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(1) 17. Januar 1986

Letzten Samstag war ich wieder einmal im Kino. Im Metropolis konnte ich einen englischen Opern- und Ballettfilm sehen, Hoffmanns Erzählungen, 1951 gedreht. Ich war vor allem von der Fremdheit beeindruckt, die diese Art künstlerischer Darstellung inzwischen durch den Ablauf der Zeit für uns erreicht hat. Der Stoff ist ja reines 19. Jahrhundert, aber auch die ganze Darstellungsart kam mir urgroßväterlich vor. Irritierend dann wieder die Farbe und das Produktionsjahr: 1951. Man sagt sich: Damals warst du ja schon auf der Welt, und dann macht man sich klar, dass man nicht mehr ganz jung ist und die eigene Geschichte schon ziemlich weit und tief zurückreicht. Es war übrigens mein erster Kontakt mit Offenbachs Oper. Die Geschichte um die Puppe Olympia hat mich am meisten beeindruckt. Wie hier im Film die Fiktion vervielfältigt wird, das ist wirklich staunenswert. Das Medium des Films ist ja selbst eine, indem bewegliche Bilder vorgetäuscht werden. Aber es ist diesmal auch kein Film im gewöhnlichen Sinn, sondern zugleich Oper und Ballett, vom französischen Original ins Englische übersetzt und dann ins Deutsche synchronisiert. Richtig verzwickt aber die Handlung und ihre verschiedenen Wirklichkeitsebenen: Hoffmann sieht während des Betrugs an ihm einen leibhaftigen Menschen, wo es sich nur um eine Puppe handelt. Die Puppe ist aber in Wirklichkeit (der Wirklichkeit der Filmproduktion) eben doch keine Puppe, sondern eine Schauspielerin und Tänzerin, die eine Puppe spielt. Sie spielt sie aber mit so viel Distanz, dass im Bewusstsein des Zuschauers schließlich etwas Mittleres zwischen Puppe und Mensch entsteht. Hat man sich an dieses Zwitterwesen eben gewöhnt, wird statt der Schauspielerin eine wirkliche Puppe in ihre Bestandteile zerrissen. Jetzt ist der höchste Grad von Fiktionalität erreicht: Der Schauspieler, der Hoffmann nicht ist, sondern nur spielt, steht vor den Bestandteilen der zerrissenen Puppe und gibt vor, dies seien die Überreste jenes Wesens, das ihn vorher entzückte oder entzückt haben soll, nämlich einer wirklichen Frau, von der er uns jetzt glauben machen will, es habe sich nur um eine Puppe gehandelt. Die Art, wie die Olympia-Episode hier verfilmt worden ist, kann einen ins Grübeln darüber bringen, wie viel Einverständnis der Zuschauer mitbringen muss, um sich täuschen zu lassen. Um die Illusion in seinem Kopf entstehen zu lassen, muss er in rasch wechselnden Situationen einen wechselnden Anteil seines Bewusstseins ausblenden. Diese Operation dürfte ein gewisses Training erfordern, um reibungslos zu funktionieren, nicht anders als Lesen etwa. Wo und wie wird er aber nun trainiert? Nur durch Kunstgenüsse oder nicht in viel stärkerem Maß durch das Leben selbst? Klappt der Mechanismus nicht vielleicht eben deshalb so gut, weil unser soziales Rollenverhalten ähnlich funktioniert? Erscheinen wir nicht häufig mit Anzeichen von Gesinnungen, die wir aufgrund unseres gesamten Wissens gar nicht haben können? Und stehen wir nicht wie der Hoffmann-Darsteller manchmal vor Trümmern oder Überresten von Dingen, Beziehungen oder Personen mit den Anzeichen von Gefühlen, die wir eigentlich gar nicht haben können?
 

petrasmiles

Mitglied
Wunderbare Assoziationsketten - und wichtige Fragen, die die Du Dir stellst - die etwas sehr Wesentliches betreffen, dass mich auch schon gestreift hatte ...
Aber heute ist es zu spät dafür für mich! Ich komme wieder.

Gute Nacht!

