Was ich lese und gelesen habe

5,00 Stern(e) 4 Bewertungen

petrasmiles

Mitglied
IV. Krimis
6. Doris Gercke, Bella Block

Ich muss gestehen, dass es mir bei ‚Bella Block‘ mitnichten um die Autorin ging, sondern um die Figur, und die wurde (gegen Geld) adaptiert und bis auf zwei Verfilmungen der Romane mit eigenen Drehbüchern ausgestattet.
Die Rede ist natürlich von der gleichnamigen Krimreihe, die von 1994 bis 2018 im ZDF ausgestrahlt worden war und von der großartigen Hannelore Hoger in der Titelrolle verkörpert wurde.

Warum Vorlagengeberin und Fernsehreihe konsequent auseinandergingen, liegt an den deutlichen Unterschieden zwischen der sperrigen und kompromisslosen Autorin und der gefälligeren Adaption. Für meinen Geschmack ist das kein Nachteil.

Ich las (bisher alle) Krimis, nachdem ich die da noch laufende Reihe sah, und habe die radikalere Gercke-Bella in die Filmfigur für mich ‚eingebaut‘; das schimmert durch, dass Bella, auch im Film eine wenig anschmiegsame Frau, diesen harten, kompromisslosen Kern hat, und auch diese Haltung, im Zweifel für die Verletzten und Beladenen Verständnis aufzubringen, ist eine Gerckesche Zutat.

Die Gercke-Bella ist in allem konsequent bis zur Radikalität. Sie hat kein Liebesleben, sondern ein Sexleben; sie trinkt mehr, als ihr gut tut und kehrt nach dem ersten Fall dem Polizeidienst den Rücken, weil dies ein rassistischer und frauenverachtender Verein sei. ‚Karrieregeile Kraftprotze‘ zitiert Wikipedia. Diese Haltung, die unweigerlich zu Verachtung führt, ist mir nicht angenehm. Es ist eine feministische Version der ‚Einsamer-Wolf-Attitüde‘ und damit für mich nicht nur nicht besonders originell, sondern damit werden die gleichen Schwächen dieses ‚Konzepts‘ auf eine Frau übertragen, was für mich ein Widerspruch in sich ist – und in der Annäherung der Geschlechter eher einen Rückschritt darstellt.
Verachtung für ein Geschlecht wird nicht besser, wenn es eine Frau macht.

Als hoffnungsvolle Romantikerin ist es für mich ein großer Verlust, wenn man der Liebe – in welcher Form auch immer – grundsätzlich keine Chance gibt. Mein Menschenbild entspricht eher dem einer Entwicklung, die zu einer Heilung von Wunden führt und der Mensch sein Potential erreicht – indem er sich mit sich auseinandersetzt und an sich arbeitet. Jeden Tag treffen wir diese Entscheidungen, ob wir das sind, was wir da gerade tun. Da sich aber kein Mensch selbst gemacht hat – was ebenfalls eine meiner Maximen ist – und die Talente zur Selbstschau unterschiedlich ausgeprägt sind, muss man auch Bella einfach gernhaben, die am Ende auch bei Gercke nur eine Figur ist, deren Wiedererkennungswert Teil des Produkts ist.

Der erste Fall, den ich als Film nicht sah, sondern erst im Roman kennenlernte, hat mir ein Ekel-Trauma eingebracht, das ich hier nicht wiedergeben möchte. Es handelt sich um den Fall Weinschröter, du mußt hängen, in dem es um den Fall einer ‚besonders schrecklichen Vergewaltigung‘ geht, wie es Wikipedia umschreibt. Das ist gleichzeitig die erste Folge der Fernsehreihe: Die Kommissarin (die ich noch nicht gesehen habe).

Gercke, Jahrgang 1937, hat 17 Bella Block Bücher verfasst – den letzten 2012. Sie nennt Chandler und Sjöwall Wahlöö als Vorbilder. Ich kann mich an Sjöwall Wahlöö nicht erinnern, aber Chandler hat in den 40er und 50er Jahren geschrieben – und er war ein Mann. Und hier passt dieser unsentimentale Blick auf eine harte Realität. Wie man als Frau hard boiled schreibt, und trotzdem eine Frau ist, hat Sara Paretsky vorgemacht. V. I. Warshawski legt sich mit den Großen an und muss viel einstecken, aber sie kopiert keinen Mann. Bei Gercke reibt sich Bella an dummen Männern, mokiert sich über Selbstmörder und schaut Fliegen beim Sterben zu (alles im Weinschröter). Ich weiß nicht, ob ich das seinerzeit ‚überlesen‘ hatte, oder noch von der Eingangsszene die Kanäle dicht waren. Ich überlege, ob ich ihr noch eine Chance gebe, bevor ich sie einmotte. Aber allzu viel dieser ärgerlichen Abrechnungshäppchen sollten mir nicht mehr unterkommen.

Ich habe dann noch einmal in Nachsaison (1988), dem Nachfolgeroman reingeschnuppert. Am Anfang steht ein äußerst brutaler Mord und eine zerstörte Familie. Dann Schwenk auf Bella, die sich einen spanischen Mann als ‚Zugehfrau’ hält, der sich um ihr Haus und ihren Kühlschrank kümmert. Sie ist ausgesprochen freundlich zu ihm, weil sie merkt, dass ihm seine Macho-Erziehung zusetzt. Gerade serviert er ihr eine Flasche Wodka mit Eis und zwei Gläsern – sie erwartet Beyer, Ex-Kollege, Liebhaber. Dann erscheint eine teuer gekleidete, sehr junge Frau bei ihr und will einen Mord bei ihr in Auftrag geben. Sie macht den Eindruck einer ausgehaltenen Frau; erst gefällt sie Bella wegen ihres Selbstvertrauens, dann wieder nicht, weil sie etwas Vulgäres an ihr sieht. Zwischenzeitlich kommt Beyer, den sie gleich nach oben schickt. Die junge Frau wird verabschiedet – sie würde niemanden ermorden; Beyer kommt nicht runter, sie sieht nach und findet ihn schlafend auf ihrem Bett. Aber dafür hat sie ihn ja nicht herbestellt und am nächsten Morgen geht ein unausgeschlafener Beyer ins Büro und sie schläft bis 12h. Dann macht sie Morgengymnastik am offenen Fenster und sinniert über ihren üblichen Spanner, geht spazieren und findet ein paar Fotos in einer Hülle. Die Fotos zeigen jeweils den Unterleib einer nackten Frau, teilweise in Ketten, und auf der Rückseite steht, wer die Frauen erkennt, gewinnt einen Preis oder so ähnlich. Das hat mir dann gereicht. Ich möchte gar nicht mehr wissen, wie es weitergeht.

Mir kommt der Verdacht, dass ich bei der Gercke-Bella beim Lesen zuviel ausgeblendet habe. Heute finde ich diese pointierte Männerfeindlichkeit und das Vorführen der Rollenbilder ermüdend. Die Fälle orientieren sich am Schlimmsten, was Menschen einander antun können, und es wird hauptsächlich geschimpft über die üblichen Verdächtigen – das ist für mich schon nicht mehr Gesellschaftskritik. Vielleicht waren die 80er Jahre für diese Art des feministischen Aufmischens des Krimigenres empfänglich, ich bin es nicht mehr.
 

petrasmiles

Mitglied
V Reiseliteratur
2. Bettina Baltschev, Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand*)

Dieses Buch war wieder eine Empfehlung von Cornelia Geissler aus der Berliner Zeitung und wieder eine, die ich nicht bereut habe.

Der Titel ist Programm und adressiert an die Leute, bei denen sofort das Herz hüpft, wenn sie das Wort ‚Strand’ nur hören. Aber auch für alle anderen Reisefreunde bietet der Band eine historisch und literarisch eingebettete Reise an Strände Europas.

Prolog und Besuchen sind folgende Worte von Agnès Varda, der französischen Filmemacherin, vorangestellt: „Öffnete man die Menschen, fände man Landschaften. Öffnete man mich, fände man Strände“. Und das, obwohl sie mitten in der Region Brüssel geboren worden war und in Paris starb. Diese innere Landschaft ist uns nicht unbedingt in die Wiege gelegt, mir will scheinen, sie entspricht der inneren Weite.

Baltschevs Themeneröffnung beginnt mit einer Erfahrung des wahrhaft menschenleeren Strandes am ‚Ende der Welt’ auf Schiermonnikoog in der Nordsee. Gedenkend an Havarien, auch eigene, schreibt sie: „Dazu kommt man doch an den Strand. Nicht wahr? Um uit te waaien, wie die Niederländer das nennen, sich vom Seewind durchpusten zu lassen, den Kater vom Vorabend im Meer zu versenken und alle schweren Gedanken und schlechten Stimmungen gleich mit. Und wenn man Glück hat, weht einem derselbe Wind frische Ideen zu, Zuversicht und Gottvertrauen. Mir gelingt an diesem Ort immerhin, die Strände meines Lebens zu sortieren.“

Spätestens jetzt weiß man, dass es mitnichten um Badelaken, Sonnenmilch und Wassersport geht, sondern die Auseinandersetzung mit dieser mächtigen Kraft der Natur.

Ich habe mal eine Dokumentation gesehen über den Drang der Menschen an jedwede Gestade. Und der überraschte Ton der Dokumentare kreiste um das Ergebnis ihrer Untersuchung, dass die Menschen mitnichten den Weg in die Fluten suchten, sie oft nicht einmal aufsuchten, sondern es der Ort am Ufer war, der ihnen genügte - wie eine Art spirituelle Zwiesprache mit einem unmittelbar wirkmächtigen Gott, das Flüstern in uns in Form von Wellengesang, und sei es nur ein müdes Gekräusel an windstillem See.

Bei Baltschev geht es nicht nur um den Austausch zwischen Natur und Mensch, sondern auch um den Ort selbst, wie geschunden er ist, wie unschuldig er wirkt und doch nicht sein kann.

Das 280 Seiten umfassende Buch besucht die Strände in Scheveningen, Brighton, Ostende, Utah Beach, Hiddensee, Ischia, Benidorm und Lesbos.

Wie schreibt Cornelia Geissler: „Wellenrauschen, Sand und Sonne findet man durchaus in diesem Buch (…) Doch ist dies keine zum blinzelnden Träumen verleitende Lektüre, sondern ein Werk mit beglückendem Tiefgang. (…) Es ist oft erstaunlich, wie sie den Bogen spannt, mit leichter Hand verbindet sie die Themen und Zeiten. So schaut sie sich auch die Villen an der Ostsee an, die volks- oder FDGB-eigen wurden und blickt von Hiddensee aus mit den Helden von Christoph Hein und Lutz Seiler in die Ferne. Wie trügerisch die Freiheit sein kann, wenn man es übers Meer geschafft hat, zeigt sich schließlich auf Lesbos.“***)

Immerhin erhielt Baltschev für dieses Buch den Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis 2021 zuerkannt. In der Begründung heißt es: „Vor dem Leser werden soziale und kulturelle Themen ausgebreitet, über die (unsere) Strandkultur wird reflektierend nachgedacht, denn ein Leben ohne unsere Inbesitznahme von Stränden ist nicht mehr vorstellbar. Dieser Blick auf die Strände ist aus Sicht der Jury überraschend, neu und gewinnt erstaunlich an Dimension, da die Autorin, ganz im Sinne Seumes, in ihren Betrachtungen, Ländergrenzen überschreitet.“[6] (…) und „im Frühjahr 2022 gehörte das Buch außerdem zu den acht Nominierten des Deutschen Sachbuchpreises. Hier schreibt die Jury unter anderem: „Ein Buch, das den Blick auf die Welt verändert. So, wie Bettina Baltschev über den Strand schreibt, hat man die Grenze zwischen Meer und Land noch nie wahrgenommen.“[7] ****)

Was mich neben diesem Buch sehr für sie einnimmt ist die Tatsache, dass sie über den holländischen Exilverlag Querido eine Monographie verfasste, in dem zwischen 1933 und 1940 (1950) deutsche Autoren veröffentlicht wurden, unter anderem die hier schon besprochene Irmgard Keun.*****) Da scheint sich ein Kreis zu schließen.

