V. Reiseliteratur
5. Thomas Steinfeld, Italien. Porträt eines fremden Landes *)
Das ist wieder so ein Buch, das man am liebsten sofort wieder von vorne lesen würde, weil es so gut gefallen hat. Und in diesem Fall mache ich das sogar, weil ich die Bilder sehen will von den Orten. Und auch, weil bei der Lektüre solche Erkenntnisse entstehen, die man kaum greifen kann, weil schon wieder neue sich ins Hirn schrauben.
Was man vor sich hat, ist eine Annäherung an ein Land, dass der Autor kreuz und quer bereist hat, in dem er auch gelebt hat, der einem das Typische en passant aufzeigt und das Besondere heraushebt.
Man möchte das Goethe-Zitat ‚Das Land der Griechen mit der Seele suchend‘ abwandeln in ‚das mit der Seele gefundene Italien‘. In Deutschland ist man seit der Klassik verliebt in dieses Land, verklärt es, als Ort der durch antike Kultur geronnen bessere Mensch, benutzt es auch für die individuellen Sonnensehnsüchte und der Gier nach Pittoreskem. Aber will man wirklich wissen, was der Schatten bei all dem Licht verbirgt – sieht man von den allgegenwärtigen ‚Schlagzeilen‘ einmal ab? Was die Eigenarten sind und was sie bedeuten? Und woher die Schatten kommen und wie alles zusammenhängt? Auch historisch! Wie wirkt es sich aus, wenn die nationale Einigung mithilfe fremder Mächte Mitte des 19. Jhdts. vom Nordwesten aus über das ganzen Land übergestülpt wird und einer Inbesitznahme gleicht? Wenn eine schon bürgerliche Gesellschaftsform eine bäuerliche Gesellschaft übernimmt und ihren Regeln unterwirft? Ein sehr anschauliches Beispiel dafür, dass Geschichte nicht vergeht, sondern bestimmte Ereignisse nicht aufhören wirksam zu sein: Die Verachtung des Nordens für den rückständigen Süden, die Abwehr des Südens gegen den bevormundenden zentralistischen Norden. Die Geschichte der Gewalt in Italien sei Kennzeichen der anhaltenden Legitimationskrise des republikanischen Staates.**)
Steinfeld ist ein Zeitungsmann und hat ganz sicher keinen Reiseführer geschrieben. Nur wenige Abbildungen in Schwarzweiß auf normalen Buchseiten stehen den achtzehn Kapiteln voran, geben quasi eine Idee vom Thema, ohne dass es sich gleich anhand des Bildes erschließen muss, sind eher beiläufiger Schmuck als Konkretisierungen. Dagegen sind die Überschriften sehr sprechend, poetisch, einleitend, z.B. das siebte Kapitel über Rom: Die Hauptstadt der Welt, gefügt aus Ruinen, oder der zweite Teil zu Rom: Das Vergehen und das Umbauen, das Glauben und das Teilen.
Das sind alles keine durchgängigen Erzählungen, eher Impressionen, dem auf den Zahn fühlen, was man gerade sieht, dabei mit herausragender Kenntnis der Kultur und Kulturschaffenden und der Kunstwerke. Jede Beobachtung ist gleichsam als Frage formuliert – wofür steht das, wie ist es entstanden und was hat es bewirkt?
Und er redet auch über Politik, aber nicht aus der Perspektive der Politik, sondern der der Menschen, die mit ihr konfrontiert sind.
Und so ‚wandert‘ er mit uns über die Alpen bis in den Süden und nach Sizilien, und wer in sich die geheime Sehnsucht spürt, auch er möchte das Land mit seiner Seele finden, hat hier einen hervorragenden ‚Cicerone‘.
Aber dies soll kein Werbetext werden, dessen Zweck der Kaufanreiz ist. ***) Wer hat sich schon einmal vor die Karte Italiens gesetzt und bemerkt, dass die Alpen das Land wie einen Riegel vor dem Norden verschließen – wobei die Alpen schon lange besiedelt sind mit guten Wegen und deshalb ein geringeres Hindernis darstellen, als der Apennin, der sich über 1.500km bis in den Süden zieht und einer vertikalen Trennung des Landes gleichkommt – und den Verkehr bis heute von Küste zu Küste erschwert. Durch diese Topographie ergäbe sich auch eine Dreiteilung des Landes – in den Ebenen und Städten wird gearbeitet und dort wohnen die nicht so Wohlhabenden, die wohnen an den Hängen der vielen Hügel – und in den Bergen die Armen und Gesetzlosen.
