Was ich lese und gelesen habe

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petrasmiles

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Aber wo soll man sich bei einem so gottgefälligen Land sich auch einschränken können!
Du hast ja so Recht! Ich könnte ständig daraus zitieren; ich war auch in jungen Jahren in Rom und bin mit Kontakt zu Italienern aufgewachsen (aus den Dolomiten), und vor allem italienische Musik der 70er klingt mir noch im Ohr.
Aber wie das so ist: Nun hat mein Mann nun einmal ein Stück Land in Südfrankreich und ich lerne Französisch, obwohl ich Italienisch viel schöner finde und gerne dorthin ginge. Aber ich will mich nicht beschweren :)
Übrigens hat Steinfeld auch einen Abschnitt über die nun in die Jahre kommenden Alt-68er, die sich ihren Traum in der Toskana erfüllen konnten und nun die letzte Kraft auf den Erhalt von Haus und Garten verwenden.
Ja, an Franca Magnani erinnere ich mich auch noch. Vor allem an die Freude an den ganzen Journalen, die man noch mit Wissenserwerb in Verbindung bringen konnte...

Danke für Deinen Besuch! (Und das Mitschwärmen)

Liebe Grüße
Petra
 
und bin mit Kontakt zu Italienern aufgewachsen
Arno auch, und zwar mit Süditalienern. Das kam so: Sie waren um 1960 als Bauarbeiter in unsere Gegend eingewandert und mein Vater beschäftigte sie nebenbei am Wochenende auf seinem Anwesen. Sie planierten das Gelände, machten Gärten urbar usw. Das ging einige Jahre. Später kamen sie noch oft, um Hühner lebend zu kaufen, die sie dann daheim schlachteten. Sie brachten manchmal einen Jungen in meinem Alter mit, der Cesare hieß und sich dem Namen entsprechend gravitätisch benahm. Er verblüffte mich auch durch sein reines, akzentfreies Hochdeutsch (eine Seltenheit bei uns Einheimischen) und ich nahm ihn mir insofern ein wenig zum Vorbild. Was mir heute auffällt: dass sie nie ihre Frauen mitbrachten.

Außerdem gab es damals noch Nachfahren der ersten Generation eingewanderter Italiener aus den Jahren vor dem 1. Weltkrieg, an ihren italienischen Familiennamen wie auch an ihren äußeren Zügen leicht erkennbar. Darunter war ein Schulkamerad, der den Namen einer Sardinien vorgelagerten Insel trug, auch noch mit einem "de" davor. Er behauptete, seine adligen Vorfahren seien die Grundherren jener Insel gewesen. Fragt sich, warum sein Großpapa dann Maurer im Deutschen Reich wurde.

Noch einen schönen Abend
Arno
 

petrasmiles

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Er behauptete, seine adligen Vorfahren seien die Grundherren jener Insel gewesen. Fragt sich, warum sein Großpapa dann Maurer im Deutschen Reich wurde.
Ja, die Wechselfälle des Lebens ... schon interessant, woraus wir unseren Stolz beziehen - und warum wir das überhaupt nötig haben! Mal abgesehen von Italien:

Ich habe mich ja dabei 'erwischt', wie ich mir etwas darauf eingebildet habe, immerhin aus der Landeshauptstadt eines Bundeslandes zu stammen - also gaaaanz wichtig - und habe noch als junge Frau nicht verstanden, warum meine Freudin ihr Kind in Neuss (!) zur Welt brachte, und nicht in Düsseldorf, das ja quasi über den Rhein war; das arme Kind müsste nun sein Leben lang als Geburtsort 'Neuss' im Ausweis stehen haben.
Heute lache ich darüber, aber diese Dinge werden schon zur zweiten Natur - und natürlich beinhaltet so etwas auch, dass man (ich!) auf andere herabgesehen hat, ebenso natürlich uneingestanden. Und doch: Dieser Stolz, dieses (auf nichts basierende) Gefühl der Überlegenheit gibt uns ein größeres Selbstvertrauen, wir treten ganz anders auf, und diese hochwohlgeborene Attitüde lässt andere staunen :) So sehe ich das auch bei den Berlinern! :)

Diese vielen winzigen Facetten, aus denen wir bestehen, wer bringt sie in Reih und Glied? Wer trennt Wichtiges von Unwichtigem?
im Grunde sind wir doch ein unzählige Male aufgekochter und gestreckter Eintopf!