Das Buch lag schon lange auf meinem Schreibtisch, um hier angepriesen zu werden und nun ist es endlich geschafft, und nach der intelligenten aber auch anstrengenden Lektüre von Bob Dylan in Interviews wird erneut nach dem ‚Rande der Glückseligkeit’ gegriffen.



*) Berenberg, Berlin 2021
**) Ebd. S. 10
***) Cornelia Geissler, Beglückender Tiefgang. Bettina Baltschev ist zu den Stränden Europas gereist – eine literarische Erkundung, BLZ #184, 11.08.2021, S. 15
****) https://de.wikipedia.org/wiki/Bettina_Baltschev
*****) Bettina Baltschev, Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur, Berenberg Berlin 2016
 

Lokterus

Mitglied
Hallo Petra.

Ich habe mir das Buch gekauft. Kindle meldet nun einen Download-Fehler und rät mir, es doch etwas später erneut zu versuchen. Deine Gedankenwelt scheint demnach nachweislich schwer zugänglich zu sein. :p

Sollte ich die technischen Schwierigkeiten überwunden und das Buch gelesen haben, werde ich hier eine Stellungnahme verfassen.

Liebe Grüße
loki
 

John Wein

Mitglied
Werte Petrasmiles,

Ich kannte die Autorin bis dato nicht. Es ist interessant, dass sie sich im Ozean der Meeresgeschichten, gerade für die Strände interessiert. Normalerweise sind es immer die Klippen oder die See, die für uns eine Küste reizvoll macht, aus genommen einmal, wie du schreibst, die Sonnenanbeter und Muschelsammler. Die Anziehungskraft liegt doch in erster Linie in einer unendlichen Weite, die uns von der Enge unsere Binnenwelt auf einfache Weise entbindet und da hat für die meisten von uns das Meer sein großes Sehsuchts Stillen im Angebot. Das menschliche Auge wandert automatisch erst einmal zum Horizont (ausgenommen, da sind ein paar Strandnixen) und dann zurück über das Wasser zum Strand. Ich erinnere mich, als Schüler im 8. Schuljahr, überredete ich meinen Freund mit dem Rad (ohne Gangschaltung) von Oldenburg an die Nordsee zu fahren, wir waren damals gerade aus dem Binnenland dorthin gezogen. Was lag da näher als der Jadebusen. Als wir den Deich bei Dangast sahen, schlug mein Herz Purzelbaum, doch wir mussten noch ein einige Äcker und Wiesen bis zur Deichkrone bewältigen. Und dann……!? Oben angekommen, wie ungezogen, hatte sich das Meer einfach zurückgezogen, und unsere Hochspannung auf Meeresweite sehr enttäuscht. Da war nur Watt und mittendrin ein Leuchtturm. Danke für diesen Beitrag, ich habe ihn zwar nicht ausführlich gewürdigt, aber er hat mich ein wenig zurückkatapultiert in meine Jugend.

LG John
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber John Wein,

solche Reminiszenzen sind doch auch schön - die Würdigung liegt doch schon im Lesen und dem eigenen Erleben.

Passend zu Deinem Hinweis, am Meer würde einen doch die Weite reizen, habe ich bei Baltschev - sie hat ihr Thema gut recherchiert! - folgendes Zitat von Alain Corbin gelesen (Alain Corbin, Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750-1840)*: "Mehr noch als das Land verkörpert der Ozean die unwiderlegbare Natur, die sich nicht schmücken lässt und keine Lüge duldet. So entsteht das Paradox, auf dem die Mode des Strandaufenthaltes beruht. Das Meer wird eine Zuflucht, es gibt Hoffnung, weil es Angst einflößt. Es eben deshalb zu genießen, den Schrecken unter Abwendung jeder realen Gefahr zu empfinden, ist die neue Strategie des Kuraufenthalts an der Küste. Hinfort begegnet man dem Meer mit der Erwartung, dass es die Ägnste einer Elite beruhigt, die Harmonie zwischen Körper und Seele wiederherstellt und dem Verlust der Lebensenergie einer Gesellschaftsschicht (...) entgegenwirkt."**)

*) So ist das bei mir, habe ich mir jetzt auch bestellt ...
*) Zitiert nach Baltschev siehe #62, ebd., S. 58 (Kursivstellung im Original)

Liebe Grüße
Petra
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

Mitglied
VII Sachbücher
2 Heribert Prantl, Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen1)



Ich habe Prantls Buch mehr aus Solidarität gekauft, als weil ich mir von einem Traktat über die Notwendigkeit, den Frieden zu gewinnen, neue Erkenntnisse erhofft hätte.

Und wie ich feststelle, ist das mit den neuen Erkenntnissen immer so eine Sache – wer weiß schon alles? Es lohnt sich immer, jemandem einmal zuzuhören, der aus einer anderen Ecke kommt und eigene Verknüpfungen und Ableitungen herstellt. Wie die meisten wissen, ist Prantl Jurist und Journalist und war lange Jahre mit der Süddeutschen Zeitung verbunden. Ich war nicht unbedingt ein glühender Prantl-Anhänger, was ich von ihm las, war immer klug und durchdacht, aber manchmal doch zu ‚juristisch‘. Aber das nun unter anderem der Jurist aus ihm spricht, hat für mich nun nachvollziehbare Gründe. Man konnte schon an anderer Stelle von ihm lesen, dass das Friedensgebot unserer Verfassung ignoriert wird und seine Aushöhlung durch das Bundesverfassungsgericht unterstützt wurde und wird.

Das erste Kapitel ist aber mitnichten juristisch, sondern ‚apokalyptisch‘ und trägt den Untertitel „Lob der Apokalyptik: Sie enthüllt was passiert, wenn es einfach immer so weiter geht. Sie ist ein Augenöffner. Von der Falschheit des Begriffs Zeitenwende und von der Rückkehr der Politik ins Militärische‘ 2)

Zu Beginn zitiert er Brechts Das Große Karthago von 1951. Nach dem Ersten Punischen Krieg sei es noch mächtig gewesen, nach dem Zweiten noch bewohnbar, nach dem Dritten nicht mehr auffindbar.3)

Und dabei kombiniert Prantl zwei Perspektiven – die des 15. Jahrhunderts auf den prognostizierten Weltuntergang und Dürers Vier Apokalyptischen Reiter, die in Anlehnung an die Offenbarungen des Johannes unaufhaltsam jedem Tod und Verderben bringen – bis auf den Betrachter und so ist es keine Angstlust, die er erzeugen will, sondern eine Aufforderung, den Riss zu suchen. Dieser wiederum entspringt der zweiten Perspektive Prantls aus einem Lied von Leonard Cohen mit der Textzeile: „There is a crack / A crack in everything / that’s how the light gets in / You can add up the parts / but you won’t have the sum. (…) Die Zukunft steht nicht fest. Sie ist nicht vorherbestimmt. Sie ist veränderbar. Der entscheidende Moment ist immer: jetzt. Und der Ort, etwas zu verändern, ist hier: hier wo der Riss ist.“4)

Obwohl – oder vielleicht weil – ich Atheistin, oder gar Schlimmeres – bin, gefällt mir die Ent-Banalisierung des christlichen Glaubens in der Auseinandersetzung mit biblischen Stellen, die für mich immer nur als geistesgeschichtliche Quellen taugten: was uns bewegte, wie wir sein wollten, wie wir uns als Menschen definierten, was uns Angst machte und was uns aufrichten konnte.5) Prantl schaut hin, was wir angesichts des Risses – zwischen Leben und Tod – heute für eine Sprache verwenden. Die sich übertrumpfenden Adjektive für den Ukraine-Krieg, dieses Einläuten einer Zeitenwende, die keine ist. Eine Zeitenwende wäre es, wenn die Menschheit geschafft hätte, ohne Kriege auszukommen. Was wir erleben, ist aber nur ein Politikwechsel, der zunehmend international bis in die Mitte der Gesellschaft hinein verstörend wirkt, Angst schürt und sogar auf den Kinderwunsch junger Menschen Einfluss nimmt.6) Wir erleben die Sprache der Vulgärapolyptiker, die mit der Angst einen Zweck verfolgen. Die Apokalypse selbst ist nach Prantls Auffassung und Erläuterung Aufklärung mit anderen Mitteln.7)

Und er macht den Hass als schlimmsten Gegner des Friedens aus, weil er den Gegner entmenschlicht, seine Vernichtung preist und eine Kette hassmotivierter Morde in Gang setzt und hält. Prantl spricht es hier nicht aus, aber dass die Diffamierungswut Andersdenkender und ihre Ausgrenzung eine Vorstufe zu diesem Hass ist, der sich im Zuge der Militarisierung noch institutionalisieren wird, ist offensichtlich. Aber noch findet sich Gegenrede. Noch sehen wir den Riss.

Und auch das spricht er nicht aus, dass die EU versagt, dass sie ihre historische Rolle der friedlichen Einigung vormals verfeindeter Mächte, die sie in eine prosperierende Phase des Friedens führte, vernachlässigt und nun den Taktgeber für Aufrüstung und kapitalistische Ausbeutung gibt. Aber er mahnt. Das unterscheidet den Aufklärer vom Moralisten.

Im zweiten Kapitel geht es um unsere Verfassung und ihre Auslegung und Beugung. Auszüge daraus wurden in der Berliner Zeitung 8) veröffentlicht und so sei hier nur das Gerüst erwähnt: Die verfassungsmäßige Selbstverpflichtung zum Frieden; die erste Beugung durch die Hinzufügung der Erlaubnis der Wiederbewaffnung 1954/55. Schlimmer noch die Out-of-Area-Entscheidung 1994, wonach alles, was die Nato macht als Verteidigung gilt“ 9)

Es gab sie von Anfang an, die Tauben und die Falken. Der kalte Krieg und die unbedingte Ausrichtung der ersten Nachkriegsregierung nach Westen taten das Ihrige. Nicht selten war der Pazifismus der Gründerzeit nichts anderes als der Bellizismus heute – ein Nachreden, Anpassung an die vorherrschende Meinung, um in allen Zeiten verwertbar zu sein.

Dennoch sei das Grundgesetz eine Friedensverfassung geworden und die nachträglichen Änderungen würden im eigentlichen Sinn am Grundgedanken der Verfassung vorbeigehen und die aktuelle Wortwahl widerspräche ihm klar, wenn der deutsche Verteidigungsminister und der Generalinspekteur der Bundeswehr von ‚Krieg‘ sprechen und sich auf die Verfassung berufen. Ebenso widerspricht ihr die Auslegung der Unterstützung bei einem Angriffskrieg ohne flankierende Friedensbemühungen. 10) Und Prantl stellt klar: „Das Wort Krieg programmiert das Hirn anders als das Wort Verteidigung“. 11)

Im dritten Kapitel widmet sich Prantl den Dilemmata der Gewaltlosigkeit und ich begegne einem ‚alten Bekannten‘: Max Weber. Als studentische Hilfskraft hatte ich für einige Semester das Privileg, an der Max Weber Gesamtausgabe zwei versierte Wissenschaftler zu unterstützen. Seither weiß ich, wie ein wissenschaftlicher Apparat entsteht und wie mühselig Namen und Daten herbeigeschafft und verifiziert werden müssen. Max Weber war einer der Vordenker, wenn nicht gar Begründer der Sozialwissenschaften. Gelernter Jurist widmete er sich unter anderem der Nationalökonomie und führte die Sozialwissenschaft an die Geschichtswissenschaft heran. Seine gedankliche Durchdringung aller gesellschaftlichen Phänomene seiner Zeit (er starb 1920) schafften eine enorme Menge an Schriften. In Prantls Fokus steht Webers Schrift ‚Politik als Beruf‘ und hierbei insbesondere eine Unterscheidung des Pazifismus in Gesinnungsethik und Verantwortungsethik 12). Prantl argumentiert einleuchtend, wie diese Unterscheidung den aktuellen Geschehnissen folgte und eben keine wissenschaftliche Analyse war, oder überhaupt eine substanzielle Würdigung des Pazifismus an sich bedeutete. Im vorherigen Kapitel war Josef Strauß als Protagonist des ‚Formwandlers‘ erwähnt worden, der 1964 in einem Interview mit Günter Gaus seine frühen pazifistischen Äußerungen leugnen wollte und den Begriff der Verantwortungsethik bemühte. 13)

Grundsätzlich gehört dieses Kapitel dem Pazifismus, seiner begrifflichen Entstehung, den pazifistischen Bewegungen, Vordenkern und Ikonen von Kant 14) über Ghandi hin zu Martin Luther King jr. und er outet sich, selbst kein Pazifist zu sein, aber dass er sie bewundere und es ohne Friedensbewegung keinen Frieden geben würde. Und er arbeitet heraus, dass immer vor dem Hintergrund verheerender Kriege Friedensbewegungen erstarkten und mitnichten Traumtänzerei betrieben wurde, sondern verantwortliches und vorausschauendes Handeln ihre Akteure auszeichneten. Das ist nicht die einzige Korrektur, die Weber in seinem Denken erfahren muss, aber das ist ja aller Ehren wert und beste wissenschaftliche Tradition.