Liebe Grüße
Petra
 
(2) 15. März 1986

Fellinis „Ginger und Fred“ gesehen, eine unterhaltsame und geistreiche Kulturkritik. Man fragt sich ja vorher immer, welche Absonderlichkeiten und Monstrositäten wird uns Fellini diesmal vorführen. Diese Neugierde wurde wieder einmal bestens befriedigt. Dennoch war ich ein klein wenig enttäuscht. Zeitweise fühlte ich mich an die späten Tati-Filme erinnert, besonders an „Play-Time“. Wie der ältere Tati vervollkommnet Fellini jetzt in erster Linie seine früheren filmischen Mittel. Das neue, aktuelle Thema – hier der verheerende Einfluss des Fernsehens auf Kultur und Gesellschaft – scheint dagegen nicht wirklich bewältigt zu werden. Das Thema erscheint auf eigentümliche Weise als zu schwierig für diese perfektionierten filmischen Mittel. Außerdem frage ich mich, ob der Film nicht teilweise recht deutliche reaktionäre Tendenzen erkennen lässt, Kulturkritik von einem überholten Standpunkt also. In dieser schrecklichen Weihnachtsshow treten unter anderen ein wegen einer heftigen Liebe in den Laienstand zurückgetretener Priester, ein Transvestit, der sexuellen Verkehr mit Gefängnisinsassen gesucht und gefunden hat, und mehrere recht schwul wirkende Doppelgänger (etwa der von Marcel Proust – wirklich frappierende Ähnlichkeit) auf. Ist das Fernsehen etwa auch deshalb schlecht, weil es die Perversen, die Gottlosen, die Antizölibatären usw. in den Vordergrund schiebt? Die Figur der Ginger, die mit großer Sympathie gezeichnet ist, verkörpert dagegen recht deutlich das mittlere, normale, bürgerliche Italien. Zwischen diesen beiden Sphären gibt es im Film keine wirkliche Begegnung. Ginger reagiert immer wohlerzogen, aber verständnislos. Wenn der Vergleich mit Viscontis „Gewalt und Leidenschaft“ erlaubt ist, zeigt sich, dass Fellini doch nur ein zweitklassiger Regisseur ist. Auch bei Visconti ereignet sich ein Zusammenstoß zwischen einer älteren humanen Persönlichkeit und jüngeren Personen, die einen weniger sympathischen Zeitgeist verkörpern. Aber bei ihm beginnt dann eine wirkliche Auseinandersetzung, und trotz des tragischen Ausgangs kann man sagen, dass die Beteiligten nachher nicht mehr dieselben sind. Fellinis gesellschaftliches Ideal erscheint dagegen statisch: Es ist die geistige Welt eines fortschrittlichen Katholiken der vierziger Jahre in Italien. Anachronistisch und widersprüchlich ist eigentlich auch seine ganze Kunst, z.B. ein Antikonsumismus, der in üppigsten Bildern schwelgt.
 
(3) 31. Januar 1988

Die kinolose, die schreckliche Zeit ist nun vorbei. Monatelang dieses vergebliche Starren in die Programme! Gestern konnte ich den neuesten Taviani-Film ("Good Morning, Babylon") sehen, wieder eine Filmoper voller Melodramatik und äußerst suggestiver Bilder. Eigentlich dürfte in solchen Filmen nur gesungen werden. Der Stoff lag den Tavianis wohl ziemlich fern. Was haben sie mit den Erfolgreichen in Amerika zu schaffen, mit moderner städtischer Zivilisation und einer Industrie wie der Filmherstellung – ihre Werke handelten doch bisher nur vom traditionellen ländlichen Italien und seinen vorindustriellen Menschen mit ihren starken individualistischen Gefühlen. Es ist auch nicht zu übersehen, dass sie sich eine ganze Zeitlang in ihrem Stoff nicht wohlfühlen wie Kafkas Held im Amerikaroman oder die gar nicht fiktiven Emigranten. Aber dann kommt der Augenblick, wo die Handlung abhebt und emporschwebt in eine Tavianiwelt der Phantasie und des Traums. Es ist, als säße man in einem Düsenflugzeug: Es ist über die Startbahn gerollt und nun hat es den Erdboden verlassen. Dieser Punkt ist erreicht mit der Idee vom Elefanten. Die Landschaft ist denkbar unamerikanisch. Hollywood verwandelt sich in eine grüne amphibische Gegend – ein Nebenfluss des Po an einem heiteren, sehr klaren Frühsommertag. Bemerkenswert auch, wie sie in einem mit amerikanischem Geld finanzierten Film ihrem bekannten Antiamerikanismus freien Lauf lassen. Die eingeborenen Amerikaner angelsächsischer Herkunft sind, abgesehen von Griffith, zumeist Ignoranten oder böswillige Neider. Als das Filmpersonal einmal edlerer Gefühle sich fähig zeigt, heißt es ausdrücklich, sie seien aus der ganzen Welt zusammengekommen. Viele Szenen wirkten wie sehr realistische Träume, etwa die Ankunft des Vaters in Kalifornien und das geradezu entrückte Hochzeitsmahl. Wie machen sie das nur: nichts ist unrealistisch, aber die ganze Atmosphäre suggeriert einem, dass das gar nicht so gewesen sein kann, nur Traum und Phantasie gewesen ist? Erstaunlich auch, wie oft sich der Tavianis neuester Film mit Fellinis „Intervista“ berührt. Die Frühzeit des Films, die alten Straßenbahnen … Wie nahe ging mir auch das Brüder-Thema. Wer hat dazu jemals ein so herrliches Bild erfunden, wie das Löffeln aus dem gemeinsamen Teller während der stürmischen Überfahrt. Andere Teller und Gläser stürzen zu Boden. Andrea und Nicola aber, einer von den beiden fängt den hin- und herrutschenden Teller jeweils auf, um zwei Löffel Suppe zu nehmen, bevor die nächste Breitseite den Teller zurückbefördert. Hoffentlich machen die beiden Regisseurbrüder noch viele Filme dieser Art!
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

