Von der Meinungsfreiheit(Sonettenkranz)

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sufnus

Mitglied
Die Form ist ein Sonett aber der Inhalt liest sich wie ein politischer Aufsatz. Für mich stehen sich Inhalt und Form gegenseitig im Wege.

Du formulierst präzise Statements: Wenn keiner mehr laut widerspricht, dann nur Einheitsbrei. Für einen Aufsatz wäre das ein Qualitätsmerkmal. Von einem Gedicht erhoffe ich mir etwas anderes. Das soll Verstand und Fantasie anregen, selber aktiv zu werden. Es soll etwas erhellen, was durch bloße Sachbeschreibung im Dunkel bliebe. Sowas fehlt mir hier ganz. Für mich sagt dein Text nur, was schwarz auf weiß geschrieben steht, nicht mehr. Das ist für ein Gedicht sehr wenig.

Auch die durch die Form bedingte Länge tut dem Text nach meiner Meinung nicht gut. Es wiederholt sich der im Grunde immer gleiche Gedanke.
Hey lietzensee!
Du hast - aus meiner Sicht - mit allem, was Du da sagst, vollkommen recht und liegst in der Schlussfolgerung völlig daneben. ;)

Der Zwinkersmiley zeigt dabei hoffentlich deutlich genug, dass diese meine Indenstaubtretung Deiner Schlussfolgerung eine der freundlich-neckend-friedlichen Art ist. Tatsächlich war Deine Analyse nämlich überaus lese-erfreulich und anregend und erhebend für mich. :)

Ich hab weiter oben ja schon weitschweifig auf eine (scheinbare) Diskrepanz hingewiesen zwischen der (ggf. relativ prägnant umschreibbaren) "Message" von Agnetes Sonettenkranz und dem gewaltigen technisch-formalen Aufwand, der nötig ist, um 14 Sonette so zu komponieren, dass 1) die jeweils letzte Zeile eines Sonetts die erste des folgenden bildet und die letzte Zeile des letzten Sonettes wiederum der ersten des ersten entspricht (können alle noch folgen?) und dass 2) Diese jeweils ersten und letzten Zeilen dann wiederum ein 15. Sonett, das Meistersonett, ergeben.

Diese Diskrepanz ist aber hier gerade der Kniff, denn dadurch wird die eigentlich Message in gewisser Weise den üblichen Diskursformaten (ob Stammtisch, Talk-Show oder Dikussionsseminar) enthoben. Vielleicht wäre das am besten nachvollziehbar, wenn ein(e) Vortragsprofi (hä? wie ist denn die weibliche Form von Profi?) diesen Kranz einsprechen würde und man ihn sich dann an mit geschlossenen Augen anhörte.
Das wahrscheinlichste Outcome: Man schläft ein und Menschenskindnochmal, ist man danach aber gut ausgeschlafen! Die andere Möglichkeit: Es ergibt sich eine leicht ins Meditative spielende Tiefenentspannung (letztlich sind die Endergebnisse also gar nicht so unähnlich).

Worum es mir geht: Der gleichmäßige Rhythmus, die wiederkehrenden Wendungen, die Endreime, das entspricht in vielerlei Hinsicht einem rituellen Reden und das ist ja womöglich einer der wesentlichen Ursprünge der Lyrik überhaupt. Das vielleicht schönste und gültigste aller Liebesgedichte steht ja entsprechend auch in der Bibel und hat ein deutlich sakrales Gepräge, erinnert an alte Fruchtbarkeitshymnen. Ich meine das Hohelied. Und auch hier haben wir ja diese ständigen, gleichsam um sich selbst kreisenden Wiederholungen ("Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben / Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig, ja, unser Lager ist frisches Grün.").

Warum hat aber nun der Wortzauber von Agnetes Kranz bei Dir nicht "gezündet", lietze? Vermutlich (und in sofern hast Du in Deinem obigen Statement ja fast richtig gelegen) weil Du beim Lesen versucht hast, der "Message" auf der Spur zu bleiben und darüber hast Du sozusagen die Abfahrt verpasst, bei der dieser lange Text in den wortmagischen Bereich abbiegt. Wer von Lyrik einen "Mehrwert" fordert, der über das explizit Gesagte hinausgeht (ich unterstüzte diese Forderung vorbehaltlos), der ist dann irgendwann etwas frustriert.