Liebe Morgengrüße!
Petra
 

petrasmiles

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Hier noch einmal ein Nachgang zu unserem China-Thema (##72-81), der sehr aufschlussreich ist.

In der Berliner Zeitung vom 20.01.2025 erschien der Open Source Artikel von Frank Schumann mit dem Titel "Ein anderer Blick auf China"*), in dem er die Wiederaufbauaktivitäten der Erdbebenregion in der syrisch-türkischen Grenzregion vom 6. Februar 2023 mit denen in Sichuan von dem Erdbeben in 2008 verglich. Das Beben in der Türkei sei lt. Webseite des Auswärtigen Amtes die "schlimmste Naturkatastrophe der letzten hundert Jahre" gewesen. Da hatte man das Schlimmere in Sichuan wohl übersehen.
Von den 300.000 von Erdogan versprochenen Wohnungen seien in zwei Jahren kein Sechstel gebaut worden, im Februar 2024 lebten noch 700.000 in Behelfsunterkünften. Schauen wir, wie es in einem Jahr sein wird.
In China hingegen: "Der Stolz ist verständlich, weil es binnen drei Jahren in einem kollektiven Kraftakt gelang, nicht nur den vorherigen Zustand wiederherzustellen, sondern zugleich die gesamte Region mit ihrer Infrastruktur zu modernisieren. (...) Dass nach drei Jahren das Leben im Erdbebengebiet von Sichuan wieder völlig normal lief, dass alle Schulen wieder standen, die Staudämme gesichert waren und jede Familie, die ihr Haus verloren hatte, eine neue Bleibe gefunden hatte, war hingegen im Westen keine Nachricht wert. " **)

Man könnte auf die Idee kommen, dass ein Staat, der tatsächlich das Wohlergehen seiner Bürger im Fokus hat - und diese Nachricht spricht eindeutig dafür - uns hierzulande verdächtig gemacht werden muss, denn wir sollen ja endlich begreifen, dass es nicht um unser Wohlergehen geht, sondern um die hehren Ziele der Politik und des Militärs und die wirtschaftlichen Ziele der Konzerne. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

*) https://www.berliner-zeitung.de/ope...uck-von-china-gewann-als-ai-weiwei-li.2283799 online bereits im Dezember erschienen ...
**) Zitiert nach BLZ #16, S. 19
 

petrasmiles

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V. Reiseliteratur
6. Juan Moreno, Glück ist kein Ort*)

Juan Moreno ist vor einigen Jahren zu einiger Bekanntheit gelangt, als er mehr oder weniger auf eigene Kappe den Fall ‚Relotius‘ aufdeckte.
Als Nicht-Spiegelleser war er mir kein Begriff und die Aufdeckung des ‚Fälschers‘ hatte ich auch nicht mit seinem Namen in Verbindung gebracht.
Und dann lag da der Reiseerzählungen-Band beim Modernen Antiquariat meines Vertrauens aus. Ich nahm ihn in die Hand - in meinen Augen ist Spiegelautor nicht gerade eine Empfehlung - und ging weiter meinem eigentlichen Ziel entgegen. Ich nahm mir vor, Juan Moreno zu recherchieren.
Aber der Gedanke an das Buch bewegte mich dann doch die ganze Zeit, und auf dem Rückweg war mein Portemonnaie fällig. Erst zierte ich mich noch, las dort einen Absatz und ein paar Seiten weiter und dann stand der Entschluss fest: Was soll der Geiz!

Ich habe es nicht bereut.
Nicht wegen Recherchegenauigkeit, Witz oder allgemein der ‚guten Schreibe‘, das versteht sich fast von selbst, sondern weil er ein Gespür für Menschen hat und ein Herz.