nun lernt man also eine Leidenschaft von Dir kennen, die zumindest ich noch nicht kannte.
Und mir geht es so wie es sehr wahrscheinlich manchen Lesern meiner 'Was ich lese und gelesen habe' - Besprechungen ergeht - ich kann nicht mitschnattern, weil ich die bisher besprochenen Filme nicht kenne. Aber Du gibst mir das Gefühl, etwas verpasst zu haben - ach hätte man doch mindestens zwei Leben parallel ...
Aber so erfreue ich mich immerhin an Deinen Beschreibungen!

Liebe Grüße
Petra
 
Auf jeden Fall meinen Dank für die Notiznahme, Petra. Es kommen im weiteren Verlauf noch andere Themen zur Sprache: Zeitgeschichtliches, Begegnungen und Beobachtungen. Einen Großteil der Aufzeichnungen kann ich hier nicht bringen: Arbeitsleben, da zur Verschwiegenheit verpflichtet, und Erotisches mit eigener Beteiligung.

Dass es mit Film beginnt, ist Zufall und erinnert an Hoffmanns "Kater Murr" und die Makulaturblätter. Da ist in einem Schrank ein Stapel Schmierblätter fürs Anfertigen von Einkaufslisten. Eine drehe ich vor Tagen besorgt um: ein Fehlausdruck altes Tagebuch - Verfängliches? Aber nein, nur die Zeilen über die Offenbach-Verfilmung (1).