Dieses, sozusagen, "Missverständnis" liegt natürlich auch daran, dass Agnetes Text sich eines klassischen "hohen Tons" weitgehend enthält und auf diese Weise durchaus dazu verführt, die Sonette als nüchterne Analyse zu lesen. Das ist schon beinahe ein bisschen abgründig: Sprachkunst tarnt sich als Analyse, die sich als Sprachkunst tarnt. :)

LG!

S.


P.S.:
@Agnete : Wirklich schön, Dich hier wiederlesen zu können! :) Freue mich auf viel Weiteres! :)
 

sufnus

Mitglied
Von einem Gedicht erhoffe ich mir etwas anderes. Das soll Verstand und Fantasie anregen, selber aktiv zu werden.
Lieber Lietzensee,

die Hoffnung ehrt Dich - soetwas zu erwarten - aber realistisch erscheint mir das nicht.
Wenn man z.B. Naturgedichte nimmt, die mit zu den schönsten zählen (für mich), da ist das doch eine recht geschlossene Veranstaltung - natürlich wird die Vorstellung angesprochen und das Nachempfinden, aber die Phantasie? Und aktiv werden? - höchstens der Impuls, sofort in den Wald zu fahren ...
Hast Du eine konkrete Vorstellung?
Ich würde Dein Empfinden gerne nachvollziehen können.
Hey Petra & Lietze,
mich würde es hier auch interessieren, was unter "selber aktiv zu werden" zu verstehen ist. Ich hab Deine Äußerung, @lietzensee , so aufgefasst, dass durch ein Gedicht (zunächst mal) Verstand & Fantasie aktiv(iert) werden sollen, dass aber ein auch physisches Aktivwerden der Gesamttateinheit des Rezipienten nicht zwingend nötig ist. Wenn ich da richtig liege (läge?), müsste ein Naturgedicht also nicht, wie Petra das klarstellungshalber postuliert hat, zu einem tatsächlichen Waldspaziergang führen, sondern es reichte aus, wenn es zum Nachdenken (Verstand) oder Nachfühlen (Fantasie) über ein Waldthema (quasi musikalisch gesprochen) anregt.
LG!
S.
 

Agnete

Mitglied
Suf, echt jetzt, schnüffs... du hast es so perfekt analysiert, dass es schon beinah rührend ist...;)
LG an euch drei von Agnete
 

mondnein

Mitglied
Ein Problem bei Sonettenkränzen kann sich auch dadurch ergeben, daß der Dichter sich genötigt fühlt, "beim Thema zu bleiben".
Aber ich kehre zum Vergleich mit der Sonatenhauptsatzform in den Sinfonien und Klavierkonzerten zurück. Man stelle sich vor, das Hauptthema des ersten Satzes müßte im zweiten und dritten Satz wiedergekäut werden. Oder man nehme sich Bruckner und Mahler vor: das immer neue Abschweifen in ungeahnte Abseitswelten, nicht formlos, aber sehr weit ausgreifend. Davon sind wir doch weit entfernt. ich habe in den letzten Jahren ein paar dutzend Male versucht, gerade innerhalb des großen Bogens der Sonettenkränze die Form so extrem aufzubrechen, daß ich zum Schluß gewissermaßen von den Schweineställen ins väterliche Zuhause zurückgelaufen bin, wie der verlorene Sohn. Etwa im mittleren Bereich durch den Wechsel von langversigen zu extrem verkürzten Zeilen, wo z.B. ein Quartett in zwei und ein Terzett in eine Zeile paßt. Oder eine drastische Dekomposition, bevor man mit dem sogenannten Meistersonett wieder den Harmlosen spielt. Es kann einen besonderen Witz haben, in der Mitte "mal was ganz Anderes" zu machen als im scheinbar thematischen Beginn. Ein Möbiusband statt eines Fahradreifens.

grusz, hansz
 
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mondnein

Mitglied
siehe auch die Formdiskussion zum "Sonett" hier oben in dieser Rubrik "Feste Formen", #17
das ist dort der vorletzte, ganz unten:

 
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Agnete

Mitglied
Mondnein,

ich mag sie so wie sie sind. Experimentieren am Sonett ist nicht meins. dennoch ist es ja gerade der Vorzug, den ein Dichtender genießt, dass er ausprobieren kann, was er möchte. Jeder seinen Stil ausfeilen kann., Warum nicht. der Dichter ist frei. ;)
 

lietzensee

Mitglied
Hallo zusammen
Ich würde Dein Empfinden gerne nachvollziehen können.
Hallo Petra,
bei diesen Sätzen hier hatte ich wohl nicht gut formuliert: " Von einem Gedicht erhoffe ich mir etwas anderes. Das soll Verstand und Fantasie anregen, selber aktiv zu werden. "
Das selber aktiv werden bezog sich auf Verstand und Fantasie. Zum Beispiel soll ein Natur-Gedicht mir nicht nur eine ansprechende Schilderung von Bäumen liefern. Es soll - im Sinne des Sprichworts- mir durch die Bäume einen Wald zeigen. Den Wald zu finden, ist dann hehre Aufgabe von Verstand und Fantasie.