Was mir nicht so gut gefällt, ist das manchmal Kolumnenhafte, mitunter Schnipsel von kaum einer Seite, die mit drei oder vier Schnipseln zu einem Ort aneinandergereiht sind, aber für mich sind das eher Appetithappen und ich werde nicht satt, auch nicht, wenn sie sich laut Inhaltsverzeichnis unter dem Punkt ‚Weltreise‘ auf siebzig Seiten erstrecken.

Wo er ganz wunderbar einerseits Dinge auf den Punkt bringt und gleichzeitig ähnliche Phänomene verknüpft, sind politische Gegebenheiten. Machen wir uns eigentlich noch Gedanken darüber, wie der ‚Sozialstaat‘ in anderen europäischen Ländern aussieht? Und lassen wir uns von den genormten europäischen Gurken davon ablenken, wie existentiell die Unterschiede noch sind? Mir war z.B. nicht klar, dass private Immobilienfinanzierer in Spanien, die ihre Raten nicht mehr zahlen konnten, nicht nur ihre Immobilie verlieren, sondern auf den kompletten Schulden sitzen bleiben können? Dass es keine Privatinsolvenz gibt, kein Bürgergeld? Klarer kann man kaum belegen, dass die Regulierungswut der EU nicht von den Interessen der Mehrheit ihrer Bürger bestimmt wird.

Abgesehen davon, wie fragwürdig die demokratische Legitimierung der EU ist, indem wir nur das Parlament wählen können, das aber sehr beschränkten Einfluss auf die Kommission hat, hier zeigt sich mit aller Deutlichkeit, wessen Interessen demokratische Interessenvertreter vertreten und welche nicht. Für Juan Moreno fing alles mit der Bankenkrise von 2008 an, die als Folge einer mit billigem Geld angefütterten Immobilienblase auf der ganzen westlichen Welt für den wirtschaftlich ärmeren Süden Europas den Ruin bedeutete. Erst zahlten die Gläubiger die Banken mit verewigten Schulden und dem Verlust ihrer bisherigen Einzahlungen, dann rettete die Troika die Banken und Spanien musste dafür das Lohnniveau senken und massive Kürzungen bei den Renten und Sozialleistungen vornehmen. Wer hat sich damals nicht geschämt für das Vorgehen der Troika (Deutschlands) gegen Griechenland? Spanien wurde bald als ‚auf einem guten Weg‘ betrachtet und verschwand relativ bald aus dem Fokus. Aber Moreno macht ganz deutlich, wie diese schwer messbare politische Währung der Demütigung bei gleichzeitiger Verarmung weiter Teile der Bevölkerung Langzeitfolgen hat: „Die Gefühle, die entstehen, wenn Menschen sich als Verlierer fühlen, Trump, Brexit, AfD, Katalonien – im Kern vier Befunde mit ähnlicher Grunderkrankung.“ **) Und die weitere politische Entwicklung lässt auch für uns Böses ahnen – wie sich aus dem linken Protest gemäßigt rechter Protest entwickelte, der dann stärkere rechte Parteien folgten, bis dann eine extreme Rechte die drittstärkste Kraft werden konnte. Das Land war gespalten. 2011 zogen die etablierten Volksparteien in Spanien noch 85% der Stimmen auf sich und heute kaum mehr die Hälfte. Das kommt einem doch bekannt vor.

Wir hatten damals auch Hasard-Gemeinde-Vorsteher, die am Boom des billigen Geldes teilhaben wollten und ihre Gemeinden auf Generationen verschuldeten, aber bei uns war dann doch eine starke Wirtschaft am Werk, die die schlimmsten Verwerfungen auffangen konnte. Darauf können wir bei der jetzigen krisenhaften Zuspitzung nicht hoffen, aber gespalten sind wir jetzt auch. Dass die EZB gerade wieder dabei ist, den Leitzins zu senken, sollte uns zu denken geben. Die sehr anschauliche Reportage ‚Mein fremdes Land (Spanien)‘ kann ich nur empfehlen.