Liebe Grüße
Arno
 
(4) 28. Januar 1986

Mehdi Charefs „Tee im Harem des Archimedes“ hat sich durchaus gelohnt. Ich sah ein bedeutendes Stück französischer, Pariser Realität. Ich hatte mir den Film harmloser vorgestellt, die beiden Hauptfiguren nicht so sehr sozial verwahrlost. Die Familie der algerischen Einwanderer – sie bedeutete für mich noch etwas Besonderes: Ich lese ja gerade zwei Bände Geschichte des Islam. In dieser Familie verkörperte sich die neueste Periode der Beziehungen zwischen Europa und dem Islam. Charefs Film erinnerte manchmal von fern an Pasolini und noch mehr an Visconti. Aber es wäre ungerecht, solche Maßstäbe anzulegen. Diese Episoden hier verbanden sich nicht zu einer wirklichen Geschichte, das Ende war ja auch völlige Ratlosigkeit. Aber eben diese Ratlosigkeit ist die der Sozialistischen Partei, die nicht mehr weiß, was sie den Massen, zu denen Madjid und Pat gehören, noch anbieten kann. Die Madjid und Pat sind die Opfer, die Mitterand dafür gebracht hat, dass Frankreich weiter am internationalen Wettbewerb teilnehmen kann. Eine Fortsetzung des ursprünglichen Konzeptes von 1981 hätte das Land seiner Konkurrenzfähigkeit beraubt und zunehmende Isolierung zur Folge gehabt. Dafür wollte sich Mitterand nicht entscheiden, dessen Position, gestützt auch auf die Kommunisten, damals vielleicht stark genug war, eine solche radikale Kehrtwende auszuführen. Die jetzige Wut auf die Linke in Frankreich erklärt sich wohl auch aus der Enttäuschung über die, die weitreichende Vollmachten erhalten hatten, diese dann aber nicht anzuwenden wagten. Ähnliches und ein noch eindeutigerer Betrug geschah in Spanien, wo die Sozialisten versprachen, das Land aus der NATO herauszuführen – und nun bricht Gonzales das Versprechen. Dabei fällt mir Dänemark ein, das nächstens abstimmen wird, ob seine Regierung einen Teil der Souveränität an die Europäische Gemeinschaft abtreten darf. Ich wünsche sehr, dass die Dänen sich in der Volksabstimmung dagegen aussprechen werden. In vielen westeuropäischen Ländern bilden sich zeitweise deutliche Mehrheiten für einen Bruch mit der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, regelmäßig scheuen aber die dazu Bevollmächtigten die Konsequenzen. Drückt sich darin nicht die weitgehend eingebüßte Souveränität Europas aus? Die Völker können denken und fühlen, was immer sie wollen – es finden sich stets Funktionäre, die dafür sorgen, dass die Geschäfte wie gewöhnlich weitergehen. Es kommt in Zukunft darauf an, die Statthalter als solche zu bezeichnen, die Tschechoslowakisierung Westeuropas ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Möglich, dass dann einmal oppositionelle Mehrheiten eine ihnen angemessene politische Führung finden. Auf mittlere Sicht (d.h. während der Zeit unserer Lebenserwartung) ist ein solcher Umschwung kaum zu erwarten. Umso wichtiger, dass die Identität Europas nicht verloren geht. Die Protestbewegungen dürfen nicht abreißen, die Individuen nicht aussterben, deren Lebenshaltung von der europäischen Tradition bestimmt ist und nicht von der kolonialen Realität um sie herum. Wichtig ist also, dass das verdinglichte Bewusstsein nicht allmächtig wird.
 

petrasmiles

Mitglied
Ich wünsche sehr, dass die Dänen sich in der Volksabstimmung dagegen aussprechen werden. In vielen westeuropäischen Ländern bilden sich zeitweise deutliche Mehrheiten für einen Bruch mit der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, regelmäßig scheuen aber die dazu Bevollmächtigten die Konsequenzen. Drückt sich darin nicht die weitgehend eingebüßte Souveränität Europas aus? Die Völker können denken und fühlen, was immer sie wollen – es finden sich stets Funktionäre, die dafür sorgen, dass die Geschäfte wie gewöhnlich weitergehen.
Da klingeln einem doch die Ohren! Sechsunddreißig Jahre später ...
Auf mittlere Sicht (d.h. während der Zeit unserer Lebenserwartung) ist ein solcher Umschwung kaum zu erwarten. Umso wichtiger, dass die Identität Europas nicht verloren geht. Die Protestbewegungen dürfen nicht abreißen, die Individuen nicht aussterben, deren Lebenshaltung von der europäischen Tradition bestimmt ist und nicht von der kolonialen Realität um sie herum. Wichtig ist also, dass das verdinglichte Bewusstsein nicht allmächtig wird.
... und wie hellsichtig - aber doch noch nicht 'pessimistisch' genug.
 
Hellsichtig, Petra? Zu viel der Ehre. Das war damals, d.h. zwischen 1970 und 1990, eine gar nicht so seltene Betrachtungsweise, vielleicht häufiger anzutreffen als heute.