Leicht hat es der Pazifismus nie gehabt und seine Protagonisten wurden zu allen Zeiten und bis heute verspottet oder beschimpft und oft genug – gerade im politischen Diskurs – gehört der ‚politisch kindliche Gesinnungsethiker‘, wenn nicht zum Kampfbegriff, dann doch als Einstellung in die Beurteilung dieser ‚Exoten‘ dazu. Da sind sie wieder, die Schwarzweißdenker und insbesondere heute ersetzt Moralisieren moralisches Handeln und ein Austausch der Argumente, um Unmögliches möglich zu machen.

Am Ende ist es die große Frage, wie moralisch die Aufforderung zum Gewaltverzicht sein kann und er erinnert daran, dass Gandhis gewaltfreier Protest seine Anhänger der Gegengewalt wehrlos auslieferte und gewiss nicht für jede Unterdrückung und Schlimmeres ein probates Mittel sei.

Im Grunde erteilt Prantl dem Pazifismus im Sinne eines Gewaltverzichts eine Absage, aber er stellt auch klar, dass es keine ‚Verbrechen im Krieg‘ gäbe, sondern der Krieg selbst das Verbrechen sei.

Der Ukrainekrieg, aber auch die Kämpfe in Gaza, sind natürlich Thema, aber wenn er z.B. inländische Forderungen nach Verzicht auf Waffenlieferungen entgegenhält, dass der Zivilgesellschaft, die sich gewaltfrei erheben sollte, wenig gedient sei, wird es sehr unkonkret, es werden keine Namen genannt und keine Belegstellen für Äußerungen der Art, dass irgendjemand der Gegner von Waffenlieferungen (weil sie unmoralisch seien) tatsächlich Kapitulation gefordert oder in Kauf genommen hätte, sondern dass die nicht vorhandenen Friedensbemühungen der involvierten Mächte im Fokus der Kritik standen – und stehen.15) Vielleicht versteht man diese Zuspitzung besser, wenn erinnert wird, dass Martin Buber, ein Verehrer Gandhis, von diesem im November 1938 einen Ratschlag, ja eigentlich sogar eine moralische Forderung erhielt, dass auch die Juden in Deutschland den Nazis gewaltfreien Widerstand leisten sollten. 16)

Das Kapitel endet mit Prantls Statement, dass für ihn Pazifismus sei, einen Krieg zu verhindern.17)

Im vierten Kapitel geht es um die Frage, wie man als Gesellschaft den Krieg verlernen kann. Zunächst geht es um das Aufeinandertreffen zwischen Mensch und Mensch im Krieg, die berühmte Friedensweihnacht im Schützengraben 1914, aber auch der Fall eines Montenegriners, der im jugoslawischen Partisanenkampf einen arglosen Türken erschoss, mit dem er zuvor eine Wegstrecke geteilt hatte, die sich menschlich näher gekommen waren 18) Dieser Frage widmet Prantl viele Seiten, psychologisch reflektiert, und zieht eine Linie von berühmten Mördern z.B. jenem Kindermörder Bartsch zu Putin. Sie seien das Böse 19), aber eine ‚Vermonsterung‘ käme einer Romantisierung gleich. Und mit Putin würden dann gleich die Russen an sich verteufelt. Entscheidender aber sei die Frage, was passiere, dass Menschen überhaupt in den Zustand kämen, töten zu können. Eine Emotionalisierung, die mit der Dämonisierung einhergehe, lenke von der wichtigen Debatte ab „ob und inwiefern eigene Fehleinschätzungen zur Eskalation beigetragen haben oder weiter beitragen.“ 20) Und die unbequeme Frage, der wir uns alle stellen müssten anhand auch ziviler Gräueltaten, was aus dem normalen Menschen einen Mörder macht. Die Konditionierung für das Töten im Krieg fängt aber schon früher an – vor allem mit der Militarisierung einer Gesellschaft und einer Ideologisierung von Gewalt, die damit einhergeht.

Dieses Kapitel enthält interessante Ausführungen zu Denkern des Freund-Feind-Schemas und ihre Wirksamkeit und wie die Angst vor den Barbaren den eigenen Untergang herbeiführen kann. Und er hält die Wagenburgmentalität in Europas Migrationspolitik für eine fahrlässige Unterstützung jeglicher Fremdenfeindlichkeit. Mauern und Stacheldraht, die politische Inszenierung einer rückwärtsgewandten Zukunftschimäre hat die fatale Wirkung nach innen von dem Gefühl einer akuten Bedrohung durch das Fremde – was die Demokratie von innen zerstört. 21) Das liest sich gut und richtig – und doch, wo ist der Ansatz zum Entfeinden?

Er verbindet die drei großen Konflikte Ukraine, Gaza und die Migration zu einer globalen Erfordernis: „Es geht um die Begrenzung des Grenzwahns, es geht um die Zähmung der Gewalt. Es geht um Entfeindung. Es geht um einen Waffenstillstand. Es geht um Befriedung. (…) Überall gilt: Sicherheit ist auch die Sicherheit der anderen. Sicherheit gibt es nicht vor Russland, nicht gegen Russland. Sicherheit gibt es nicht vor den Palästinensern. Sicherheit gibt es nicht vor den Flüchtlingen. Es gibt Sicherheit nur mit ihnen. (…) Es gibt Sicherheit nicht mit noch höheren Mauern (…) und Militärausgaben (…). Sie wird steigen, wenn sich die Gegner die Brille des anderen aufsetzen. So beginnt das Frieden-Lernen.“ 22)

Das Fünfte Kapitel ist demzufolge erwartbar wieder appellativ – die weißen Tauben sind müde, die alte Friedensbewegung ausgedünnt, die Grünen ein Hort der Falken, wir brauchen eine neue Friedensbewegung.

Wiederum interessant zu sehen, wie uralte Symbole und Mythen unsere gedanklichen Korridore bilden, die Taube, der Ölzweig, die Arche Noahs, der Zorn Gottes – ein großer stilprägender Friedensschluss.

Prantl erinnert an die friedensbewegte Bundesrepublik der 80er Jahre, die – berechtigte - Furcht vor der atomaren Katastrophe und der Vernichtung Europas. Trotzdem – und in gutem Glauben – kam der Natodoppelbeschluss (1983), erst die Aufrüstung zum Gleichgewicht des Schreckens, dann Abrüstung (1987) – ein Vertrag, der dann 2019 von Trump gekündigt worden war. 23) Damals sei die Gefahr eines ‚Euroshimas‘ gebannt worden, aber wer würde sie heute bannen? 24)

Diese historischen und politischen Bezüge sind hochinteressant, weil es noch Akteure gibt, die in dieser Zeit sozialisiert wurden, weil man nachverfolgen kann, wie politische Inhalte über den erkämpften Konsens bis in die Merkelzeit hinein existierten, die in wenigen Jahren langsam verschwanden, totgeschwiegen wurden, bis dann eine Zeitenwende die Vorzeichen endgültig umkehrte. 25)

Im Folgenden macht das Prantl an der Abkehr der Grünen von ihren Wurzeln als Friedensbewegung fest, die ihren Anfang schon unter Joschka Fischer nahm. 26) Nicht ganz fair, auch wenn die Fakten nicht zu leugnen sind. Den sich anschließenden Vergleich mit der Bewegung der Burschenschaften im 19. Jahrhundert, so belegt und rational begründet er auch daherkommt, er kommt einem Stigma gleich, die Parallele der Transformation vom Paulus zum Saulus, vom Geläuterten zum Leugner, vom Sozialromantiker zum Staatstragenden. 27)

Als nächstes gerät Frank Walter Steinmeier ins Visier, dessen Rolle – leider zurecht – höchst problematisch ist angesichts seiner früheren politischen Aktionen; auch bei ihm wandelt der Paulus sich zurück zum Saulus und man kann Prantl an keiner Stelle seiner Abrechnung widersprechen. Zur Abrechnung gerät es deshalb, weil Steinmeier die Lieferung von Streubombenmunition der USA an die Ukraine nicht verurteilte, er könne und wolle den Amerikanern nicht in den Arm fallen - obwohl er es war, der damals für Deutschland das Abkommen zur Bannung von Streumunition unterschrieben hatte. (Russland, die Ukraine und die USA hatten das UN-Abkommen 2008 nicht unterschrieben.) Man könnte ihn für eine tragische Figur halten, wenn die Tragik nicht zuallererst bei den Opfern festzumachen wäre. Somit steht sein Handeln für einen geschichtsvergessenen und pflichtverletzenden Teil der SPD. 28) In diesem Zusammenhang wird Prantl sehr deutlich: „Die Entscheidung für den massenhaften Einsatz von Streubomben in der Ukraine diskreditierte die moralische Überlegenheit des Westens im Ukrainekrieg.“ 29) Und er führt weiter aus: „Das Nachdenken über eine Friedensordnung in Europa jenseits des Krieges ist unverzichtbar. Dieses Nachdenken beginnt mit dem Gedanken, dass Moskau zu Europa gehört.“ 30) Nun also, nachdem alle möglichen Vorreden über das Böse angebracht worden sind, das Töten durchdekliniert wurde, wie auch das Versagen. Nun steht es da. Was wir alle wissen, was manche verdrängen, was unter keinen Umständen eine Handlungsoption sein darf. Nun hat er seinen Hut in den Ring geworfen, sich eingereiht unter denen, die Frieden wollen. Jetzt. Und nun wäre die folgerichtige Frage die nach dem Akteur, und da stehen wir alle rum. Wir stehen und warten.

Für Prantl ist der nächste Schritt die Überleitung zu anderen Friedensschlüssen oder die Verhinderung von Kriegen: die Geheimdiplomatie Kennedys mit der Sowjetunion bei der Kubakrise, die Untersuchung des mühseligen Friedensschlusses eines verheerenden Krieges – des Dreißigjährigen Krieges. Ein Friedensschluss, der fünf Jahre verhandelt wurde, der auch an Fahrt aufnahm, als eine totale Erschöpfung der Ressourcen einkehrte. 31)

Von hier aus widmet sich Prantl Überlegungen der möglichen Varianten von Friedensschlüssen – und da ist er leider wieder, der Ausschluss des Gedankens, der Möglichkeit oder Gewissheit, dass dies ein Stellvertreterkrieg sein könnte, dass die Ukraine mitnichten souveräne Kriegspartei wäre, dass am anderen Ende des Ozeans ein Land die Fäden in der Hand halten könnte, die diese Verhandlungen ermöglichen oder verhindern kann – und dass durch diese Hand auch der unerklärlich erscheinende Wandel der deutschen Außenpolitik gesteuert worden sein könnte. 32)

Prantl stellt die Frage nach der Möglichkeit der Bestrafung der Schuldigen und konstatiert, die Ukraine bräuchte nicht unbedingt einen Friedensakt, sondern einen Prozess, der die Gewalt beendet und bringt Christopher Clarke ins Spiel, der Verhandlungen mit Russland nach Art des Wiener Kongresses vorschlug, noch eine gelungene Friedensaktion, wie schon der Westfälische Friede – und die EU. 33) Auch dieses Mal bleibt die Schelte aus. Es bleibt beim Appell, dass der Friedensauftrag der EU nicht erledigt sei, sondern kontinuierlich fortgesetzt werden müsste.