Aber zurück zu Moreno. Ich möchte ihm bescheinigen, ein guter Journalist zu sein. Und meine Lieblingsgeschichte: ‚Fischen wie Hemingway‘ ist sogar ausgesprochen poetisch mit Tiefgang. Aber anders als zum Beispiel Maxim Leo (und vor allem Roger Willemsen) – oder in Ansätzen auch Thomas Steinfeld – ist er kein journalistisch arbeitender Literat, sondern ein manchmal literarisch arbeitender Journalist. Wer Moreno bisher in den entsprechenden Medien verfolgte, wird in dem Buch nur zwei bisher unveröffentlichte Texte finden, darunter auch die Hemingway-Geschichte - aber für mich hat sich der Erwerb auf jeden Fall gelohnt, nicht nur wegen des Unterhaltungsaspektes!

*) Geschichten von Unterwegs, 304 Seiten, Rowohlt Berlin 2021; es handelt sich überwiegend um bereits veröffentlichte Texte.
**) Ebd., S. 227
 
Danke dafür, Petra, dass du mir den schon wieder aus meinem Gedächtnis entschwunden gewesenen Namen in selbiges zurückgerufen hast. Er lässt sich aufgrund seines Klangs gut merken und das werde ich nun auch tun und auf evtl. vor mir auftauchende Artikel von ihm im Internet achten. Sollte mir das Buch auf dieselbe Weise wie dir direkt vor Augen kommen, blättere ich auch wohl darin und vielleicht mit demselben Ergebnis.

Tja, der Spiegel und seine Autoren ... Ich erinnere mich an die amerikanische Legende um Barry Graves, an der sogar in seiner Todesmitteilung noch weitergestrickt wurde.

Ein hoffentlich schönes Wochenende!
Arno
 

petrasmiles

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VI Bücher, die ich nicht gelesen habe
3. Matthias Jügler, Maifliegenzeit

Eher aus den Augenwinkeln sah ich eine Buchbesprechung in der kostenlosen Fernsehzeitung prisma*), die unserer Tageszeitung beiliegt.

In der Novelle geht es um Kindesraub in der DDR, erzählt anhand eines Ehepaars in Leipzig 1978, dem erklärt wurde, ihr Säugling sei gestorben. Jahre später nach der Wende steht ein junger Mann vor der Tür des Vaters, der schon lange nicht mehr mit seiner damaligen Frau zusammen ist, der behauptet, sein Sohn zu sein. Hauptgegenstand der kurzen Besprechung ist die Faktenlage rund um die Klärung und Aufarbeitung dieser Fälle von staatlich organisiertem Kindesraub. Diesen Opfern wolle der Autor eine Stimme geben.

Wenn man das Thema nur ein bisschen recherchiert, kommt man einerseits zu einer Studie, die besagt, dass kein Nachweis über systematisch vorgetäuschten Kindstod in der DDR zu erbringen sei, und andererseits starker Kritik an dieser Studie, und wenn man dann den Protest genauer anschaut, sind die Hauptstimmen die derjenigen, die sich in unterschiedlichen Rollen als Opfer von Zwangsadoption betrachten. Das ist schlimm genug, aber nicht die Grundlage des Buches.

Mein erster Gedanke war, dass man offensichtlich mit der DDR-Geschichte immer noch Geld verdienen kann, der zweite, dass diese stete Wiederholung dessen, was in der DDR falsch gelaufen ist, verhindert, dass eine gemeinsame deutsche Geschichte entstehen kann. Aber der dritte war dann, dass wir mitten im Zentrum dieser Widersprüche von traumatischen Erlebnissen einerseits und ihrer Aufarbeitung und historischen Einordnung andererseits stehen.

Jemandem, der dies erlebt hat, wird man nicht vermitteln können, dass man ‚die Dinge‘ in einem größeren Zusammenhang sehen muss. Dass man sich anschauen muss, unter welchen Bedingungen es zu solchen menschenverachtenden Straftaten kommen kann.

