-
Empfohlener Beitrag
- #41
Hey lietzensee!Die Form ist ein Sonett aber der Inhalt liest sich wie ein politischer Aufsatz. Für mich stehen sich Inhalt und Form gegenseitig im Wege.
Du formulierst präzise Statements: Wenn keiner mehr laut widerspricht, dann nur Einheitsbrei. Für einen Aufsatz wäre das ein Qualitätsmerkmal. Von einem Gedicht erhoffe ich mir etwas anderes. Das soll Verstand und Fantasie anregen, selber aktiv zu werden. Es soll etwas erhellen, was durch bloße Sachbeschreibung im Dunkel bliebe. Sowas fehlt mir hier ganz. Für mich sagt dein Text nur, was schwarz auf weiß geschrieben steht, nicht mehr. Das ist für ein Gedicht sehr wenig.
Auch die durch die Form bedingte Länge tut dem Text nach meiner Meinung nicht gut. Es wiederholt sich der im Grunde immer gleiche Gedanke.
Du hast - aus meiner Sicht - mit allem, was Du da sagst, vollkommen recht und liegst in der Schlussfolgerung völlig daneben.
Der Zwinkersmiley zeigt dabei hoffentlich deutlich genug, dass diese meine Indenstaubtretung Deiner Schlussfolgerung eine der freundlich-neckend-friedlichen Art ist. Tatsächlich war Deine Analyse nämlich überaus lese-erfreulich und anregend und erhebend für mich.
Ich hab weiter oben ja schon weitschweifig auf eine (scheinbare) Diskrepanz hingewiesen zwischen der (ggf. relativ prägnant umschreibbaren) "Message" von Agnetes Sonettenkranz und dem gewaltigen technisch-formalen Aufwand, der nötig ist, um 14 Sonette so zu komponieren, dass 1) die jeweils letzte Zeile eines Sonetts die erste des folgenden bildet und die letzte Zeile des letzten Sonettes wiederum der ersten des ersten entspricht (können alle noch folgen?) und dass 2) Diese jeweils ersten und letzten Zeilen dann wiederum ein 15. Sonett, das Meistersonett, ergeben.
Diese Diskrepanz ist aber hier gerade der Kniff, denn dadurch wird die eigentlich Message in gewisser Weise den üblichen Diskursformaten (ob Stammtisch, Talk-Show oder Dikussionsseminar) enthoben. Vielleicht wäre das am besten nachvollziehbar, wenn ein(e) Vortragsprofi (hä? wie ist denn die weibliche Form von Profi?) diesen Kranz einsprechen würde und man ihn sich dann an mit geschlossenen Augen anhörte.
Das wahrscheinlichste Outcome: Man schläft ein und Menschenskindnochmal, ist man danach aber gut ausgeschlafen! Die andere Möglichkeit: Es ergibt sich eine leicht ins Meditative spielende Tiefenentspannung (letztlich sind die Endergebnisse also gar nicht so unähnlich).
Worum es mir geht: Der gleichmäßige Rhythmus, die wiederkehrenden Wendungen, die Endreime, das entspricht in vielerlei Hinsicht einem rituellen Reden und das ist ja womöglich einer der wesentlichen Ursprünge der Lyrik überhaupt. Das vielleicht schönste und gültigste aller Liebesgedichte steht ja entsprechend auch in der Bibel und hat ein deutlich sakrales Gepräge, erinnert an alte Fruchtbarkeitshymnen. Ich meine das Hohelied. Und auch hier haben wir ja diese ständigen, gleichsam um sich selbst kreisenden Wiederholungen ("Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben / Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig, ja, unser Lager ist frisches Grün.").
Warum hat aber nun der Wortzauber von Agnetes Kranz bei Dir nicht "gezündet", lietze? Vermutlich (und in sofern hast Du in Deinem obigen Statement ja fast richtig gelegen) weil Du beim Lesen versucht hast, der "Message" auf der Spur zu bleiben und darüber hast Du sozusagen die Abfahrt verpasst, bei der dieser lange Text in den wortmagischen Bereich abbiegt. Wer von Lyrik einen "Mehrwert" fordert, der über das explizit Gesagte hinausgeht (ich unterstüzte diese Forderung vorbehaltlos), der ist dann irgendwann etwas frustriert.
Dieses, sozusagen, "Missverständnis" liegt natürlich auch daran, dass Agnetes Text sich eines klassischen "hohen Tons" weitgehend enthält und auf diese Weise durchaus dazu verführt, die Sonette als nüchterne Analyse zu lesen. Das ist schon beinahe ein bisschen abgründig: Sprachkunst tarnt sich als Analyse, die sich als Sprachkunst tarnt.
LG!
S.
P.S.:
@Agnete : Wirklich schön, Dich hier wiederlesen zu können!