Und diese Aufgabe fehlt mir in dem Gedicht: "Wenn Menschen ihre Meinungen verschlucken, verschweigen, um am Pranger nicht zu stehen, dann werden Kinder lernen, sich zu ducken und Diskussionen aus dem Weg zu gehen. " Hier ist alles gesagt. Verstand und Fantasie bleibt nichts mehr zu tun.

Mit politische Gedichten mehr als nur einzelne Bäume zu zeigen, ist meiner Meinung nach besonders schwer. Darum gefallen mir nur wenige. Irgend jemand hatte hier im Thread die schlesischen Weber erwähnt. Das Gedicht macht auch recht konkrete Aussagen/Flüche. Aber es bietet meiner Meinung nach mehr. Einmal erzählt es eine Geschichte mit interessanten Protagonisten. Außerdem ist die Metapher des Webens sehr weit gespannt. Man kann die Fantasie spielen lassen, wie der Webprozess und das Gewebe wohl aussehen mögen.


Du hast - aus meiner Sicht - mit allem, was Du da sagst, vollkommen recht und liegst in der Schlussfolgerung völlig daneben
Hallo Sufnus, schade, ich hatte gehofft, dass es anders herum wäre. ;)
Wie bereits geschrieben, ich denke ich verstehe die technische Leistung von so einem Kranz. Ich zweifle nur, dass sich das Material zum winden eignet. Wobei ich zugebe, dass ich die Gepflogenheiten bei Sonett Kränzen nicht kenne. Ist was mich stört vielleicht typisch für diese Form?

weil Du beim Lesen versucht hast, der "Message" auf der Spur zu bleiben und darüber hast Du sozusagen die Abfahrt verpasst, bei der dieser lange Text in den wortmagischen Bereich abbiegt.
Wortmagie habe ich hier tatsächlich nicht gelesen. Ich hatte den Eindruck, dass es Agnete um die einzelnen Aussagen selbst geht und nicht darum, den Leser meditativ in den Schlaf zu versetzen. Vielleicht kannst du, Agenete, ja kurz was dazu sagen.

Und auch hier haben wir ja diese ständigen, gleichsam um sich selbst kreisenden Wiederholungen ("Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben / Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig, ja, unser Lager ist frisches Grün.").
Ich verstehe, was du hier mit den Wiederholungen meinst. Ich nenne das in der Prosa gerne Leitmotiv. Aber gerade diese strukturgebenden Wiederholungen sehe ich in dem Kranz nicht. Die Aussage ist für mich immer die selbe. Aber die Worte variieren ständig. Bzw, wo siehst du die Wiederholungen in Agnes Gedicht?

So, die Mittagspause ist zu ende und ich hoffe, ich konnte etwas genauer erklären, worum es mir geht.

Viele Grüße
lietzensee
 
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Agnete

Mitglied
ich denke, das "Kreisen" um das Leitmotiv, das ist kein schlechter Begriff, ist eben typisch für einen Kranz. Nicht umsonst heißt er ja Kranz, also etwas, was sich in sich selbst schließt und letztendlich bestätigt.
Es ist vielleicht einfach nicht dein Genre, Lietzensee. Ich denke, es ist mir hier gut gelungen, den Anforderungen eines Kranzes gerecht zu werden. Ohne sich sprachlich zu wiederholen, ohne langweilig zu werden.
Vielleicht muss man es eben auch einfach mögen. :)
Ich finde es jedenfalls toll, dass sich hier so eine gute und faire Diskussion entwickelt hat. Denn letztlich möchte ich ja damit zum Nachdenken anregen. Und das ist mir offensichtlich gelungen.
Ich danke euch für euer Interesse und eure Empfehlungen. Sie freuen mich. legen die Messlatte aber für mich auch hoch. Ich werde mich bemühen. Hoffe, ansprechende Verse aus dem Urlaub mitzubringen. Bald geht es los. Der kleine Fischerort inspiriert immer sehr. lG von Agnete
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Agnete,
vielen Dank für deine Antwort.

ist eben typisch für einen Kranz. Nicht umsonst heißt er ja Kranz, also etwas, was sich in sich selbst schließt und letztendlich bestätigt.
Ok, das verstehe ich. In dem Sinne ist das vielfache Variieren der gleichen Sentenz dann der richtige Inhalt für diese Form.