Aber dann stellt man schnell fest, dass es autokratische Strukturen sind, in deren Windschatten sich solche Gestalten bewegen können, die sich vielleicht im Einklang mit dem herrschenden Wertekanon wähnen, dass besonders verdiente Genossen Nachwuchs verdient hätten, und dann die wider Willen Kinderlosen aus dem eigenen Umfeld gleich mit ‚versorgt‘ würden. So kann man sich das vorstellen – wenn es so war.

Aber wenn man mal diesen DDR-Schleier entfernt und realisiert, dass in jeder autokratischen Struktur, die sich anmaßt, den ‚richtigen‘ vom ‚falschen‘ Menschen zu unterscheiden, Spielraum entsteht für Missbrauch, indem sich die ‚Guten‘ über die ‚anderen‘ erheben – und in ihr Schicksal eingreifen, dann sieht man sie überall am Werk. Und es ist kein Zufall, dass mir hier der Fall Gelbhaar einfällt, bei dem genau das passierte. Und der nächste Schritt in Richtung Wahrheit ist der, dass diese Gestalten keinen Staat brauchen, um ihr Handeln zu ermöglichen, sondern nur die passenden Strukturen – wovon sich jeder selbst ein Bild machen kann.

Ich werde dieses Buch ganz sicher nicht lesen, weil es zu offensichtlich auf einer Welle reitet; einer Lesung in Leipzig blieb der Autor fern, weil er nicht in diesen Wirbel des Aufbereitungsinteresses geraten wollte. Da ich sehr inhaltsorientiert lese, würde mir eine gute Schreibe nichts retten.


*) prisma Nr.7/2025, S. 6
**) https://www.mdr.de/nachrichten/sach...iegenzeit-ddr-kinderraub-kultur-news-100.html
 

Bernd

Foren-Redakteur
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Es sind immer Einzelschicksale. Und sie sind tragisch. An Systematik glaube ich auch nicht. Aber an selbst erfüllenden Gehorsam. Dabei ist meist das Schlimmste, wenn man glaubt, zu den Guten zu gehören.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das stimmt, aber auch der indirekten Täter.
Mich holen jetzt diejenigen Grünen ein, deren Pazifismus nur Egoismus war, denn ich bin bei den Grünen.
Ich denke, ich bin kein Täter, aber ich bin unfähig. Und deprimiert. Also indirekt doch ein Täter. Unfähig, Frieden zu stiften. Solange man ihn auf jedem Friedhof findet.

Bei der Herkuleskeule lautete ein treffender Titel: Im Kreislauf voran!
 

petrasmiles

Mitglied
Ich denke, ich bin kein Täter, aber ich bin unfähig. Und deprimiert. Also indirekt doch ein Täter. Unfähig, Frieden zu stiften. Solange man ihn auf jedem Friedhof findet.
Ach lieber Bernd, nun nehme mal den Kopf aus der Kloschüssel - ich kenne keinen Grünen, der sich selbst - und woran er glaubt - so hinterfragt wie Dich! Du bist ganz sicher kein Täter!
Es gibt auch eine passive Hybris - nach der man sich für zuviel verantwortlich fühlt - wir reden uns hier jetzt seit Jahren in u.a. der gezielten Diffamierung den Mund fusselig und haben keinen überzeugen können, dass es so kommen würde, wie es jetzt kommt. Selbst in einer relativ homogenen Gruppe reicht das eigene Reden und Handeln nicht weit. Die Erkenntnis ist bitter, aber wir bewegen wenig bis nichts - außer uns selbst. Noch nicht einmal durch die kommende Wahl. Ja, das kann einen deprimieren, aber wenn es so weit gekommen ist, sollte man vielleicht zwischendurch Gedichte lesen - und schreiben!

Dir noch einen schönen Sonntag!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

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II Autoren
4. Julian Barnes

Julian Barnes ist einer der Autoren, an denen ich nicht vorbei gehen kann, wenn ich sie in einer Auslage sehe. Ich bin immer schnell begeistert – und dann doch am Ende ein kleines bisschen enttäuscht, was mich aber nicht davon abhält, beim nächsten Mal wieder zuzulangen.