Die Zentralmacht habe sich an die Stelle der bisherigen Regionen und ihrer Zentren gesetzt, die auch heute noch eine gewisse Bedeutung haben – vor allem aber finden sich deshalb die schönsten Piazze nicht in den großen Städten, sondern dieser regionalen Zentren.
Was man in Deutschland meist in den Zentren der kleineren Städte findet ist wie selbstverständlich eine Kirche; im Süden der USA ist es das County Courthouse, nicht ganz dasselbe wie ein Rathaus, und in Italien ist dieser zentrale Ort die Piazza.
Die Piazza ist aber mitnichten ein Ort der Begegnung zum Austausch auf Augenhöhe wie man ihn findet, wo Migranten sich treffen – auch in Deutschland, wo z.B. in Torgau auf dem zentralen Platz das entspannte und lustige Treiben von Nordafrikanern von den Einheimischen argwöhnisch beäugt wird, oder wie früher im Rheinland und im Pott die ‚Gastarbeiter‘ sich auf dem Bahnhofsvorplatz trafen, als wäre einer der nächsten Züge der ihre, der sie nach Hause bringen wird.
Nein, die Piazza ist ein Ort der Distinktion, es ist die Bühne, auf der man ‚bella figura‘ abgeben möchte, wo man ebenso oft kurze Grüße austauscht oder wenige Worte wechselt, wie Begegnungen gezielt vermeidet – auf dem Weg von A nach B, nicht schlendernd, vielleicht rasch einen Espresso zu sich nimmt und einen Eindruck von der eigenen Bedeutsamkeit hinterlässt. In der Hinsicht – so will mir scheinen – ist das Italienische durchaus in die deutsche DNA gesickert, ist ihnen zumindest weitaus näher, als das mehr oder weniger fröhliche Beisammensein unter freiem Himmel.
Man erfährt viele wichtige Dinge, z.B., was es mit Pinocchio auf sich hat und was das mit dem Italiener an sich zu tun hat – und was die wahre Bedeutung der Göttlichen Komödie ist – und das alles schon im ersten Kapitel.
Nicht erst seit Goethe gibt es italienische Reisen, immer wieder werden sie gemacht und niedergeschrieben, von Ausländern für Ausländer, aber auch von Italienern als eine Art Bestandsaufnahme – in schöner Regelmäßigkeit; so 1959 Pier Paolo Pasolini im Auftrag einer Illustrierten, „Es ist, als wäre Italien ein Geheimnis, das sich nur in der Bewegung erschließt, nur dadurch, das man von einem Ort zum anderen zieht …“ ****)
Und dabei werden uns Dinge auffallen – wie brutal die Industrialisierung in die Landschaft gesetzt wurde, wie ihre Gerippe im Zuge der Deindustrialisierung noch immer ihre Ansicht darbieten; wie die Zentralregierung ihre strukturellen Projekte in die Landschaft setzt, um sie dann sich selbst zu überlassen; die vielen unfertigen Bauten, das Angefangene und Unvollendete, nicht unähnlich dem vollendeten Verfallenen.
Das Buch führt uns durch den Piemont, Ligurien und über die Toskana, Umbrien und das Latium nach Rom, weiter nach Neapel und Sizilien. Und überall erfahren wir Wesentliches, bekommen eine Ahnung, fühlen uns wie bevorzugte Mitreisende.
Wir erfahren, wie die Hoffnung auf die ordnende Hand eines Staates auf die EU übertragen wurde, nur um so mehr enttäuscht zu werden. Was die Camorra mit dem tradierten Klientelismus der italienischen Gesellschaft zu tun hat – und wie sie sich heute im Süden mit weniger begnügen muss, weil die Menschen ärmer geworden sind – und sie in den Städten gegen das organisierte Verbrechen in der Hand von Nigerianern nichts mehr entgegen setzen kann.
Italien, das ist in der Tat eine Geschichte, die immer wieder neu erzählt werden muss – und doch sich immer mehr ähneln wird als irgendein anderes Land – weil es vielleicht immer werden will, und doch immer schon ist.
*) Rowohlt, erweitere Neuausgabe Berlin 2022, Erstauflage Mai 2020; englische Broschur, 480 Seiten mit zwei Karten und nach Kapiteln geordneten, ausformulierten Literaturhinweisen
**) Ebd. S. 26
***) Wobei der Kauf sich durchaus lohnen würde – ich habe es im Modernen Antiquariat kürzlich für € 9.99 erwerben können
****) Ebd., S. 41