II Autoren
4. Julian Barnes
Julian Barnes ist einer der Autoren, an denen ich nicht vorbei gehen kann, wenn ich sie in einer Auslage sehe. Ich bin immer schnell begeistert – und dann doch am Ende ein kleines bisschen enttäuscht, was mich aber nicht davon abhält, beim nächsten Mal wieder zuzulangen.
Zuletzt las ich von ihm ‚Elizabeth Finch‘ von 2022 in der deutschen Übersetzung bei Kiepenheuer & Witsch, gleichfalls 2022. Elizabeth Finch ist eine gleichzeitig gradlinige und geheimnisvolle Dozentin der Geisteswissenschaften, die auch in der Erwachsenenbildung tätig ist. In einer dieser Veranstaltungen lernt sie ein junger Mann kennen, der von sich selbst sagt, ein erfolgloser Schauspieler zu sein, und ein schlechter Ehemann, der vieles beginnen und wenig vollenden würde. Im ersten Teil der rund 230 Seiten wird diese Frau und ihre Besonderheit auf etwa neunzig Seiten vorgestellt – der für mich schönste Teil, weil es um das Denken geht, aber auch um Haltung, Diskretion, und auch die Lehre. Und natürlich um das Frauenbild, indem eine Frau Attraktivität bekommt durch ihre Bildung, ihre Haltung und ihre freie Art des Denkens, die sich auch in ihrer Lehre niederschlägt. Auch nach dem Studiengang bleiben sie in Kontakt und treffen sich regelmäßig, wenn auch nicht allzu häufig, zum Essen.
Ein Motiv, das immer wieder erwähnt wird, ist die Lehre von Epiktet:
„Worüber wir gebieten und worüber wir nicht gebieten
Über das eine gebieten wir, über das andere nicht.
Wir gebieten über unser Begreifen, unsern Antrieb zum
Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort,
über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über
unsern Körper, unsern Besitz, unser
Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort,
über alles, was nicht von uns ausgeht.
Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei, kann
nicht gehindert oder gehemmt werden; worüber wir
aber nicht gebieten, ist kraftlos, abhängig, kann gehindert werden
und steht unter fremdem Einfluss.“
https://www.reclam.de/data/media/978-3-15-019103-3.pdf Handbüchlein der Moral
Wobei das von mir Hervorgehobene mich besonders fasziniert.
Noch vor Ende des ersten Kapitels ist Elizabeth Finch gestorben und vermacht ihm, dem Schüler, ihre schriftlichen Aufzeichnungen.
Und dann wird es akademisch – und hochinteressant. An der historischen Person Julian Apostata, dem letzten heidnischen römischen Kaiser, wird die Qualität des Sieges des Christentums hinterfragt, immer anhand der Spurensuche des Ich-Erzählers, der die hinterlassenen Aufzeichnungen zu entschlüsseln sucht und dabei immer wieder von seinen erinnerten Äußerungen und Erlebnissen angetrieben wird. Er hatte die Idee, dass es seine Aufgabe sei – die sie ihm zugedacht hatte – eine Art begonnenes Werk zu vollenden. Dabei wechseln sich seine Reflexionen mit ihren Notizen ab. Das ist aber keineswegs ermüdend, sondern sehr spannend. Man bekommt eine Idee davon, dass der Protagonist sich in manchem irrt – was seine Person, aber auch seinen ‚Auftrag‘ anbelangt. Diesem Versuch, die wirkliche Person Julian Apostata zu fassen bekommen, widmet sich der zweite Teil, an dessen Ende der Protagonist den Essay geschrieben haben wird.
Er wird im dritten und letzten Teil auf rund siebzig Seiten der Lehre Epiktet so nahekommen, wie er es vermag. Aber im Grunde geht es bei dieser Spuren- und Sinnsuche darum, wie gut wir jemanden überhaupt kennen können und dass wir über die Einsicht in uns selbst auch andere besser verstehen können.
Ich glaube, es ist diese feine unaufdringliche Gelehrsamkeit des Autors, die mich immer wieder zu ihm zurückkehren lässt.
Julian Barnes, Jg. 1946, ist ein fleißiger Schreiber und anerkannter britischer Autor, der nach einem Sprach- und Jurastudium als Lexikograf und Journalist arbeitete, bevor er ab 1980 zunächst vier Kriminalromane veröffentlichte und 1984 mit seinem dritten Roman ‚Flauberts Papagei‘ seinen Durchbruch erlebte. Auch das habe ich vor längerer Zeit gelesen, ohne konkrete Erinnerungen zu haben, aber bei Wikipedia konnte ich erfahren, dass es auch in diesem Roman um die Unmöglichkeit geht, einen anderen Menschen wirklich zu erfassen.
Auf dem Stapel habe ich noch liegen ‚Der Mann im roten Rock‘ von 2019, das anhand der historischen Person des französischen Arztes Samuel Pozzi ein Bild der Zeit des ausgehenden 19. ins 20. Jahrhundert hinein beschreibt.
Sein Werk umfasst ohne die Kriminalromane 15 Romane, daneben thematische Essaybände und Erzählungen, 2008 schrieb er seine Biografie, da ist noch viel zu entdecken. Aber man muss einen 'freien Geist', keinen beschwerten haben, offen sein für die von den meisten weniger betretenen Pfade des Wissens, seine Bücher sind - sofern ich sie kenne - Spaziergänge, keine Dauerläufe und erst recht keine Sprints. Man muss dem eigenen Kopf Zeit zum 'Atmen' lassen - und das gelingt uns nicht immer gleich gut, und darum liegt Julian Barnes auch manchmal ungelesen, aber unvergessen, auf einem Bücherstapel. Aber dann wäre Enttäuschung - wie oben von mir genannt - nicht das richtige Wort.