Ohne ihn hätten wir nie die Atombombe gehabt. Oder der … Hören Sie mir überhaupt zu?“
„Reden Sie meinetwegen weiter, aber machen Sie keine heftigen Bewegungen.“, knurrte Mikkelsen.
In die Sandstraße war ein silbergrauer Kombi eingebogen und so langsam gefahren, als würde der Fahrer etwas suchen und hatte direkt vor dem Haus Christian Oldenburgs gehalten.
Ängström beugte sich nach vorne. „Was …“
Mit einem kurzen Ruck aus der Schulter knallte Mikkelsen ihm seinen Ellenbogen aufs Schlüsselbein. „Nicht bewegen, habe ich gesagt!“
Ein Mann mit Hut stieg aus. Er trat auf den Gehweg und blickte sich um. Wielander rutschte langsam tiefer, holte den Feldstecher unter dem Sitz hervor und richtete ihn an der Türsäule vorbei auf den Mann. Nach ein Paar Sekunden murmelte er: „Hol mal die Unterlagen von Oldenburg aus dem Handschuhfach. Du hast gestern Nachmittag doch Fotos in dem Archiv geklaut.“
Der Mann blickte an der Fassade des Hauses empor, noch einmal die Straße entlang, auch dahin, wo sie parkten, dann ging er ins Haus. Wielander blieb tief unten sitzen, schaute auf die Bilder in dem Ordner, den ihm Mikkelsen auf die Knie gelegt hatte und sagte: „Fuck! Das ist Bernard Müller.“
Auf einmal ergab alles Sinn für Mikkelsen, und am liebsten hätte er laut geflucht wie Wielander. Auch wenn sie den Arbeitgeber gewechselt hatten, waren sie immer noch Kriminalisten und dazu gehörte, dass sie ihre Hausaufgaben machten. Eine davon war gewesen, zu überlegen, wer der mögliche Auftraggeber von Sven Oldenburg und damit auch Johannas gewesen sein konnte. Sehr groß war der Kreis der Verdächtigen nicht gewesen und dieser Name hatte ganz oben auf der Liste gestanden.
Mikkelsen biss die Zähne fest aufeinander und Wielander übernahm die Erklärung: „Wir sind gerade mit Badehose, verbundenen Augen und Zahnfleischbluten in einen Tümpel mit hungrigen Krokodilen getrampelt. Das ist Oberst Bernard Müller. Das einzige Foto von ihm wurde 1986 in Finnland vor der Botschaft der DDR aufgenommen. Ein Jahr vor der Wiedervereinigung ist er spurlos verschwunden. Sein direkter Chef war Markus Johannes Wolf, besser bekannt als ‚Mischa‘, Chef der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit und Albtraum aller westlichen Geheimdienste.“
„Na und? Die DDR gibt es nicht mehr“, konterte Ängström.
„Wen interessiert das?“ Wielander schnaubte. „Solche Leute leben in ihrer eigenen Welt, ohne Ländergrenzen und mit eigenen Regeln, genau wie Topagenten. Regierungen und deren Wechsel interessieren sie nicht, die haben nicht die Macht über sie. Wir haben uns gerade mit einem Netzwerk angelegt, für das Ihre Millionen nur Peanuts sind.“
Ängström blickte auf seine Uhr. „Wenn schon. Es spielt keine Rolle mehr. Er ist zu spät gekommen. Oldenburg und Johanna sind seit fünf Minuten tot, es gibt keine Spuren und wir sind verschwunden.“
Wielander schüttelte so heftig den Kopf, dass sein gegelter Haarschopf durcheinander kam. „Der Mann hört uns nicht zu. Meinen Sie, dieser Müller ist nur mal zum Frühstück vorbeigekommen? Sie sind doch so ein Gebildeter. Da haben Sie bestimmt auch was von der Geschichte vom Hasen und dem Igel gehört. Egal, was wir gemacht haben - wir wissen jetzt, dass Johanna uns immer einen Zug voraus war. Was bringt Sie auf die Kackidee, dass es jetzt anders ist?“
Ängström verkniff die Lippen zu einem schmalen Strich. Er dachte nach, und je mehr er das tat, umso bleicher wurde er.
Wielander drehte sich wieder nach vorn. „Er sieht aus, als wäre ihm gerade eine Ratte ins Genick gesprungen.“
Mikkelsen knurrte: „Uns, und ihr Kosename ist Johanna.“ Dann wurde er steif. „Was war das?“
Wielander hatte es auch gehört. „Ein Schuss?“
Beide blickten sich an. Diskutieren mussten sie keine Sekunde, dazu arbeiteten sie schon zu lange zusammen.
Mikkelsen sagte: „Ich gehe über das Baugerüst.“
Wielander nickte. „Ich pass auf den Anzugträger auf.“

Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis Mikkelsen zurückkehrte. Er war grün im Gesicht und etwas war darin, dass sogar Ängström schweigen ließ.
Wortlos startete Mikkelsen den Wagen, fädelte sich in den Verkehr ein, nahm den Obotritenring und dann die Richtung zur Autobahn. Auf der Bundesstraße 321 steckte er sich eine Zigarette in den Mund, ließ sich von Wielander Feuer geben, nahm ein paar Züge, dann warf er sie mit angewidertem Gesicht aus dem Fenster.
„Johanna ist tot“, sagte er und blickte nach vorne. „Ist kein schöner Anblick. Der Mann war tatsächlich Müller. Er wurde mit seiner eigenen Waffe erschossen. Ins linke Ohr. Hinterher. Das Schlafzimmerfenster war offen. Oldenburg muss vor mir über das Baugerüst verschwunden sein.“
Ängström wurde kreidebleich. „Aber das ist unmöglich. Er muss ...“
„... immun sein.“ Mikkelsen griff wieder nach einer Zigarette. „Auf alle Fälle hat er den finalen Anfall überlebt und war kurz danach klar genug, einem Oberst der Stasi seine Waffe abzunehmen und ihn abzuknallen. Was zu beweisen war. Danke Johanna.“ Unangezündet warf er die Kippe aus dem Fenster. „Wir sind raus. Wir haben eine Firma, um die wir uns kümmern müssen. In der Antarktis.“
„Aber ...“
Wielander lehnte einen Arm über die Rückenlehne. „Sie verstehen es wirklich nicht, oder? Wir haben gerade eine hocheffiziente Tötungsmaschine auf die Welt losgelassen, von der keiner voraussagen kann, wie sie tickt! Einem bestens ausgebildeten Killer auch noch Nitromethan in den Tank geschüttet und keiner Ihrer Wissenschaftler hat sich je mit der Frage beschäftigt, wozu einer fähig ist, der das Zeug überlebt hat. Weiß der Teufel, was er jetzt tun wird.“
„Wir müssen ihn finden, um jeden Preis. Er ist ... ist ...“ Ängström verhaspelte sich vor Aufregung. „Er ist genau der, den wir haben wollen. Er hat die Schranke durchbrochen! Wir müssen ihn haben, unbedingt!“
Wielander blickte Mikkelsen an. „Er hats wirklich nicht kapiert.“
„Hat er nicht.“ Mikkelsen warf einen Blick in den Rückspiegel auf das Gesicht Ängströms. „Wir brauchen ihn nicht finden.“
„Ach, und wie so nicht?“
Mikkelsen knurrte: „Weil er uns finden wird. Dann will ich irgendwo sein, wo ich ihn kommen sehe und eine Zwanzigmillimeter-Maschinenkanone habe. Mindestens.“

Detlev Bencke hatte seit acht Stunden nichts mehr gegessen und hatte trotzdem das Gefühl, niemals wieder Hunger haben zu können. Sein Frühstück hatte er heute Morgen auf den Parkettfußboden in einer Küche in der Sandstraße erbrochen und er war nicht der Einzige gewesen. Er packte alles, was zu dem Fall gehörte, in eine braune Papiertasche, sogar seine privaten Aufzeichnungen, die er mit zitternden Händen gemacht hatte und die kaum jemand würde entziffern können. Gerade war er informiert worden, dass der Bundesnachrichtendienst den Fall übernehmen würde.
Das Telefon klingelte, er nahm ab, lauschte und sagte dann: „Danke. Gut, dann schicken Sie die Fahndung raus.“
Martin Wassmann hatte am Fenster gestanden und hinausgeschaut. Jetzt drehte er sich um. „Du weißt, dass du das nicht darfst, oder? Wir sollen nichts unternehmen. Große Politik.“
„Ja. Große Scheiße. Die Wohnung sah aus, als hätte da drin eine Abrissbirne gewütet.“
Die beiden Männer schauten sich an und jeder sah in den Augen des anderen die gleiche fürchterliche Wut. Bencke griff nach dem letzten Tatortfoto. Er hätte es in die braune Tüte packen müssen, doch er behielt es in der Hand. Eine Träne tropfte aus seinem Augenwinkel darauf. Er wischte sie fort. Obwohl er es nicht durfte, legte er es in seine Schreibtischschublade. „Die Spurenanalyse ist eindeutig. Ich habe in dreißig Jahren Dienst nie einen Menschen erschießen müssen und ich bin froh darüber. Er hat schon drei Morde auf seinem Konto und ich verstehe nicht, wieso man ihn hat frei rumlaufen lassen. Aber das kriege ich auch noch raus. Und eins sage ich dir: Wenn wir ihn finden – und das werden wir – erschieße ich ihn und kann danach gut schlafen. Das ist kein Mensch mehr. Das ist eine kranke Bestie.“
Erneut klingelte das Telefon, Bencke nahm ab, sagte: „Schicken sie ihn rein“, und legte wieder auf.
Wassmann fragte: „Etwas Neues?“
Behnke schüttelte den Kopf. „Nein. Der Mann vom BND ist da.“
Es klopfte und bevor er „Herein!“, sagen konnte, wurde schon die Tür geöffnet. Ein sehr jung wirkender, schlanker Mann in Turnschuhen und Kapuzenshirt kam herein, nickte den beiden Beamten zu und sagte: „Ich bin Borg. Sie haben etwas für mich.“

*** Ende des Buches 1 ***
 
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