Sodann widmet er sich den martialischen Doktrinen der Bundesrepublik zu Zeiten der Wiederbewaffnung unter Adenauer und nennt eine Reihe von Namen, die Bespitzelung und Behinderung ausgesetzt waren wegen ihrer pazifistischen Äußerungen oder Handlungen – oder was dafür gehalten wurde. Immerhin so weit wagt sich Prantl über die Adenauerzeit hinaus: „So stand die Meinungsfreiheit unter der Kuratel der Bündnistreue zum Westen – oder was man dafür hielt“ 34) Und leitet zum aktuellen Fall Ulrike Guérot über, die wegen ihrer Kritik an der Corona- und Ukraine-Politik mit fadenscheinigen Gründen entlassen worden war. Die Verengung des Meinungskorridors während der Corona-Krise stellt auch er fest und fordert, dass dies im aktuellen Konflikt aufhören müsse, wie es angesichts des Manifests für den Frieden geschehen sei. 35) Und er kritisiert die Ausgabe der Parole der Alternativlosigkeit der Befürworter der Waffenlieferungen, weil dies nicht dem Geist der Demokratie entspräche und Meinungsfreiheit nicht die Meinung der Mehrheit meint. Das ist so richtig wie unkonkret und verliert sich im Appellativen. Der letzte Satz des Kapitels ist vielleicht aufschlussreicher als bewusst: „Es wäre gut, wenn dieser Wunsch [nach dem Aussterben des Kriegshandwerks] wieder eine parteipolitische Heimat hätte,“ 36) wodurch bei mir der Eindruck entsteht, dass er den Grünen genau das übel nimmt, dass sie diese Rolle nicht mehr einnehmen – als seien sie ihm und der Nation das schuldig.

Im sechsten Kapitel – schmal, aber sehr inspirierend – geht es um zwei starke Persönlichkeiten, Erich Maria Remarque und Stefan Troller, die dem Pazifismus unter Einsatz ihres Lebens starke Impulse gaben und deren Beispiel für Prantl pädagogisch genutzt werden sollte. Er führt den Begriff ‚negativen‘ Pazifismus ein, der dem Protokoll des Nobelpreiskomitees entstammte, das Remarque den Friedensnobelpreis nicht zuerkannte, weil negativer Pazifismus nicht genug sei. Er bedeutet nur, gegen den Krieg zu sein, wohingegen positiver Pazifismus ein Handeln für den Frieden meint. Prantl spaziert durch die Geschichte der Zwanziger und Dreißiger Jahre, wer durch was aufgefallen war. Das ist interessanter zu lesen als wesentlich für den Text. Nur gegen Ende gibt es den Bezug zur Gegenwart, als die Preisträgerin des Erich Maria Remarque Friedenspreises 2023, die achtzigjährige russische Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaya sagt: „ … Mein Land krankt an aggressiver Unbildung, Nationalismus und imperialer Großmannssucht“, sie schäme sich für ihr Volk, das seine moralische Orientierung verloren habe. Ein ukrainischer Zeichner, der ebenfalls einen Preis bekam, weigerte sich, mit ihr auf einer Bühne zu stehen. Wenn Putin alles schuld ist, braucht sich der Ukrainer dazu nicht hinterfragen. 37)

Im letzten und siebten Kapitel wird es wieder biblisch. Der erste Mord, die Rechtfertigung für Krieg und Frieden, man findet in ihr Bestätigung für Friedensliebe und Aufforderung zu Gewalt und unabhängig vom Glauben hat sie die westliche Zivilisation geprägt. 38) Immer wieder wurden ihre Texte benutzt, um Kriege zu legitimieren, das Töten zu rechtfertigen und das Sterben für den gerechten oder gar heiligen Krieg zu verherrlichen. Wenn es eine Frage der Auslegung ist, käme es auf die Auslegung an.

Und wieder wird ein Sänger zitiert, John Lennon’s Imagine: „Imagine there’s no heaven / It’s easy if you try / No hell below us / Above us only sky“ Aber dieses Mal erteilt er der Aussage eine Absage; Himmel und Hölle zu überwinden, sei keine bessere Option. Der Verzicht auf Religion sei keine Gewähr für ein besseres Menschsein. Eher schäbig der Scherz über den hässlichen Liverpooler Flughafen John Lennon und seinen trübsinnigen Anblick, von dem aus ‚Urlaubsjets für Pauschaltouristen Kurs auf Trauminseln und Urlaubsparadiese nehmen mit ‚all inclusive‘ und ‚all you can eat‘ als Bild von dieser trüben, hoffnungslosen Welt. 39) Irre ich mich, oder hat Prantl mit diesem ‚Bonmot‘ eine britische Ikone und alle einfachen Leute herabgesetzt, die sich nur diese Art von Urlaub leisten können? Ich bin froh, dass ein Lektor diesen Lapsus nicht ausmerzte. Das gehört ins Bild.

Als Aussage wirkt das Kapitel wie angestrickt, da ist nichts, was nicht auch in den vorherigen Kapiteln hätte thematisiert werden können, waren ihm sieben Kapitel sympathischer? Wollte er auch seine religiöse Verortung zeigen? – nur der Bogen im letzten Satz zurück zu Leonard Cohen, das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, der würde nicht passen.



Fazit

Ich habe mich schon länger nicht mehr so intensiv mit einem Text befasst und das ist schon ein Gütezeichen. Dennoch. Ich habe den Eindruck bekommen, dass Prantl nicht wirklich den Meinungskorridor verlassen hat – der derzeit Diskurse verhindert – wie er das zur Coronapolitik durchaus getan hatte. Er arbeitet sich im fünften Kapitel an den Grünen ab und kritisiert Steinmeier überdeutlich, verschont die FDP und die CDU, erwähnt sie nicht einmal, als wären im Zentrum des Geschehens deren Stimmen und Haltungen marginal - ich sehe nicht, wie man darin keine Parteinahme sehen sollte – bei einem Journalisten. Inhaltlich ist das alles nicht zu beanstanden und anfangs war ich geneigt, hier auf der Sachebene zu bleiben, dass man persönliches Versagen auch nicht verschleiern darf, aber im Zusammenspiel mit Aussparungen über interessegeleitete Politik auch und gerade im Ukrainekrieg lässt sich diese Annahme nicht aufrechterhalten.

Aus seinen vielen richtigen Schlussfolgerungen müssten sich Dogmatiker herauspicken, was ihnen jetzt in den Ohren klingeln sollte – was nicht die hervorstechendste Eigenschaft eines Dogmatikers ist. Ich habe aber den Eindruck, dass ohne den Überfall der Hamas am 7. Oktober letzten Jahres vielleicht ein anderes Buch entstanden wäre. Dass dieses Massaker an Unschuldigen für ihn die Notwendigkeit des Herausstellens des Bösen, die Eindeutigkeit seiner Benennung erforderlich gemacht hat – und dass das Ausblenden einer Vorgeschichte zum Ukrainekrieg unterblieb, weil er dann auch die Vorgeschichte zum Gazakrieg hätte mitdenken müssen. Eine moralische Entscheidung? Keine intellektuelle.

Ebenso mutet die Ausblendung der geopolitischen Zusammenhänge, die unter viel Eloquenz und Klugheit verborgen bleibt, mich sehr befremdlich an. Besonders schwach der Abschnitt über die Möglichkeiten des Friedens für die Ukraine, siehe dort meine Anmerkung 32. Ich weiß nicht, wie man seinen dort zitierten Satz anders interpretieren könnte als ich es tat.

Trotzdem hat er mich im Zusammenhang mit dem Gazakrieg zum Nachdenken gebracht. Wie er in seinem Vorwort 39) mutmaßt, hätte auch eine liberale Regierung in Israel dieses Massaker mit einem kriegerischen Akt beantworten müssen. Und mir wird klar, dass eigentlich jede Parteinahme potenziell unterkomplex ist – und eine Identifizierung mit jedweden Opfern in eine emotionale Spirale geraten lassen kann, die einen Prozess in Gang setzt, der über Gewalt in Worten und Ausgrenzung Andersdenkender, in eine Militarisierung der Gesellschaft und letztendlich Krieg mündet – gemeint sind hier unbeteiligte, aber anteilnehmende Menschen, und nicht Aussparung von Empathie.

Mir haben die christlich-geistesgeschichtlichen Zuordnungen gefallen – weil sie präsent sind, weil sie vorwegnahmen, was den (europäischstämmigen) Menschen schon immer beschäftigt hat. Das ist keine Frage des Glaubens, sondern des Wissens. Die Alternative dazu ist Nicht-Wissen. Ein Luxus, den sich insbesondere das akademische Milieu zunehmend sich leisten zu können wähnt, weil ja alles neu gedacht werden kann – nicht ahnend, dass wir uns freiwillig auf die Stufe begeben, in der der Steinzeitmensch jedes Kraut selbst ausprobieren muss, um zu sehen, ob er es überlebt.

Meines Erachtens wird diesem gesellschaftlichen Wandel zu wenig Rechnung getragen. Warum gibt es bei den Grünen keinen offenen Diskurs mehr? Warum ist Einigkeit ein größeres Gut geworden als die Erörterung von möglichst vielen Aspekten zur Entscheidungsfindung. Warum sucht ein Steinmeier mit staatsmännischen Meriten die Flucht nach vorn ins Getümmel und lässt sich lieber von einem ukrainischen Diplomaten beleidigen und tritt die Erfolge von Jahrzehnten von Entspannungspolitik in die Tonne, als sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen – zu ihr zu stehen, um dann einen Gegenpol zum Getümmel bilden zu können? Warum haben wir ein politisches System, in dem niemand Sachkenntnis vorweisen muss, um ein Amt zu bekleiden? Und vor allem: Warum dürfen sie im Namen der Verteidigung von Werten vorhandene Werte und Tugenden verleugnen und ins Gegenteil verkehren? Aber das wäre höchstwahrscheinlich ein anderes Buch – und würde von jemand anderem geschrieben werden müssen.