Zuletzt las ich von ihm ‚Elizabeth Finch‘ von 2022 in der deutschen Übersetzung bei Kiepenheuer & Witsch, gleichfalls 2022. Elizabeth Finch ist eine gleichzeitig gradlinige und geheimnisvolle Dozentin der Geisteswissenschaften, die auch in der Erwachsenenbildung tätig ist. In einer dieser Veranstaltungen lernt sie ein junger Mann kennen, der von sich selbst sagt, ein erfolgloser Schauspieler zu sein, und ein schlechter Ehemann, der vieles beginnen und wenig vollenden würde. Im ersten Teil der rund 230 Seiten wird diese Frau und ihre Besonderheit auf etwa neunzig Seiten vorgestellt – der für mich schönste Teil, weil es um das Denken geht, aber auch um Haltung, Diskretion, und auch die Lehre. Und natürlich um das Frauenbild, indem eine Frau Attraktivität bekommt durch ihre Bildung, ihre Haltung und ihre freie Art des Denkens, die sich auch in ihrer Lehre niederschlägt. Auch nach dem Studiengang bleiben sie in Kontakt und treffen sich regelmäßig, wenn auch nicht allzu häufig, zum Essen.

Ein Motiv, das immer wieder erwähnt wird, ist die Lehre von Epiktet:

„Worüber wir gebieten und worüber wir nicht gebieten

Über das eine gebieten wir, über das andere nicht.
Wir gebieten über unser Begreifen, unsern Antrieb zum
Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort,
über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über
unsern Körper, unsern Besitz, unser
Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort,
über alles, was nicht von uns ausgeht.
Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei, kann
nicht gehindert oder gehemmt werden
; worüber wir
aber nicht gebieten, ist kraftlos, abhängig, kann gehindert werden
und steht unter fremdem Einfluss.“

https://www.reclam.de/data/media/978-3-15-019103-3.pdf Handbüchlein der Moral

Wobei das von mir Hervorgehobene mich besonders fasziniert.

Noch vor Ende des ersten Kapitels ist Elizabeth Finch gestorben und vermacht ihm, dem Schüler, ihre schriftlichen Aufzeichnungen.

Und dann wird es akademisch – und hochinteressant. An der historischen Person Julian Apostata, dem letzten heidnischen römischen Kaiser, wird die Qualität des Sieges des Christentums hinterfragt, immer anhand der Spurensuche des Ich-Erzählers, der die hinterlassenen Aufzeichnungen zu entschlüsseln sucht und dabei immer wieder von seinen erinnerten Äußerungen und Erlebnissen angetrieben wird. Er hatte die Idee, dass es seine Aufgabe sei – die sie ihm zugedacht hatte – eine Art begonnenes Werk zu vollenden. Dabei wechseln sich seine Reflexionen mit ihren Notizen ab. Das ist aber keineswegs ermüdend, sondern sehr spannend. Man bekommt eine Idee davon, dass der Protagonist sich in manchem irrt – was seine Person, aber auch seinen ‚Auftrag‘ anbelangt. Diesem Versuch, die wirkliche Person Julian Apostata zu fassen bekommen, widmet sich der zweite Teil, an dessen Ende der Protagonist den Essay geschrieben haben wird.

Er wird im dritten und letzten Teil auf rund siebzig Seiten der Lehre Epiktet so nahekommen, wie er es vermag. Aber im Grunde geht es bei dieser Spuren- und Sinnsuche darum, wie gut wir jemanden überhaupt kennen können und dass wir über die Einsicht in uns selbst auch andere besser verstehen können.

Ich glaube, es ist diese feine unaufdringliche Gelehrsamkeit des Autors, die mich immer wieder zu ihm zurückkehren lässt.

Julian Barnes, Jg. 1946, ist ein fleißiger Schreiber und anerkannter britischer Autor, der nach einem Sprach- und Jurastudium als Lexikograf und Journalist arbeitete, bevor er ab 1980 zunächst vier Kriminalromane veröffentlichte und 1984 mit seinem dritten Roman ‚Flauberts Papagei‘ seinen Durchbruch erlebte. Auch das habe ich vor längerer Zeit gelesen, ohne konkrete Erinnerungen zu haben, aber bei Wikipedia konnte ich erfahren, dass es auch in diesem Roman um die Unmöglichkeit geht, einen anderen Menschen wirklich zu erfassen.

