V Reiseliteratur
1. Martha Gellhorn, Reisen mit mir und einem anderen. Fünf Höllenfahrten, Originalausgabe Travels with Myself and Another, Eland Books London 1978, deutschsprachig, Dörlemann Verlag AG Zürich, 2011, Neuauflage Fischer Taschenbuch 2018.
Für Martha Gellhorn bzw. vorliegendes Buch muss man eigentlich eine eigene Rubrik kreieren und da ich Reiseliteratur liebe, wird es hiermit eine solche geben.
Martha Gellhorn, mit der ich mich zuvor nicht eingehender beschäftigt hatte, erweist sich in diesem Buch mit einer Reihe von Reisen, die sie zu den schlimmsten zählt, die sie je machte, zu einer einnehmenden Persönlichkeit. Zu einer Pionierin macht sie schon ihr Freiheitswille, ihre große innere Unabhängigkeit und ihr Wagemut, sich zu Zeiten auf die Reise begeben zu haben, als entweder Krieg war, und/oder von Infrastruktur keine Rede sein konnte.
Während der Zeit des chinesisch-japanischen Krieges wollte sie unbedingt nach China, einen Auftrag als Kriegsreporterin im Gepäck und während des Zweiten Weltkriegs suchte sie in der Karibik nach Spuren des Krieges – und fand doch nur Spuren des Geldes – und in Ost- und Westafrika wollte sie sich auf einer privat finanzierten ‚Safari’ von Sinneseindrücken überwältigen lassen und fand Kolonien in Auflösung vor. In den Siebzigern führte sie eine Reise nach Russland inspiriert durch eine Brieffreundschaft mit einer 72jährigen russischen Autorin und an Israels Küste fand eine Begegnung mit ganz anderen Reisenden statt: Blumenkindern, die in Naturcamps abhingen, von Indien schwärmten und im Rausch Zeit aßen.
Reisen ist ihr Lebensthema. 1937 ging sie mit Ernest Hemingway nach Spanien, trampte durch Europa und fand sich immer wieder als Kriegsreporterin in den Krisengebieten dieser Welt ein.
Ich bin mit ihrem Werk noch nicht vertraut und würde aufgrund dieser Lektüre behaupten, dass sie nicht wirklich eine literarische Entdeckung ist. Aber sie besticht durch ihre Freimütigkeit und Abenteuerlust. Es ist immer interessant, worüber und wie sie schreibt und man bekommt einen Eindruck, was der Engländer meint mit ‚one of a kind’. Dabei sind es nicht die ‚Abenteuer’, die die Lektüre so spannend machen, sondern ihre Einsicht in Verhältnisse längst vergangener Zeiten. Als Reporterin verarbeitet sie, was sie selbst aufnimmt, und kommt immer wieder zu verblüffenden Erkenntnissen.
Früher dachte ich immer, der ‚Journalist’ stünde irgendwie immer über dem Rest, erst recht über den Reportern, die sich im Gelände herumtreiben müssen, während erstere gemütlich an Schreibtischen sitzen bleiben und über die wirklich wichtigen Sachen schreiben dürfen. Aber ich zögerte, sie als Journalistin zu bezeichnen, weil sie viel mehr als das ist. Mittlerweile verschwimmen die Grenzen zwischen ‚Journalist‘ und ‚Moderator‘ und gerade in politischen TV-Magazinen fragt sich, ob die Person, die die Beiträge vorstellt, Journalist ist, weil sie diese Texte selbst schreibt. Heute würde man vielleicht ‚investigativer Journalist‘ über sie sagen.
Ich will aber den ‚Journalismus‘ aus vergangenen Tagen nicht in den Himmel loben, denn natürlich waren es Zeiten, in denen die Nachrichtendichte und ihre Überprüfbarkeit aus manchen Regionen der Welt nicht besonders groß war. Es wäre interessant, ihren Artikeln mal auf die Spur zu kommen, aber das kann dieser Text natürlich nicht leisten.
Martha Gellhorns besonderen Charme macht auch ihre Freimütigkeit aus, zuzugeben, wenn ihre Selbstüberschätzung zu dem einen oder anderen Desaster beitrug. Und sie verhehlt auch nicht, wie schwierig und eigensinnig sie sich und anderen das Leben schwer machen konnte. Aber auch das ist faszinierend, dass man die Gelegenheit bekommt, sie wirklich kennen zu lernen (und vielleicht zu dem Schluss kommt, dass man sie lieber nicht in seinem Umfeld hätte haben wollen …). Ohne diese Offenheit bräuchte man eigentlich gar nicht schreiben.
Und natürlich erkennt man an diesen Texten auch, dass sie lange vor einem Bewusstsein von political correctness geschrieben aber vor allem erlebt worden sind. Ihre Beobachtungen und Einschätzungen in und zu Afrika ist wohl nichts für woke Ohren und auch ich dachte manchmal, ob das eine klare oder von Vorurteilen getrübte Sicht auf die wahren Verhältnisse ist.