__________________________
1) Heyne, München 2024
2) Ebd. S. 7
3) Ebd. S. 19
4) Ebd. S. 17
5) Ein Kommentar unter einer Onlinebesprechung bemängelte eben dies; die Bereitschaft, auch alte und uralte Gedanken als bedenkenswert anzunehmen, lässt nach. Heute genügt der Hinweis auf die dunkle Seite der Kirchen, um alles in Bausch und Bogen abzutun. Dass man mit woker Kunst niemals etwas erschaffen kann, was auch nur annähernd eine Art von Gültigkeit hat und behalten wird – außer ihrer Kastration des Denkens und Empfindens – bleibt unbemerkt.
6) Siehe Anm. 3, S. 233 und S. 31
7) Ebd. S. 31
8) https://www.berliner-zeitung.de/ope...eden-gewinnen-die-gewalt-verlernen-li.2205362
9) Ebd., S. 38f.
10) Ebd. S. 53-55
11) Ebd., S. 55
12) Die Schrift war das Manuskript zu einer Rede, gehalten 1919, S. 72. Diese und andere Wortschöpfungen haben die Herausgeber vor nicht geringe Probleme gestellt. Prantl nennt Weber einen ‚intellektuellen Überflieger‘.
13) Ebd., Anm. 6, S. 233. Nach Webers Ansicht waren neun von zehn Gesinnungsethikern substanzlose Windbeutel im Sinne von romantischen Spinnern; Webers Äußerung wird zitiert nach wikisource, hier Anm. 20, S. 234
14) Nach Prantl hat Kant erstmals den Pazifismus aus seinen religiösen Bezügen in das Recht überführt. Ebd., S. 65 ‚Frieden, das bekräftigt Kant, fällt nicht vom Himmel, er liegt nicht in der Natur des Menschen, sondern er muss mit festem Willen, unbeirrbarer Vernunft und politischem Handeln gestiftet und bewahrt werden.“ Ebd. S. 66
15) Ebd. S. 92 Was hier nicht berücksichtigt wird, ist die Zeitschiene und der Aspekt der Dynamik. Auch, wer anfangs das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine nicht in Abrede stellte und Unterstützung auch mit Waffen für gerechtfertigt hielt, mag im Laufe der Jahre (!) zu der Einsicht gelangt sein, dass noch mehr Waffen nur noch mehr Tote bedeuten und die Unterstützer nur die Weiterführung des Krieges im Fokus haben, aber nicht seine Beendigung.
16) Ebd. S. 85-88, s. auch Anm. 25
17) Ebd. S. 95
18) Prantl zitiert hier aus dem Werk des Psychoanalytikers Arno Gruen ‚Der Fremde in uns‘, Stuttgart 2000, der sich damit beschäftigt, was aus einem Menschen einen Menschen macht, der tötet.
19) der Ansicht seien viele Menschen im Westen, „Putin ist, nach dem von ihm diktierten Überfall seiner Armee auf die Ukraine, die Personifizierung der Verbrechen gegen Völker- und Menschenrecht; er hat Millionen Menschen heimatlos gemacht, er hat den Tod so vieler Menschen auf dem Gewissen – und den Bruch der europäischen Friedensordnung“, ebd. S. 107f., s. auch S. 111. Auch hier wird es leider unterkomplex, denn bei dem Stichwort ‚europäische Friedensordnung‘ kann man den Aspekt der fahrlässigen oder willkürlichen oder bewussten Nichteinbeziehung Russlands in diese Friedensordnung nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges nicht ausklammern. Immerhin konstatiert Prantl im ersten Kapitel, dass Moskau ebenso zu Europa gehört wie Mariupol oder Marseille, ebd. S. 34
20) Ebd. S. 109 Das ist bisher das erste Eingeständnis einer möglichweisen vorhandenen Vorgeschichte. Dem Juristen glaube ich die Klarheit, dass der Täter der Täter ist und Schluss, dem Journalisten nicht.
21) Ebd. S. 140
22) Ebd. S. 142; er hat Recht, aber da wird der Aufklärer zum Mahner in der Wüste – mit der Brille wäre es nie so weit gekommen, also wo – und von wem – soll diese Bereitschaft ausgehen? Hier zeigt sich die Schwäche der Argumentation des Aufklärers, der es sich mit niemandem verderben will – und schon gar nicht den Vorwurf des Anti-Amerikanismus riskiert, was manchmal einen regelrechten Eiertanz verursacht – siehe im Folgenden zu Steinmeier, Anm. 28.
23) Ebd. S. 147 – Trump als Akteur zu nennen, ist kein Anti-Amerikanismus
24) Ebd., S. 148
25) Ebd., S. 149-50
26) Ebd., S. 151-54; auch hierin hat er recht – man bedenke Fischers Aussagen zum Ukrainekrieg. 1999: Sind die Grünen nicht nur ein Gleichnis für das, was sich gesamtgesellschaftlich wandelte und gewandelt hatte nach sechzehn Jahren Kohl, der Hybris des Westens nach Ende des Kalten Krieges, des Neoliberalismus, der sich nach der Wiedervereinigung austoben durfte, des Schürens von Nationalismus mit der ‚Freude‘, wieder wer zu sein? Und wissen wir nicht, dass Macht korrumpiert?
27) Ebd., S. 155-57 Bis zu dieser Stelle hätte ich ihm keine parteipolitische Spitze unterstellen wollen, obwohl einleuchtenderweise die SPD und die Grünen im Zentrum der aktuellen Politik stehen. Aber was ist mit der FDP oder der CDU? Alles Lämmer? Im Grunde wirft er den Grünen hier vor, dass sie nicht mehr sind, was sie einmal waren und wir eine etablierte Friedensbewegung verloren haben. Kann man in diesem Kontext von einem Journalisten nur den Fakten folgend unterstellen, oder ist es (negative) Parteinahme?
28) Ebd., S. 160-66 Pistorius kommt hier vergleichsweise gut weg, wird nur einmal bei den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien vom November 2023 erwähnt. Die Rolle Steinmeiers steht auf einem ganz anderen Blatt und ich bin versucht, Prantl zuzugestehen, dass man diese Fakten rund um sein Handeln benennen muss, um die Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu verdeutlichen. Wer vielleicht wirklich eine tragische Figur abgibt, ist der Bundeskanzler, er bleibt ohne Erwähnung, tritt nicht als Akteur in Erscheinung, wird nicht getadelt, nicht gelobt, seine Politik nicht kommentiert. Ist das ein Zugeständnis? Ist es die Manifestation der Ansicht, dass er eben nicht genug handelt, oder dass ihm die Hände gebunden sind?
29) Ebd., S. 162f.
30) Ebd., S. 165
31) Ebd., S. 169
32) Ebd., S. 170f. Für meine Begriffe nahezu geschmacklos, warum in der Ukraine in einem Verhandlungsfrieden nicht einfach nach den brachialen Putin’schen Rechtsbrüchen zur Tagesordnung übergegangen werden könne: „Das liegt am Wandel des Kriegs hin zu einem Volkskrieg, damit verbunden einer mentalen Mobilisierung der beteiligten Bevölkerungen, die nicht einfach zum Zwecke eines Friedensschlusses, wieder abgeschaltet werden kann.“ S. 171 Was soll das heißen? Die Kriegsinfizierten müssen sich jetzt abarbeiten? Man muss sie den Siegfrieden anstreben lassen, damit sie selbst merken, dass er nicht zu erringen ist? All die klugen Worte zum Menschen, der zum Mörder wird, der Soldat, der das Töten erst lernen muss - für die Katz! Es ist mir peinlich, solch einen Satz lesen zu müssen, der ein einziges Feigenblatt für interessengesteuerte Geopolitik ist.
33) Ebd., S. 172f – was nach einem eingefrorenen Konflikt klingt, kein Friedensvertrag, keine ‚Bestrafung des Schuldigen‘, keine guten Aussichten für eine europäische Friedensordnung!
34) Ebd., S. 173-75
35) Ebd., S. 176-77. Er kritisiert allerdings, dass im Manifest die Frage der Waffenlieferung an die Ukraine ausgeklammert worden sei, Wagenknecht aber „mit einem kategorischen Nein zu militärischer Unterstützung der Ukraine durchs Land fuhr“ und dabei „einem Teil der Unterstützer des Manifests in den Rücken gefallen“ sei.
36) Ebd., S. 180
37) Ebd., S. 193 Prantl schreibt, Putin sei eine Emmanation dieser Krankheit; auf die Reaktion des Ukrainers: „Krieg tötet, Krieg vergiftet – er vergiftet auch Bühnen und Konzerthallen“. Und darum tragen die anderen Handelnden keine Verantwortung? Das Auslassen dieser Situation als Beispiel dafür, wo jeder dazu beitragen kann, die verhärteten Fronten aufzuweichen, es verpufft. Das alleinige Opfer darf eine alte Frau brüskieren, weil sie Russin ist. Das leuchtet mir nicht ein, es tut mir weh, auch wenn ich davon ausgehe, dass die Mehrheit der Meinung sein wird, es sei einem Ukrainer nicht zuzumuten, mit einer Russin auf einer Bühne zu stehen. Ist es nicht? Da fällt mir eine der früh befreiten israelischen Geiseln ein, die die Hand eines Hamaskämpfers nahm und ‚Frieden‘ rief. Der Geist des Friedens, den Prantl zu beschwören versucht, er wird nicht fruchten, wenn die Ukrainer auf neutralem Boden nicht dazu bereit sind.
38) Ebd., S. 207. Interessant die zitierten Ausführungen Jan Assmanns über das kollektive Gedächtnis, das sich in kommunikatives und kulturelles Gedächtnis teilt, siehe auch Anm. 111, S. 240.
39) Ebd., S. 11
 
Zuletzt bearbeitet:
Danke, liebe Petra, für die ausgiebige Buchvorstellung und deine Auseinandersetzung mit ihm. Anscheinend hat Prantl da ein komplexes Thema auseinandergenommen und sich im Detail um Erklärungen und Antworten bemüht, die dir manchmal einleuchten, oft aber auch nicht - oder du vermisst gerade am jeweiligen Punkt überhaupt genügend Substanz. Es ist wiederholt von "unterkomplex" die Rede. So überraschend ist dieses Fazit nicht, wenn ein so gescheiter Mann einen Themenkomplex mit seinem Wissen und seinem Hintergrund bearbeitet. Je mehr so einer in die Tiefe geht, umso mehr Gedanken und Einsichten fördert er ans Licht. Nur dass der kluge, gut informierte Zeitgenosse beim Mitdenken dann immer wieder für ihn selbst Wesentliches vermisst. (ich finde es z.B. bei Mearsheimer unbefriedigend, dass er kaum auf ökonomische Zusammenhänge eingeht.) Man darf in solchem Fall nicht zu hohe Ansprüche an die Lektüre stellen, kein in sich geschlossenes Gesamtbild mit für einen selbst akzeptabler Gesamtempfehlung erwarten. Es ist geistig anregender Stoff, der zur Überprüfung eigener Standpunkte dienlich sein kann. So scheint es dann im Verlauf deiner Lektüre ja auch gekommen zu sein. Gut möglich, dass ich im Einzelnen überwiegend so wie du auf das Buch reagieren würde.

Vielleicht bist du etwas enttäuscht, da ja "Solidarität" das Motiv für die Lektürewahl war? Nun ja, man halte sich die berufliche Laufbahn des Mannes vor Augen ... Da darf man nicht mit über jeden Zweifel erhabener intellektueller Autorität rechnen. Der Mann hatte Erfolg im praktischen Journalismus und von dessen Gegebenheiten kann er sich auch als freier Autor im Alter nicht komplett lösen. Vielleicht ist das die Crux bei Prantl; zu intellektuell, um nur Journalist zu sein, und doch zu sehr dem Journalismus verhaftet, um wirklich unabhängig urteilen und öffentlich unparteiisch Stellung nehmen zu können.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

danke für die Lektüre und Deine ausführliche Rückmeldung - ich hatte darauf gehofft.
Und Du hast natürlich mit allem recht.

Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass ein Mann seines Formats sich dem Friedensthema widmet - und unter dem Strich kamen viele Denkanstöße dabei für mich heraus. Ich bedauere nicht, es gelesen zu haben - würde ich noch einmal eines seiner Bücher kaufen - wahrscheinlich nicht. Da würde ich eher eines der zitierten Bücher lesen - mich hat der Auszug von Jan Assmann interessiert über das kollektive Gedächtnis.
Aber erst einmal brauche ich wieder literarisches Futter - eigentlich reizt es mich sehr, Kairos von Jenny Erpenbeck zu lesen, das schon eine Weile auf meinem Stapel liegt - zumal Mersmann es in höchsten Tönen gelobt hat. Es wird wohl keine leichte Kost, aber am Wochenende fahren wir für ein paar Tage an die Ostsee und da ist Muße angesagt. Mal sehen.

Die erst einmal nochmals mein herzlicher Dank für Deine Zeit und einen schönen Tag noch
wünscht Petra
 

John Wein

Mitglied
Werte Petra,

Ja, auch ich habe mich über die beiden Prantls gewundert. Meine Sympathie als Journalist der SZ gehörte ihm nicht, aber seit seinen Corona Stellungnahmen als Jurist, betrachte ich ihn differenzierter.

Ich bemerke aber auch in deiner Rezension Prantls Ausführungen das große Fragezeichen, eine ständige Wahrnehmungsverwirrung und deine Erklärungsversuche des getäuschten Sinnhaften. Das sich medial aufblähte Weltgeschehen ständig zu hinterfragen und den sich im Einklang prostituierenden Zeitgeist zu ertragen, ist für den kritischen Geist eine nahezu unmögliche Herausforderung. Tag für Tag sich in dem Brei des unkritischen Denkens und Handelns freischwimmen zu müssen, ist nervenaufreibend. Wir erleben heute einen Paradigmenwechsel in vielerlei Hinsicht. Unsere über die Jahre geformten und gelebten Maßstäbe, Moral, Ethik, Sitte und Wertvorstellungen zerbröseln dabei ins Ungefähre, Gewährleistung für Gültigkeit immer ausgeschlossen.