Auf dem Stapel habe ich noch liegen ‚Der Mann im roten Rock‘ von 2019, das anhand der historischen Person des französischen Arztes Samuel Pozzi ein Bild der Zeit des ausgehenden 19. ins 20. Jahrhundert hinein beschreibt.

Sein Werk umfasst ohne die Kriminalromane 15 Romane, daneben thematische Essaybände und Erzählungen, 2008 schrieb er seine Biografie, da ist noch viel zu entdecken. Aber man muss einen 'freien Geist', keinen beschwerten haben, offen sein für die von den meisten weniger betretenen Pfade des Wissens, seine Bücher sind - sofern ich sie kenne - Spaziergänge, keine Dauerläufe und erst recht keine Sprints. Man muss dem eigenen Kopf Zeit zum 'Atmen' lassen - und das gelingt uns nicht immer gleich gut, und darum liegt Julian Barnes auch manchmal ungelesen, aber unvergessen, auf einem Bücherstapel. Aber dann wäre Enttäuschung - wie oben von mir genannt - nicht das richtige Wort.
 

petrasmiles

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Noch ein Nachtrag zu Barnes.
Ich habe mal meine Bücherregale an entsprechender Stelle durchforstet und insgesamt noch fünf weitere Bücher von ihm gefunden.
Und habe mir auch gleich 'Flauberts Papagei' geschnappt; das hatte mir doch keine Ruhe gelassen, warum ich mich nicht an etwas erinnerte.
Neben der langen Zeit kann es auch daran liegen, weil Barnes nicht wirklich 'dramatisiert'; ich meine damit, dass sich die Geschichte nicht unbedingt emotional ins Gedächtnis brennt, sondern man sehr viel reflektiert, und dann sind es die Gedanken, die ein Eigenleben entwickeln, sich verknüpfen und den Ausgangspunkt der Übelegungen nicht an eine 'Quelle' binden. Das spricht für den Autor.
Nach den ersten fünf Seiten bin ich schon wieder gefangen - er beginnt mit einer Bronzestatue Flauberts, das Original sei von den Deutschen eingeschmolzen worden, ein späterer Bürgermeister habe die jetzige Statue in Auftrag gegeben, aber ein neuer könne sie ebenso gut wieder entfernen, da sei nichts für die Ewigkeit, was bliebe, seien seine Schriften. Und genau so habe es Flaubert haben wollen. Das Werk sei alles, der Autor nichts. Man erfährt, dass sich Sartre wohl an ihm abgearbeitet habe. Und dann folgen weitere Reflexionen über suspekte Persönlichkeitskulte - und wieder die Frage, was man von einem anderen Menschen überhaupt wissen kann. Jetzt bin ich auch neugierig auf Flaubert geworden.
 