Sigrid Löffler, die zur deutschsprachigen Ausgabe (2010) ein Nachwort schrieb, sieht hier durchaus latenten Rassismus am Werk; so weit würde ich nicht gehen. Solche Rücksichtnahmen dürfen nicht dazu führen, dass man zensiert, was man wahrnimmt, denn 1. Ist damit niemandem gedient, und 2. Würden rassistische Motive sich auch anders zeigen. Löfflers Anstoß ist Gellhorns Bekenntnis, dass sie – vor allem in Westafrika – die Schwarzen nicht riechen konnte. Das ist für mich ein Sinneseindruck, dem man sich kaum entziehen kann. Zudem können wir heute kaum mehr nachvollziehen, wie die Lebensweise und Ernährung die körperlichen Ausdünstungen einer noch sehr ursprünglich lebenden Bevölkerung beeinflusst und für ‚westliche‘ Nasen unerträglich machen konnte. Auch hat nicht jeder ein so feines Näschen, dass er von Gerüchen stark beeinträchtigt werden kann. Für mich sind es andere Stellen, bei denen ich nicht sicher bin, ob sie uns wertvolles Verständnis aus eigener Anschauung liefert, oder sich ihr eigenes Urteil aufgrund von Vorurteilen bildet. Für mich gilt da im Zweifel die Unschuldsvermutung, sonst erlegt man sich selbst Gedankenverbote auf. Erhellend war in dem Zusammenhang für mich, dass alle Europäer, mit denen sie sprach und die in Afrika lebten, bekennen mussten, dass sie die Afrikaner nicht kannten.
Sie verwendet auch das N-Wort, was zurecht nicht mehr benutzt wird, aber nicht ausschließlich, sodass ich vermute, dass es von ihr oder dem Übersetzer als Variation desselben Begriffs verwandt wurde. Ich werde hier jetzt nicht die Vergangenheit verdammen.
Mit einer Einschätzung hat Sigrid Löffler allerdings recht: Martha Gellhorn ist fasziniert von Orten und vor allem Landschaften. Sie ist nicht wirklich an Menschen interessiert. Das macht sie weniger anfällig für Pittoreskes und bringt eine eigene Perspektive zu der Frage, ob Europäer nach Afrika ‚gehören‘ und sieht die Natur als entscheidenden Gradmesser. Ganz anders Hemingway, der sie auf die China-Reise begleitet hatte und Menschen um sich scharte, um sich endlos über ihre Geschichten und Erlebnisse zu amüsieren.
Ich möchte auch Martha zu Wort kommen lassen, die natürlich auch selbst über ihre Reisen reflektierte.
Sie sagt auf den ersten Seiten ihrer Afrika-Reise: “Ich hatte eine plötzliche Eingebung, warum die Geschichte ein solches Desaster ist: Die Menschen leben nicht lange genug. Wir lernen nur aus der Erfahrung und haben keine Zeit, sie vernünftig und weiterführend zu nutzen. So kenne ich zum Beispiel die dreißiger und vierziger Jahre dieses Jahrhunderts, aber ich habe auf die fünfziger und sechziger nur kurze Blicke geworfen. Jean [ein in Afrika als Händler lebender Tscheche, der nach 1956 Europa verließ] fängt da an, wo ich aufhöre. Und also sind unsere Schlussfolgerungen, die auf Erfahrungen basieren, natürlich radikal verschieden. Es ist so, als erstelle die Menschheit ständig neue Straßenkarten und sei somit unfähig, sich selbst den Weg zu zeigen – die Anweisungen wechseln andauernd.“ (S. 231f.)
Die Afrikareise nimmt den größten Teil des Buches ein und immer wieder setzt sie sich mit dem schwarzen und weißen Leben auseinander. Sie reiste dorthin als die Unabhängigkeit einer Reihe von westafrikanischen Staaten schon beschlossene Sache war, also vor 1960. Die Personen, die ihr hier begegnen, sind Europäer aus verschiedenen Ländern und beruflichen Interessen. Es sind die Vorbereiter der Unabhängigkeit, Missionare, Händler und auch Gestrandete. Aber immer sind es Kolonialisten und ein Austausch mit der schwarzen Bevölkerung findet nicht statt. Es wird über sie geredet, aber nicht mit ihnen, und so verwundert es mich nicht, dass die schwarze Bevölkerung mit der Landschaft verschmilzt und zu den Bewohnern eines Habitats wird.