Liebe Grüße
Arno
 

John Wein

Mitglied
Dabei fällt mir Dänemark ein, das nächstens abstimmen wird, ob seine Regierung einen Teil der Souveränität an die Europäische Gemeinschaft abtreten darf.
Lieber Arno,
Ich kenne diese Absicht der Dänen und deren Beweggründe nicht und kann mich deiner und Petras Hoffnung nur anschließen. Aus diesem Gebilde, das einmal mit soviel Hoffnung auf wirtschaftlichen Fortschritt und Frieden seiner seiner Völker angetreten ist, hat sich ein bürokratisches Monster entwickelt, das bis ins Kleinste und in den letzten privaten Winkel seine Bürger bevormundet und reglementiert und sich über die Jahre zu einem machthungrigen Apparat entwickelt hat, der die verschiedenen Nationalitäten mit ihren Werten und Traditionen in rigoroser Weise auf Gleichschritt trimmt.
Ich habe diese neue, versöhnende europäische Geschichte ja von Anfang an, mit Montanunion und Benelux, EWG usw., seit meiner Schulzeit erlebt. Damals, lag unser Land am Boden, haben sich Konrad Adenauer und Charles de Gaulle die Hand zum friedlichen Miteinander zum Wohle aller gaben. Ihre Vision war ein Europa der Vaterländer in Vielfalt in ihrem in gemeinschaftlich gewachsenen Erbe.
Die heutige EU ist ein aufgeblähter, bürokratischer Komplex mit 3 aus verschiedenen Ländern zentralistisch operierender Machtapparat, mit einem Pseudo Parlament und einer Kommission, die von der Legislative der Staaten in Abhängigkeit operiert und beschließt.
Nicht nur die Dänen auch die Schweizer Stimm-Bürger, in ihrem vorbildlich demokratischen Staatswesen, bleiben hoffentlich standhaft gegenüber dem Druck dieser EU Assozations Umtriebigkeit.
In diesem Sinn,
Gesegnete Weinachten und ein glückliches Neuen Jahr.
John


i
 
Lieber John,

danke für deine freundlichen Zeilen. Unsere Grundvorstellungen sind wohl recht nahe beieinander.

Das in den alten Tagebuchnotizen erwähnte Referendum in Dänemark liegt natürlich in der Vergangenheit. Es fand am 25.6.86 statt und ergab 56,2% Zustimmung zur Einheitlichen Europäischen Akte, einem maßgeblichen Meilenstein auf dem Weg von der EG zur EU.

Lass mich dir ebenfalls frohe Festtage und alles Gute fürs kommende Jahr wünschen.
Arno
 
(5) 25. März 1990

Zwei Gestalten aus lange zurückliegender Vergangenheit sind letzte Nacht wieder einmal aufgetaucht. Der eine war dieser Pfarrer aus Berlin; er wird wohl nach seiner Rückkehr eine andere Rolle im kirchlichen Dienst spielen. Er schien mir jetzt ganz alterslos, nur grau, sonst aber fetischistisch aufgezäumt wie je. Er hatte einen sehr attraktiven jungen Sadisten dabei, zu meinem Erstaunen hörte ich von N***, dass der Pfarrer jetzt wohl zum Masochismus neige.

Dann traf ich "Siegfried" nach vielen Jahren wieder einmal. Er begrüßte mich am Eingang des Videoraumes im *** und wir unterhielten uns einige Minuten lang. Er ist jetzt seit zweieinhalb Jahren in Berlin, spiele Theater und singe auch an diversen Bühnen. Frankfurt habe er nach neunundzwanzig Jahren – einer langen und schönen Zeit – ohne Zorn im Rückblick verlassen, fühle sich jetzt aber in Berlin richtig wohl. Er schien mir ganz unverändert, vor Wohlwollen überfließend und etwas schwindelhaft. Die politischen Veränderungen der letzten Zeit seien ihm sehr nahe gegangen. Die Tage im November zählten zu seinen glücklichsten und bewegtesten überhaupt. Am 9. November sei er auf die Nachricht von den ersten Besuchern aus dem Osten zum Kurfürstendamm gegangen und habe sich „einen Papa mit seinem Sohn geschnappt – und dann bin ich mit ihnen ins teuerste Restaurant gegangen: Champagner trinken: das hat mich doch gar nicht interessiert, was es kostet!“ Er schmunzelt selbstgefällig, gibt mir seine Visitenkarte, lädt mich nach Berlin ein und verschwindet auf seinem Weg ins Dunkle. Nachher fällt mir wieder ein, dass er mich gefragt hat, wie mir denn der Wechsel von Marburg bekommen sei. Ich war vorsichtshalber nicht darauf eingegangen. Am Ende hat er mich wirklich verwechselt, vielleicht für F*** gehalten. Es altern nur unsere äußeren Züge, im Verhalten geben wir uns unverändert, unveränderlich wie Lawinen, die zu Tal donnern, alle Möglichkeiten verschüttend: kein Gedanke an eine Richtungsänderung, immer nur auf dem direkten Weg bergab. Und das muss natürlich auch für einen selbst gelten ...
 