petrasmiles

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Und noch ein Nachtrag zu Barnes und seinen Flaubert.
Zwischendurch war ich wieder ein bisschen enttäuscht, weil der Autor es sich nicht nehmen ließ, die Ergebnisse seiner Recherchen minutiös aufzuschreiben. Bei manchen Lesern mag es für Erheiterung sorgen, wenn im Kapitel 'Das Flaubert-Bestiarium' die Tiere durchdekliniert werden, als die sich Flaubert bezeichnete, mich ödete es eher an. Auch, wenn in dem Kapitel 'Chronologie' sortiert nach Jahreszahlen Selbstauskünfte Flauberts aufgelistet werden. Man mag einwenden, dies brächte dem Barnes-Leser den Flaubert näher, aber ich empfinde es eher als Faulheit. Als wissenschaftlich-kritischer Autor einer Biographie hätte er sich mehr Mühe geben müssen mit dem Apparat. Vielleicht wollte er diese sogar schreiben, aber dann kamen ihm andere Projekte dazwischen - oder das Leben - und so hat er seine Arbeit noch irgendwie 'verwurstet'. Den Eindruck bekam ich, weil die 'Rahmenhandlung' sehr, sehr dürftig ausfällt. Ohne die von mir genannten Kapitel würde ich diesen Eindruck nicht bekommen haben, also denke ich, an meiner Vermutung ist was dran.
Aber ich will nicht nur schimpfen.
Nachdem diese Kapitel überwunden waren, wurde es wieder besser. Ich möchte diesen Satz zitieren, um zu verdeutlichen, was ich meine: "Flaubert glaubte nicht an den Fortschritt: vor allem nicht an den moralischen Fortschritt, und nur der zählt. Das Zeitalter, in dem er lebte, war dumm; das neue Zeitalter, das der deutsch-französische Krieg einleitete, würde sogar noch dümmer sein. (...) 'Der ganze Traum von der Demokratie', schrieb er, 'besteht darin, den Proletarier hinaufzuheben auf das Dummheitsniveau des Bourgeois.' Auf diesen Satz reagieren die Leute oft gereizt. Aber ist er nicht absolut angemessen? Während der letzten hundert Jahre hat sich das Proletariat in den Prätentionen der Bourgeoisie geübt; während die Bourgeoisie, ihrer Vorherrschaft weniger gewiß, immer gerissener und betrügerischer wurde. Ist das Fortschritt?"*) Und diese Überlegungen sind eingebettet in frühere Erlebnisse des Protagonisten noch mit seiner - mittlerweile verstorbenen - Frau bei seinen zahlreichen Besuchen. Da geht die Geschichte über den Protagonisten und Flaubert hinaus und mündet in eine allgemeine Betrachtung des 'Französischen' bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Menschlichen. Das mag ich.
Übrigens habe ich - vielleicht bei Wikipedia? - gelesen, dass diese nicht vorhandene Rahmenhandlung als ein Ausweichen des Protagonisten vor der Auseinandersetzung mit dem Tod seiner Frau gesehen wurde, also ein Kunstgriff sei. Na ja.

*) aaO S. 119f.
 

petrasmiles

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke, Petra. Ich bin auch Grünengründungsmitglied, aber in der DDR. Ich war beim Gründungsparteitag. Aber als einfaches Mitglied. Und ich habe erlebt, dass sogar sehr große Militärblöcke verschwinden, sich auflösen, wenn sie Frieden wollen.
Ich verstehe die chinafeindliche Politik auch nicht. Ich verstehe keine feindliche Politik mehr.
Ich verstehe keine Politik der Drohung mit Kernwaffen, das habe ich noch nie.
 

petrasmiles

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Und hier noch ein letzter Nachtrag zu Barnes und Flauberts Papagei.
Ich bin in gewisser Weise versöhnt, weil Barnes nicht aus Effekthascherei einen collagenhaften Roman geschrieben hat - wofür er von der Kritik gelobt wurde - sondern immer in die Tiefe des Menschseins vordringt. So, wie ich es mag. (Die beiden von mir beanstandeten Kapitel hätte ich trotzdem weggelassen.)
Ich habe mir auch gleich den nächsten Roman gegriffen: Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln von 1989. Da gibt es nun gar keine verbindende Erzählstimme, sondern es sind eigenständige Geschichten. Ich bin mir fast sicher, dass diese Perspektiven am Ende auf ein gemeinsames Ziel gerichtet sind. Das ist nicht jedermanns Sache, aber ich lasse mich darauf ein.
 
Zu dem China-Buch von Weßling (s. hier ab #72) passen sehr gut als ergänzende Lektüre aktuelle Reisenotizen des Mannheimer Bloggers Gerhard Mersmann. Nun weiß ich nicht, ob ein direkter Link zum Beitrag Mersmann recht sein würde. Man findet seinen Blog unter der Adresse form-7.com (dort Eintrag vom 6.5.25).

Der Verfasser war gerade als Tourist von Schanghai nach Peking unterwegs, mit einigen Zwischenstationen. Sehr lesenswert.
 



 
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