George Orwells dystopische Vision 1984, eine Welt voller Angst und Schrecken Szenarien (heute Klima Tod, Pandemie, Krieg usw.) ist dabei längst überholt. Die Umdeutung der Werte als Slogan auf der Fassade seines Wahrheitsministeriums:

KRIEG IST FRIEDEN
FREIHEIT IST SKLAVEREI
UNWISSENHEIT IST STÄRKE

Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor!? So stanzt man, wie bei Orwell, Begriffe, Schlagworte, Parolen, Aussagen, in unser Denken, die die meisten Leute ohne sie zu hinterfragen für bare Münze nehmen und als Wahrheit verbuchen. Parole, Agitation, Propaganda und natürlich ist immer alles nur zu unserem Besten. Wer macht sich in schnelllebiger Zeit mit elastischen Richtungswechseln noch die Mühe des Recherchierens? Das tun andere dafür umso eifriger, leider steht da natürlich eine Absicht dahinter. Nach dem man den Meinungen bereits Fesseln angelegt hatte, sind also nun die Gedanken in Umformung.

„Die Gedanken sind frei, wer hat sie erschaffen“, ist heutzutage leider nur noch ein Volkslied ohne Kraft.

Ich wünsche sie Dir!
und Grüße JW
 

petrasmiles

Mitglied
Das sich medial aufblähte Weltgeschehen ständig zu hinterfragen und den sich im Einklang prostituierenden Zeitgeist zu ertragen, ist für den kritischen Geist eine nahezu unmögliche Herausforderung.
Das ist so wahr! Man sollte DAS auf eine Hauswand schreiben!
Vielen Dank für Deine Zeit.

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
V Reiseliteratur
3. Bernhard Weßling, Mein Sprung ins kalte Wasser. Mit offenen Augen und Ohren in China leben und arbeiten *)

Es gibt Bücher, die sind nicht gut geschrieben, die sind nicht leicht zu lesen, sie erwecken wenig Sympathie - und sind doch regelrechte Hirnöffner. So ein Buch hat Bernhard Weßling geschrieben - ein international operierender Selfmademan aus provinziellen Verhältnissen stammend und über eine Erfindung in internationale Geschäftsbeziehungen aufsteigend.

Und ich mache hier etwas, was ich eigentlich sonst nicht mache, nämlich eine Besprechung zu schreiben, bevor ich das Buch zu Ende gelesen habe.
Das muss aber sein, weil mir bis dahin die Schädeldecke weggeflogen sein dürfte. Nach den ersten dreißig Seiten knirschte es schon.
Denn die Schwächen des Buches sind gleichzeitig seine Stärken.

Hier schreibt kein literarisch interessierter Laie und will 'eine Geschichte' erzählen, hier lässt uns jemand an seinen Erfahrungen teilhaben - nicht mehr und nicht weniger. Das sind eine unüberschaubar große Zahl an Fakten, die auch nicht bewertet werden, oder irgendwie eingeordnet, er reflektiert nicht, ist nicht an Zusammenhängen oder Schlussfolgerungen interessiert. Er erzählt einfach seine Erlebnisse und bietet damit ein Zeugnis einer Wahrhaftigkeit, die eben nicht den Anspruch einer Allgemeingültigkeit oder Synthese erhebt, sondern dem Leser überlässt, wie er mit diesen Informationen umgeht.

Es fehlt dem Buch ein roter Faden oder eine chronologische Einordnung von Ereignissen. Es ist in gewisse Themenfelder gegliedert, die keinen intellektuellen Zugriff verraten, sondern rein der Auswahl des Autors geschuldet sind, die sich dem Verständnis des Lesers nicht unbedingt erschließen.

Und da der Autor durch seine Sicht immer im Zentrum steht, bekommt man den Eindruck, er schreibt nur von sich und dem, was er alles geschafft hat. Was natürlich stimmt, und nicht stimmt. In die Falle, sich mit der Person auseinanderzusetzen, die dies erlebte, solle man nicht geraten.

Gegen Ende widmet er noch seine Aufmerksamkeit dem 'Handelskrieg der USA gegen China' und er beschäftigt sich mit der Frage 'Was sind die Gründe für anti-amerikanische (anti-westliche) Gefühle in China', aber da bin ich noch nicht, vielleicht gibt es noch einen Nachschlag.

Also warum so früh diese Empfehlung?

Zuallererst gibt Weßling Hinweise auf die Dimensionen dieses Landes, die unvorstellbare Bevölkerungsdichte in den vielen, vielen Zentren und wie diese vielen Leben sich organisieren. Und mir ist sofort klar geworden: Das lässt sich nicht 'regieren', jede Staatsmacht' kann nur versuchen, diesen wuseligen Drang unzähliger Einzelinteressen zu kanalisieren, mit mehr oder weniger Erfolg. Was man sich als 'verwöhnter Europäer' gar nicht vorstellen kann, ist die Notwendigkeit aller Individuen, sich in der Masse der 'Mitbewerber' eben ohne staatlich organisierte, soziale Unterstützungsstrukturen ein Leben aufzubauen. Im Zentrum dieser Lebensorganisation steht die Familie, das erste Netzwerk, an das sich viele weitere anknüpfen.
Was man ganz schnell feststellt, ist, dass man das alles gar nicht verstehen kann, dass man gar nicht genug Informationen bekommen könnte, um belastbare Bewertungen vornehmen zu können, weil dies verlangte, dass man die eigene Prägung außen vor lassen müsste. Das fängt damit an, dass man dieses Land als 'China' subsummiert, wo dies nur die nach außen sichtbare, eine Einheitlichkeit suggerierende Macht darstellt. Ich habe mal wo gehört oder gelesen, dass es den Chinesen in ihrer jahrtausendealten Kultur geradezu egal wäre, welche Zentralmacht gerade regiert - bezogen auf Dynastien oder Monogolen - oder Kommunisten. Mir wird jetzt erst klar, wie wahr dieser Ausspruch sein könnte. Nach den ersten 90 Seiten des Buches bekommt man eine Idee davon, wie sehr die Familienorganisation das soziale Leben trägt und beherrscht - von alters her bis heute. Diese Organisation - das ist mein Schluss aus den wenigen Seiten bisher - ist die Antriebskraft eines jeden, und nicht die Folge einer irgendwie gearteten staatlichen Politik; diese kann nur versuchen, die Möglichkeiten zu bieten, dass sich diese Kraft der Milliarden entfalten kann und eine Balance zu halten versuchen, dass sich diese Einzelinteressen nicht gegeneinander richten. Ich habe das noch nie so gedacht, aber der Staat, das sind die Menschen. Das passt nur nicht in unser Bild.

Und er beschreibt, wie er auf einer vierstündigen Autofahrt aus einer der Multimillionenstädte drei Jahrhunderte durchquert, indem er an ihrem Ende Orte ohne Anbindung an Strom oder sonstige Infrastruktur erreicht, in denen die Kinder nackt auf der Straße spielen. Das allein schon zeigt die für europäische Vorstellungen nicht nachvollziehbare Bandbreite an Realitäten und Verhältnissen.

In Bezug auf China müsste man sich eigentlich hinstellen und sagen: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Aber das ist nicht die westliche Art. Wie kolonialistisch eigentlich die westliche Politik - und ganz besonders die deutsche Außenpolitik - wirklich sind, verrät einen Grad an Dummheit, der dem Untergang vorauszugehen scheint. Denn es wird klar: Das Problem bei der westlichen Nabelschau ist die Illusion, die Welt und ihre Herausforderungen seien überschaubar. Sie nährt den Wahn, die eigene Sicht sei irgendwie auf alles übertragbar und allgemeingültig. Die Amerikaner machen das mit ihrem Wirtschaftsimperialismus, Europa und insbesondere Deutschland mit seiner Wertepolitik. Man hat es noch immer nicht verstanden, dass der Verabsolutierung der eigenen Werte eine Ignoranz und Überheblichkeit innewohnt, die nur zu Konflikten führen kann.
Was der Westen ganz dringend bräuchte, wäre ein Sinneswandel hin zu Augenhöhe, die Respekt für Andersdenkende und Andersseiende voraussetzte, aber das bekommen wir ja schon innergesellschaftlich nicht hin.
Was auch immer ich noch herausfinden werde, das eine steht schon jetzt fest: Deutschland ist ein Fliegenschiss in der Geschichte, und um so eher wir uns das eingestehen, desto größer ist die Aussicht, das Bewahrenswerte unserer Kultur zu retten.




*) Verlag am Park, Berlin 2023
 
Möglich, Petra, dass dieser Buchtipp als der mit der größten Relevanz bisher angesehen werden kann (jedenfalls aus meiner Perspektive), und das gerade im Hinblick auf die Schlüsse, die du im letzten Absatz aus der bisherigen Lektüre ziehst. Das ist so gerade auch mein Kompass. Ich kann mir vorstellen, das Buch selbst zu lesen, ich bitte zuvor nur um eine Ergänzung aus deiner Sicht nach Abschluss der Lektüre.

Ich habe mal wo gehört oder gelesen, dass es den Chinesen in ihrer jahrtausendealten Kultur geradezu egal wäre, welche Zentralmacht gerade regiert - bezogen auf Dynastien oder Monogolen - oder Kommunisten.
Ja, es gibt das uralte geflügelte Wort; Die Macht des Kaisers endet an der Dorfhecke. - Es überrascht mich, das diese Einstellung noch immer so stark zu sein scheint. Vermutlich machen wir uns im Westen keine rechte Vorstellung vom hohen Alter chinesischer Traditionen und von deren starkem Beharrungsvermögen. Das allgegenwärtige Geschwätz von Autokratie deckt auch das zu, zu unserem Schaden.

Auf später in dieser Sache
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Das mache ich auf jeden Fall, Arno. Die Kapitel haben unterschiedliche Relevanz.
Er hat auch sehr viel online gestellt - zumindest Fotos. Die links werde ich noch teilen.

Liebe Abendgrüße
Petra
 

John Wein

Mitglied
Werte Petra,
Es ist schon erstaunlich, mit welcher Ausdauer und stoischer Gemütsruhe Du Dich durch Literatur und Schreibarbeiten durchackerst und dabei auch noch Muse empfindest, uns das nahezubringen.
Ich denke, Du erwartest sicher nicht, dass wir dieses Buch lesen werden, aber es ehrt Dich, es für uns zu tun, es uns zu erklären und Deine Gedanken dazu zu offenbaren.
Nun interessiert ja in China niemand, wenn auf der Welt ein Sack Reis umfällt, schon gar nicht in Europa oder gar Deutschland. Die tun unsere gefühlt anmaßenden Ratschläge und politischen Überheblichkeiten einfach in die Ablage "unwichtig".
China ist, wie Du anmerkst, ein Kosmos für sich und der anderen Art, als der unseren. Es ist mit einer mehrere tausend Jahre gewachsenen und entwickelten Kultur ausgestattet, die sich der unseren weit überlegen fühlt und z.T. auch ist. Das verlangt Respekt, auch Demut und nicht missionarisch ereifernde Mahnungen oder Warnungen.
Wenn ein auskömmliches Miteinander nicht möglich sein sollte, aus welchem Grund auch immer, dann eben ein respektvolles Nebeneinander. Es ist schon erstaunlich, in welch kurzer Zeit und mit welcher Plumpheit und Rotzigkeit hier chinesisches Porzellan zerschlagen wird. Die Chinesen rechnen in längeren Zeiträumen als nach Legislaturen. Zum Glück für uns!
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber John,

das ist mir tatsächlich ein Bedürfnis, diese Sachen mit Euch zu teilen - nein, lesen muss man das (alles) nicht.
Es hat ja mit den eigenen Bedürfnissen und Interessen zu tun. Ich hatte China immer ein bisschen ausgeklammert, weil ich noch in dieser alten Bildersprache gefangen war und mit dem 'modernen China' fremdelte. Doch das kann man sich heutzutage nicht mehr leisten.