Das wird auch deutlich bei dieser Äußerung, die sich aus der Auseinandersetzung mit Missionaren ergab: „Ich würde den Schwarzen gar nichts predigen, überhaupt nichts. Wenn sie unsere medizinische Versorgung haben wollen, sollte man sie ihnen geben; am besten sollten ausgebildete schwarze Ärzte dies tun, obwohl es das Gleichgewicht (im darwinistischen Sinne) ihrer Welt und ihrer Bevölkerungszahlen stören könnte. Jedes Jahr wird ein Kind geboren, die Zähesten bleiben am Leben. Die Überlebenden müssen stark genug sein, um dieses erschreckende Klima und Land zu ertragen. Es wäre besser, man brächte den Frauen die Geburtenkontrolle bei. Aber ich glaube, hier wird noch sehr lange nichts gelehrt und gelernt werden und ich halte das in keiner Weise für ein Unglück. Wie können wir uns auch anmaßen, jemanden zu belehren? Mein Schrei lautet: Lasst sie in Ruhe, lasst sie ihre Antworten selbst finden. Wir verstehen sie nicht, und die Antworten, die wir gefunden haben, sind alles andere als ermutigend, man sehe sich uns bloß an …“ (S. 265)
Hier fasst sie in einer Art Kaskade die Impulse des Beobachters, die Denkprozesse und ihr Fazit zusammen. Ich würde nicht sagen, dass sie gar kein Interesse an den Menschen hat, vielleicht sogar als Außenstehende, die die Weißen als Fremdkörper im Land empfindet, den Finger auf die Wunde legt. Ist es nicht so, dass dieser Impuls zur Hilfe immer den Gradmesser der eigenen Befindlichkeit hat und eine Weltordnung projiziert, die der Erkundung des Fremden vorausgeht? In Wahrheit – und das muss man so brutal eingestehen – ist es immer der Drang nach Profit, der in fremde Habitate eindringt und für sich eine lockere Schicht meist westlicher Zivilisation aufträgt, dem dann pseudohumanistische Betroffenheitsapostel folgen und den Rest auch noch zerstören. Und ist woke nicht ein direkter Abkömmling dieses Phänomens?
Aber bevor man ein altes Europa zu sehr in den Fokus nimmt – die Mechanismen der Kolonisierung funktionieren bis heute, was man an den asiatischen Gegenden entlang der neuen Seidenstraße ablesen kann – nur ohne Missionare.
Martha Gellhorn hat dieses Vorgehen auf einer anderen Reise verdeutlicht, nämlich auf den Karibikinseln. „Das Geld, nicht der Krieg [Zweiter Weltkrieg] hat das alte Leben auf den Inseln zerstört. Der Krieg brachte nur die erste kräftige Dosis Geld ins Land. (…) Lächerlich, über die vergangene Einfachheit und Ruhe und Schönheit zu murren, wo ich doch leben kann, wo ich möchte, und die Inselbewohner dort vor Anker liegen, wo sie nun einmal sind, und vermutlich sind sie wild auf den Fortschritt. Wenn ich sie nun sehe, dann glaube ich nicht, dass sie von seinen gepriesenen Vorteilen profitieren. Sie waren immer knapp bei Kasse, aber niemals hungrig, niemals überbevölkert oder gehetzt. Sie arbeiteten, wenn es nötig war und nicht eine Minute länger. Frei von lästigen Behörden, lebten sie in einer engen Gemeinschaft, so zufrieden wie Sterbliche es nur sein können. Wenn sie das Abenteuer brauchten oder Konsumartikel, dann gingen sie als Seeleute fort, oder sie emigrierten wegen des Dollars, aber alle kamen zu Besuch zurück oder um durchs Alter zu dämmern und wussten, dass sie zu dem zurückkehrten, was sie verlassen hatten, die Heimat veränderte sich nicht, die Heimat war sicher. Jetzt arbeiten sie auf ihrer Insel für Ausländer, und obwohl sie mehr Geld besitzen als jemals zuvor, fühlen sie sich arm im Vergleich. Und sie sind nicht mehr die selbstsicheren, müßigen, schwatzhaften, unkomplizierten Menschen, an die ich mich erinnere.“ Und ein alter einheimischer Weggefährte sagt, trotz des sichtbaren Reichtums „die alte Eintracht ist vorbei, vorbei für immer.“ (S. 194 – 196)
Es gibt noch viele Stellen, die ich mir ankreuzte, und über die ich hier schreiben wollte, aber ich sollte dem potenziellen Leser nicht zu sehr vorgreifen, denn bei aller Zeitgebundenheit gibt Martha Gellhorn hier jede Menge Denkanstöße zu generellen Themen und ihre Reisebeschreibungen sind darüber hinaus ein wertvolles Zeitdokument.
Die China-Reise ist dabei von besonderem Interesse, weil sie letztendlich erfahrbar macht, wo dieses Land vor seiner rasanten Entwicklung stand.
Mein eindeutiges Fazit: Es wird nicht das letzte Buch sein, das ich von Martha Gellhorn lesen werde.