Denn letztlich möchte ich ja damit zum Nachdenken anregen.
Meiner Meinung nach schafft das der Text eben nicht. Er reiht fertige Thesen aneinander, zu denen man als Leser beifällig nickt oder halt nicht. Wobei der Text einem die Arbeit der Zustimmung /Ablehnung eigentlich auch schon abnimmt. Wer möchte denn Marionette oder Petze sein? Eine textimmanente Aufforderung zum Nachdenken kann ich nicht erkennen. Er zielt nach meinem Eindruck eher ab auf ein "jenau so isses! "
Was mir fehlt, hatte ich schon in meiner Antwort an Petra versucht herauszuarbeiten.

Vielleicht muss man es eben auch einfach mögen. :)
Ja, kein Text kann allen gefallen. Bzw sind die Texte die den meisten gefallen oft am langweiligsten. Von meiner Seite ist jetzt auch alles gesagt. In dem Sinne wünsche ich einen schönen Urlaub und produktives Verse schmieden.

Viele Grüße
lietzensee
 

sufnus

Mitglied
das ist jetzt aber tatsächlich nicht sehr nett.:oops:Ich kann dem nicht zustimmen. Und ich denke, damit sollten wir es gut sein lassen, Lietzensee.
Hey Agnete,
gegenüber Deinem Kranz war die Aussage von lietze m. E. aber eigentlich schon nett. Vielleicht hast Du ihn missverstanden?

Was er, so denke ich, zum Ausdruck gebracht hat (wenn ich ihn nicht missverstanden habe ;) ), war, dass Texte, bei denen kein Leser (oder zumindest kaum ein Leser) sich unabgeholt fühlt, wohl solche Texte sind, die es jedem rechtmachen (wollen) und die dadurch zwar vielleicht kein Aneck-Potential besitzen, aber eben auch etwas langweilig sind.
Indem lietze bei Deinem Kranz nicht so richtig mitgehen kann, diagnostiziert er in diesem Fall einen Text, der sich nicht bei jedem Leser "einschmeicheln" will (z. B. bei eben nicht bei lietze) und der deshalb offenkundig gerade nicht langweilig ist. :)
So hab ichs jedenfalls verstanden.
LG!
S.
 

lietzensee

Mitglied
das ist jetzt aber tatsächlich nicht sehr nett.
Hallo Agnete, das war wirklich nicht als Spitze gegen deinen Text gemeint. Es stut mir leid, wenn das so rüber gekommen war. Wenn ich ihn noch mal lese, klingt mein Kommentar wirklich zweideutig.
Ich hatte hier allgemein an Wohlfühltexte gedacht, von denen sich jeder irgendwie angesprochen fühlt. Als langweilig würde deinen Kranz auch auf gar keinen Fall bezeichnen.

Viele Grüße
lietzensee
 

Agnete

Mitglied
danke Suf, ja, manchmal kommt geschrieben e:)twas anders rüber. Schön, dann haben wir das ja geklärt. Nicht verkehrt, dass du noch mal drauf eingegangen bist, Lietzensee. Alles gut.;)
LG von Agnete
 

mondnein

Mitglied
In dem Sinne ist das vielfache Variieren der gleichen Sentenz dann der richtige Inhalt für diese Form
und das dann noch 14 zum Quadrat, =14 x14, = 140 + 56, = 196 immer schön gleichlange, starr metrisch links-rechts im Gleichschritt marschierende Verszeilen lang?

Da kommt der Psalm 119 mit seinen 176 Parallelismen, d.h. 176 mal hintereinander 176 mal variiert die 176 mal immer neu formulierte 176 mal immergleiche Aussage, kaum ran, es sei denn, man spaltet seine Doppelverse auf: macht 176 x 2 = 352 Halbverse.

echt spannend,
grusz, hansz
 

Scal

Mitglied
Ach Buchdruck, du fehlst mir hier!
Alle Achtung!

Dass das Werk so manchem Arguswellchen zur Geburt verhelfen wird, wusste die Dichterin, darf ich annehmen.
"Echte Individualisten", die eine angeborene Skepsis gegen jede Art von Gruppe haben . egal, was die Gruppe vertritt, waren immer selten. Heute noch seltener. ;) Es gibt keine Schublade, in die sie passen, auch, wenn man noch so drückt
Tut gut, das zu lesen. Sehr gut.

LG
 



 
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