Ich würde nicht in Begriffen von Über- oder Unterlegenheit sprechen, sondern man muss den individuellen Sinnzusammenhang begreifen. Manche Länder sind riesig und eigentlich kaum regierbar. Gerade China (wie auch Russland) hat unglaubliche Armut in der Bevölkerung erlebt, die innere Befriedung durch ein auskömmliches Leben steht an erster Stelle. Das jeweilige Leben setzt unterschiedliche Energien frei; daraus ergeben sich unterschiedliche Stärken und Schwächen und es ist eher die allgemeine Zeitqualität, welche Stärken sich durchsetzen. In China (wie auch in Russland) kommt hinzu, dass sie sich dem Kapitalismus geöffnet haben, was eine Dynamik in Gang gesetzt hat, die anorganisches Wachstum begünstigt. Eigentlich leiden wir alle unter dem Kapitalismus und die Unterscheidung in Demokratien und Autokratien ist ein Witz, der nichts erklärt.
Natürlich sieht man die europäische 'Dekadenz', die sich im Vergleich ergibt, aber ich möchte die geistesgeschichtlichen Traditionen nicht kleingeredet wissen - und auch den Individualismus - und den Sozialstaat - nicht. Es kommt darauf an, wie man seine Stärken nutzt - und das geschieht hier eben gerade nicht.
Das ist die Tragödie.

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Hier kommt der zweite Teil zu Weßling - und wir sind noch nicht halb durch.

Weßling 2



Nun möchte ich doch einmal kurz auf die Person eingehen, weil dies viel zum Verständnis beiträgt, wie man sein Buch einschätzen kann.

Ich möchte dazu das Bild eines wissenschaftlichen Naturburschen bemühen, der mit der Eigenschaft gesegnet ist, einerseits sehr vielfältig interessiert zu sein – und vor allem seinem Selbst-Denken vertraut – und zum anderen vollkommen unprätentiös an die Gegenstände seines Interesses herangeht. Seit Mai macht er Furore mit seiner Bestandsaufnahme, dass die Bemühungen der CO2-Speicherung eine Milchmädchenrechnung wären, denn für diese Speicherung würde mehr Energie aufgewendet als man durch die Speicherung gewinnt – mit meinen Worten gesagt. Man könnte meinen, er sei der Junge aus dem Märchen, der sich traut zu sagen, der Kaiser sei ja nackt.

Er ist dabei nicht uneitel – wie auch seine Website verrät https://www.bernhard-wessling.com/. Sie verrät aber auch, dass er an ziemlich viel recht hemdsärmelig herangeht und gewöhnt ist, Entscheidungen zu treffen. Er ist sein eigener Messbecher, was gleichzeitig beeindruckt, aber auch nerven kann. Und vor allem ist er extrem fleißig – was jeden Selbständigen auszeichnet, sofern er denn Erfolg hat.

So viel dazu, denn der Aufbau des Buches spiegelt genau das wider. Es hat (ohne Vorwort) siebenunddreißig Kapitel, manche kaum eine Seite, Anlagen mit zwei Überschriften und dann noch zwei nachfolgende Kapitel. Da hat jemand in nicht nachvollziehbarer Manier Inhalte zusammengeklöppelt.

Ich mache mir einmal die Mühe, diese hier aufzuzählen (die Nummerierung stammt von mir):

  • So fing alles an
  • ChangChun
  • Joint-Venture-Verhandlungen
  • „Was ist, wenn alle in die Stadt wollen“
  • Mit Bundeskanzler Schröder und den Wirtschaftskapitänen nach China
  • Meine Furcht vor ShenZhen
  • Chinesische Dimensionen
  • Die ersten Schritte
  • Die junge Stadt ShenZhen
  • Einige der Menschen in ShenZhen
  • Unser Fahrer
  • Fußball in ShenZhen
  • Gan Bei
  • Die Ausstellungen
  • Wie gründe ich in China ein Unternehmen?
  • Natur im Stadtmoloch ShenZhen
  • Kleinunternehmer
  • Die Angestellten
  • LangLang und ich weihen die neue Konzerthalle ein
  • Ich versuche, Chinesisch zu lernen
  • Im Krankenhaus
  • Börsenhype mit Top und Flop
  • Lärm
  • Zahnschmerzen
  • Die Hauptstadt der Kriminalität‘‘
  • Selbstmordserie bei Foxconn
  • Olympische Spiele 2008
  • Erlebnisse im Botanischen Garten
  • Kinder bekommen und großziehen mit Freud und Leid
  • Kurios: Eine Weltmeisterschaft mit 33 Mannschaften
  • Das chinesische Neujahrsfest
  • LaoWei spielt nicht nur Fußball
  • Ein neuer Blickwinkel – einige Reisen in China
  • Eine neue Rolle
  • Die chinesische Kunst der List, oder: Wer sich austricksen lässt, geht unter
  • Handelskrieg der USA gegen China
  • Abschied von China
Und als ‚Anlagen‘
  • Etwas mehr über die Technologie, die LaoWei in China einführte
  • SheKou 1984
Und die Zusatzkapitel:

Merkwürdige Feststellungen über China

Und ‚Was sind die Gründe für anti-amerikanische (anti-westliche) Gefühle in China?‘

Und dann sind die 401 Seiten gelesen.

Vorwort (Wozu dieses Buch nicht dient, wozu es aber gedacht ist) und die ersten elf Kapitel sind sehr interessant, bewirkten jenen Schädeldeckeneffekt (das sind rund 50 Seiten). Kapitel zwölf und dreizehn geben viel Aufschluss darüber, wie er ‚es gemacht hat‘, an seine Eindrücke zu kommen – indem er begeisterter Fußballer und erfahrener Torwart war. Kapitel 14 schildert eine Begegnung, wie er an seinen chinesischen Namen ‚LaoWei‘ bekam und Kapitel 15, was vielleicht für manche das Interessanteste wäre, schildert nur, wie er es gemacht hat, wie es wahrscheinlich nicht wiederholbar wäre und nur dank guter Kontakte und viel Unterstützung gelang und zu einem Bruchteil des ansonsten üblichen Kostenaufwands. Da sind sie wieder die Stärken, die die Schwächen sind – so, wie er es gemacht hat, kann man es nicht kopieren, aber gleichzeitig zeigt er, wie man es machen muss: Begegnungen suchen, sich einlassen auf Anregungen, sich einbringen wollen – und nicht zuletzt die Sprache lernen.

Warum er sich dann in Kapitel 16 über Gärten und Vögel auslassen muss, weiß nur er allein (Es hat zwölf Seiten, das über die Unternehmensgründung nur neun).

Die beiden Kapitel über Kleinunternehmer (17) und Angestellte (18) sind dann wieder sehr aufschlussreich bzgl. Mentalitäten, die sich erkennen lassen. Schon zu Anfang des Buches zeigt er ein Photo über eine Reihe von Friseuren, die ihrem Gewerbe auf der Straße nachkommen (wo ausschließlich Männer Kunden sind), eine junge Frau, die gerne liest und mit einem Freund einen fliegenden Obststand aufmacht, um lesen zu können, während sie auf Kundschaft wartet. Ob man sich einfach auf die Straße stellen kann, ob man einen Gewerbeschein braucht und Steuern abführen muss, das erfährt man nicht. Vielleicht sind das aber auch typisch deutsche Fragen. Bei den Angestellten berichtet er über die Erfahrungen mit Netzwerken und ging für seine eigene Firma dazu über, nur noch nach Empfehlungen vertrauenswürdiger Menschen einzustellen – und selbst Chinesisch zu lernen (beides auf zwanzig Seiten).

Das Kapitel 19 gehört wieder zu den überflüssigen, es sei denn, man möchte wissen, warum er Lang Lang in Deutschland nicht so toll fand, dann in China aber seine Meinung änderte. Auch Kapitel 20 erzählt mehr von den Mühen – und dem Fleiß – und seinem berechtigten Stolz, als er sich mehr und mehr auch im professionellen Bereich sprachlich einbringen konnte - und er lässt den Respekt spürbar werden, der einem entgegengebracht wird, wenn man ihn selbst erweist.

Auch ‚Im Krankenhaus‘ (21) erzählt von den Besonderheiten, und wie er aufgrund seiner Kontakte – und Kontakten von Kontakten – durch die wartenden Massen geschleust wurde. Interessanterweise ist die Sprechstunde bei den Ärzten im Krankenhaus incl. Diagnose in gewisser Weise öffentlich. Der Schreibtisch des Arztes steht quasi im Wartesaal und im öffentlichen Gespräch legt er fest, welche Untersuchungen in welchen Abteilungen gemacht werden müssen und wenn man dann zurückkommt, wird die weitere Behandlung gleichfalls öffentlich besprochen. Er spricht davon, man müsse die Behandlungen bezahlen, an anderer Stelle spricht er von Vorleistung – was es für ein Gesundheitssystem gibt, ob es zum Beispiel auch niedergelassene Ärzte gibt – erfährt man nicht.

Auch das Kapitel 22 über den Börsenhype kann man getrost überspringen, es geht um die Fußballerrunde und wie sie alle sich gegenseitig übertrumpfen wollten mit ihren Aktiengewinnen, bis dann 2008 die Blase platzte.

Mit Kapitel 23 über den Lärm sind wir schon auf S. 162 und wir erfahren auf zweieinhalb Seiten, dass er sehr lärmempfindlich ist, durch China ein bisschen abgehärtet wurde und die Amerikaner die Lautesten sind. Ähnlich viel erfährt man vom Zahnarztbesuch bei einem (niedergelassenen) Zahnarzt Sonntag früh um 10h. Es gibt aber auch Praxen, in denen man auf dem Behandlungsstuhl im Schaufenster sitzt – in China sei alles öffentlich. Ähnlich zu vernachlässigen ist das Kapitel 25 über die Kriminalität. Eigentlich schwadroniert er, gibt zu, er weiß es nicht und das Kapitel gipfelt in der Aussage, er fühle sich in New York bedrohter als in ShenZhen – und einmal sei ihm ein Fahrrad geklaut worden.

Wir sind auf Seite 172.

Fortsetzung folgt!
 
Schon diese Zusammenfassung war mir eine interessante Morgenlektüre, Petra. Besonders gilt das für die Arztbehandlung in der Öffentlichkeit. Bei uns so undenkbar. Ich war vor Tagen bei meiner Hausärztin und sie rastete aus, als sich Bauarbeiter auf dem Gerüst an der Fassade zeigten. Sie waren zwar noch weit vom Fenster entfernt und zeigten kein Interesse an den Vorgängen im Sprechzimmer, aber es ist ihnen überhaupt untersagt, dort während der Praxisöffnung zu arbeiten.

Den Namen des Autors kann ich mir leicht merken oder ins Gedächtnis rufen. Die Eselsbrücke: Berndt W. Wessling (1935 - 2000), von dem ich mal etwas gelesen habe. Jetzt fehlt nur noch, dass sie miteinander verwandt sind. Unserer hier - entgegen #72 ebenfalls mit "ss" - ist ja außerdem Kranichforscher und auch sein Buch über den Zufall könnte interessant sein.

Angeregte Morgengrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass beim Einfügen die Nummerierung umgewandelt worden war.
Zur besseren Orientierung hier erneut das Inhaltsverzeichnis.

  1. So fing alles an
  2. ChangChun
  3. Joint-Venture-Verhandlungen
  4. „Was ist, wenn alle in die Stadt wollen“
  5. Mit Bundeskanzler Schröder und den Wirtschaftskapitänen nach China
  6. Meine Furcht vor ShenZhen
  7. Chinesische Dimensionen
  8. Die ersten Schritte
  9. Die junge Stadt ShenZhen
  10. Einige der Menschen in ShenZhen
  11. Unser Fahrer
  12. Fußball in ShenZhen
  13. Gan Bei
  14. Die Ausstellungen
  15. Wie gründe ich in China ein Unternehmen?
  16. Natur im Stadtmoloch ShenZhen
  17. Kleinunternehmer
  18. Die Angestellten
  19. LangLang und ich weihen die neue Konzerthalle ein
  20. Ich versuche, Chinesisch zu lernen
  21. Im Krankenhaus
  22. Börsenhype mit Top und Flop
  23. Lärm
  24. Zahnschmerzen
  25. Die Hauptstadt der Kriminalität‘‘
  26. Selbstmordserie bei Foxconn
  27. Olympische Spiele 2008
  28. Erlebnisse im Botanischen Garten
  29. Kinder bekommen und großziehen mit Freud und Leid
  30. Kurios: Eine Weltmeisterschaft mit 33 Mannschaften
  31. Das chinesische Neujahrsfest
  32. LaoWei spielt nicht nur Fußball
  33. Ein neuer Blickwinkel – einige Reisen in China
  34. Eine neue Rolle
  35. Die chinesische Kunst der List, oder: Wer sich austricksen lässt, geht unter
  36. Handelskrieg der USA gegen China
  37. Abschied von China
Und als ‚Anlagen‘
  1. Etwas mehr über die Technologie, die LaoWei in China einführte
  2. SheKou 1984
Und die Zusatzkapitel:
  1. Merkwürdige Feststellungen über China
  2. Und ‚Was sind die Gründe für anti-amerikanische (anti-westliche) Gefühle in China?‘


Weßling 3

Nun also die Selbstmordserie bei FoxConn (26). Ausgangspunkt für diese Betrachtungen ist ein Vorfall, in dem der Sohn eines Bekannten eines Bekannten sich vom Dach der Firma gestürzt hatte und sein Umfeld rätselte, was der Anlass dafür gewesen sein könnte. Die Eltern meinten, es habe an der privaten Situation gelegen, weil er keine Freundin finden konnte. Der Sohn hatte sie finanziell unterstützt. Andere meinten, der Druck bei der Arbeit sei zu hoch gewesen. FoxConn sei ein taiwanesisches Unternehmen und der Ton dort sei sehr viel rauer als in chinesischen Unternehmen. Eine schnelle Analyse von Selbstmordraten weltweit sah China im Mittelfeld, auch das Unternehmen selbst habe keine signifikant höhere als der Durchschnitt. Man kam überein, dass es an dem schnellen Wachstum und der Gier nach Geld liegen würde, dass Menschen aus der Spur geraten – wobei auch die Partnersuche durchaus schwierig sei und Reichtum ein alles überstrahlender Messbecher geworden sei. Hier mal ein Einschub zur 1-Kind-Politik. Ich wusste z.B. nicht, dass die nur für Han-Chinesen und nur in den Städten galt. Mittlerweile ist es verboten, bei der pränatalen Diagnostik das Geschlecht des Kindes zu verraten. Ob das viel nützt?

Interessant aber, dass offensichtlich Taiwanesen in China Firmen haben können. Das klingt für mich nach einer verträglichen Zusammenarbeit und lässt die chinesischen Bestrebungen, sich Taiwan einzuverleiben, in einem anderen Licht erscheinen. Sollten die martialisch vorgetragenen Ansprüche so etwas wie eine Floskel sein?

Dass das Kapitel wieder mit Erlebnissen auf dem Fußballfeld endet (vier von zehn Seiten) – geschenkt.

Die Olympiade von 2008 (Kap. 27) wird in China begeistert aufgenommen. Vorsorglich seien Sicherheitsmaßnahmen verschärft worden – Visabeschränkungen, Grenzen, das Internet. Zum Fackellauf seien alle auf den Beinen gewesen. Die westliche Kritik an der chinesischen Tibet-Politik (in Frankreich sei eine behinderte Sportlerin angegriffen worden) könne sein Umfeld nicht verstehen. Tibet habe noch unter den Briten ein Feudalsystem gehabt und es habe Leibeigenschaft gegeben. Jetzt ginge es den Tibetern viel besser, sie seien eine geschützte Minderheit und hätten privilegierteren Zugang zum Bildungssystem als die Han-Chinesen. Schon bald wurde die Freude von einem Erdbeben in China überschattet und es gab im ganzen Land große Anteilnahme und Hilfsaktionen.

Kapitel 28 über den Botanischen Garten erspar ich uns.

Das nächste Kapitel um die Aufzucht von Kindern (29) ist wieder sehr aufschlussreich. Was Wesseling schildert, und was er in seinem Umfeld erlebt hat, ist außergewöhnlich, nämlich die Rolle der Großmütter, die sich bei der jungen werdenden Familie einquartieren und die Aufzucht übernehmen. Dadurch, dass verstärkt junge Menschen in die großen Städte abwandern, kann es sein, dass die Großmütter mit dem Kind tausend Kilometer entfernt leben, während die jungen Eltern arbeiten. Im geschilderten Fall haben die Eltern eine zweite Wohnung in der Stadt finanziert, die sie beziehen werden; teilweise werden dafür auch Rücklagen für die Altersversorgung verwendet und die Eltern können sicher sein, dass das Geld zurückgezahlt wird und die Kinder sie im Alter unterstützen werden. Dieses Leihen in Familien und im Freundeskreis ist gang und gäbe und jeder könne sicher sein, sein Geld zurückzubekommen. Das Sozialsystem in China sei sehr dünn und löchrig; ohne die Familie wären manche Härten des Lebens nicht zu meistern. Er spricht auch die Entwicklung an, dass manche Eltern aus Sorge, ihrem Kind den bestmöglichen Start ins Leben zu ermöglichen, frühkindliche Förderung in 10-Stunden-Tage münden lassen und weil die Ausbildung in Hongkong besser sei, sie dorthin zu karren.

Man bekommt ein Gefühl dafür, was diese Dynamik der Märkte mit den Menschen macht – schon eingangs hatte Weßling erzählt, dass die Chinesen ein besonderes Verhältnis zum Wettbewerb hätten. Beispiel Straßenverkehr: Wenn sich jemand an der roten Apel durch waghalsige Manöver an die Spitze der wartenden Kolonne mogelt, dann wird er dafür nicht kritisiert, sondern bewundert. Man selbst hätte sich ja auch anstrengen können. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie sinnlos es ist, solche Mentalitätsfragen zu bewerten, oder gar zu kritisieren. Nur, weil wir es nicht in den Kopf bekommen – oder für uns ablehnen -, haben wir nicht das Recht, anderen zu sagen, dass sie es falsch machten.

Witzig das Kapitel über die 33. Mannschaft bei einer Weltmeisterschaft (2010 in Südafrika) – die Chinesen seien fußballbegeistert und bildeten die größte Gruppe der Zuschauer weltweit. Warum sie aber die 33. Mannschaft sind? Weil die meisten Produkte aus China kamen incl. der Vuvuzelas.

Fortsetzung folgt
 

petrasmiles

Mitglied
Weßling 4

Im Kapitel über das chinesische Neujahrsfest (31) bekommt man einen Einblick einerseits in die religiöse Grundausstattung in China und Weßling weist auf die eklatanten Unterschiede zu den monotheistischen Religionen hin; in China fehle jedes Verständnis dafür, für eine Religion zu kämpfen oder sterben zu wollen. Andererseits erfährt man auch viel über die familiären Gepflogenheiten, die das bisher Gesagte untermauern und man ahnt den Wandel. Ein sehr wichtiges Kapitel, das die tief verankerten sozialen Verhältnisse dokumentiert, die in der Vormachtstellung der Mutter des Mannes liegt.

Im nächsten Kapitel (32) gibt Weßling ein wenig Aufschluss über seinen Werdegang und was ihn überhaupt in diese Situation gebracht hat, dreizehn Jahre in China zu leben. Das hat auch mit dem Wirtschaftswandel zu tun. Bis zum Jahr 2001 wurden 60 % der Leiterplatten, für die Weßling eine besondere Beschichtung erfand, in Europa und den USA produziert; gemeinsam mit Korea, Japan und Taiwan belieferten sie 90% des Weltmarkts. Schlagartig wanderten die Firmen nach 2001 aus und in weniger als zehn Jahren produzierten Europa und die USA nur noch knapp 10 % und in China allein 60%. Der Produzent musste seinen Kunden folgen. Was er dann schildert, ist seine Erfolgsgeschichte und er entzaubert das Besondere der chinesischen Kultur, auf das Berater so gerne herumreiten. Für ihn ist das Zauberwort: Vertrauen. Zum einen durch die Verlässlichkeit und ehrliche Kommunikation – die man nur durch harte Arbeit erwerben könne – und das sei in den übrigen Teilen der Welt nicht anders. Wenn man aber nur für ein zwei Wochen einfliegt und erwartet, dass sich alles um den eigenen Terminkalender drehen muss, stellt man es ist nicht her. Sehr einfach – und nichts für Leute, die gerne ihr ‚Spezialwissen‘ verkaufen möchten. Was er einräumt ist, dass man einen langen Atem haben muss, denn schnell vertrauen die Chinesen nicht. Seine Geduld – und sein stetiger Einsatz – haben sich bezahlt gemacht, denn er war nach eigenen Angaben mit seinem Produkt Weltmarktführer in seinem Segment. Und er nennt noch einen zentralen Satz, den ich hier zitieren möchte: „Wie in Deutschland wird auch in China der größte Anteil des Bruttosozialprodukts von Einzelunternehmern, Klein- und Mittelunternehmen erwirtschaftet. In dieser Sphäre ist gegenseitiges Vertrauen der Schmierstoff.“*) Und er sagt, dass er sich immer zurückgezogen hat, wenn der Schmierstoff Bestechung sein sollte, denn mittelfristig würde dies das Vertrauen zerstören. Unglücklicherweise sei Korruption aber ein Thema in China. Es ist das bei weitem umfangreichste Kapitel und entschädigt für alle ‚Irritationen‘.

Einen spannend zu lesenden Abstecher macht er in seine Erfahrungen mit dem amerikanischen Konzern, dem er seine Firma verkauft hatte und für die er als Berater beim Kunden tätig war. Nur Ärger und Unzuverlässigkeit, nachhaltige Zerstörung der Kundenbeziehung. Wer schon einmal für oder mit amerikanischen Firmen gearbeitet hat, kann bestätigen, dass der kurzfristige Erfolg wichtiger ist und man sich über jeden Dollar freut, den man (ungerechtfertigter Weise) nicht bezahlen muss. Das ist diese Wild-West-Mentalität, die ihre Auswüchse bis in die Politik hinein hat, aber dies nur am Rande.

Der immense Druck, der auf allen Bereichen seines Geschäftslebens lastete, ist der Rasanz geschuldet, die chinesischen Projekten innewohnt und er listet eine Reihe von Projekten auf, die in kürzester Zeit realisiert worden sind über den Ausbau des Elektro-ÖPNVs über Fabriken und Flughäfen, die ständig den sich ändernden Vorkommen angepasst werden. Sehr interessant auch seine Hinweise, inwieweit die Denkgewohnheiten die Kommunikation erschweren können; im Detail wäre das zu komplex, aber soviel sei gesagt: er stellt sein westliches Denken und seine deutsche Universitätsausbildung gegenüber der chinesischen Denkungsart von Yin und Yang und der beiden innewohnenden Potenz einer Balance, wodurch Theoreme einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit nur schwer vermittelbar sind – soweit ich das verstanden habe.

Der Mann kann nicht anders, da will er von seinen – endlich mal touristischen Reisen erzählen (Kap.33) als er an das westliche Ende der Chinesischen Mauer reist und wieder wird es ein Vortrag – über die Umweltaktivitäten Chinas bei der Umstellung des ÖPNVs auf Elektro, bei Sonnenenergie, Windenergie, der Aufforstung. Ja, er ist ganz schön parteiisch in diesen Momenten, aber es bringt auch zum Nachdenken, wenn man statt zersplitterter regionaler Zuständigkeiten eine planwirtschaftliche Zentralregierung hat. Man möchte sich das nicht wünschen, aber man muss anerkennen, dass sie aus ihren Verhältnissen das Beste daraus machen, so wie wir aus unsren.

Der Rest der Reisen rankt sich (mal wieder) um seinen Eigensinn, wie er es haben und genießen möchte – eben nicht wie die Chinesen, die sich in kürzester Zeit möglich viel ansehen möchten. Man kann ihn verstehen, aber das ist jetzt nicht von allgemeinem Interesse.

Ich denke mal, ein weiterer Teil wird es noch werden.

Fortsetzung folgt.


S. Ebd. S. 247
 



 
Oben Unten