(6) 1. April 1990

M*** hat mich gestern Abend besucht. Wir fuhren, nachdem wir etwas Sibelius gehört hatten, wofür er sich neuerdings erwärmt, zum Essen nach Altona, gingen auf seinen Wunsch in die ***kneipe, wo man tatsächlich zu moderaten Preisen recht gut isst. Allerdings gefiel mir das Lokal an sich nicht. Dieser Gegenästhetik der Kulturschickeria kann ich gar nichts abgewinnen. Hat Ästhetik nicht doch in erster Linie etwas mit den Sinnen zu tun? Wie kann man sich in einem schlecht proportionierten, schlecht gelüfteten und ganz schmucklosen Raum wohlfühlen, der auch nicht die Klarheit und Schönheit einfacher und dauerhafter Materialien aufweist? Aber Abgrenzung vom Bürgerlichen tut not und da alles, was die Sinne auf angenehme Weise anspricht, schon verwendet und benutzt ist, wirft man sich halt in eine Gegenwelt aus Müll und Askese. Nicht einmal das Hässliche war interessant. Die Männer wirkten so fade, dass sich einem kein einziges Gesicht einprägte. Zwei Frauen machten eine Ausnahme, eine hinreißend verrückte und so verrückt gewachsene junge Person mit einem krummen Rücken und einer aufgelösten Frisur wie ein in Unordnung geratenes Wollknäuel – und eine andere, die tatsächlich wie ein Mann aussah, aber eben nicht wie ein Transvestit, sondern wie eine richtige Frau, die zu ihrem Leidwesen sehr herbe männliche Züge aufweist. Sie protestierte sehr vernehmlich gegen dieses Unrecht, das ihr die Natur angetan, indem sie riesige runde Ohrringe trug, was die Sache noch beträchtlich verschlimmerte.

Übrigens wirkte das asketische Getue nicht einmal sehr überzeugend. Die Speisekarte war wohlüberlegt zusammengestellt und die protzige Art, wie die noble Sektmarke in x Variationen angepriesen wurde, zeigte deutlich, an welche Art von Publikum man sich wendet: die wahren, echten Genießer, die auf ihr verkanntes Genießertum auch noch stolz sind. Das Gute, Wahre, Echte musste es sein. Als M*** das Eis so gut schmeckte, konnte es eigentlich doch nur hausgemacht sein (nach dieser Lebenskunstideologie schmeckt hausgemachtes Eis eben besser als industriell hergestelltes, was mir nicht in jedem Fall einleuchtet). Leider war das Eis von *** geliefert. Aber das war noch kein Unglück: Es war eben viel besser als das von ***, woran sich der Pöbel im Hanseviertel delektiert; das sei bloß fett – als ob der Geschmack am Rahmigen nicht ebenso gut seine subjektive Berechtigung hätte. Die Bedienung pflichtete mit schon fast religiös anmutender Inbrunst bei: Sie finde ***-Eis einfach furchtbar, wie gut, dass einer den Unterschied noch merke.

Diese Überbetonung von letztlich ziemlich belanglosen Geschmackswertungen – als wären es die letzten Werte an sich – kommt mir ziemlich komisch vor. So hatte ich also neben dem wohlschmeckenden Kartoffel-Blumenkohlauflauf noch ein Vergnügen für den Geist. M***s Unterhaltung war leider wieder etwas zerfasert, es gelingt ihm nicht, lange bei einer Sache zu bleiben.
 

John Wein

Mitglied
Lieber Arno,
Hier bringst du ein gutes Beispiel, wie man eine eigentlich belanglose Geschichte durch genaue Beobachtung und bildhafter Beschreibung zu einem Lesevergnügen macht. Man spürt die Atmosphäre dieser Lokalität und fühlt sich hineinversetzt ins Geschehen.
Allerdings stören mich die vielen ***. Hier hätte ich einfach fiktive Namen eingesetzt. Statt M*** Mattes oä, und wie wärs mit Frionello Eis? und Armand Chateauxroux. Es würde die Geschichte abrunden.
Ein neues erfolgreiches Lese/Schreibjahr Dir,
Santé, John
 
Danke, John, für diese erfreuliche Resonanz. Dein Missvergnügen an der ins Auge springenden Verschlüsselung kann ich gut nachvollziehen. Nun ging es mir aber nicht in erster Linie um auch äußerlich sichtbares Abgerundetsein einer Episode aus dem Original-Tagebuch, sondern doch um dokumentarische Treue. Diese Texte sind daher fast gar nicht redigiert, d.h. im Wesentlichen nur im Hinblick auf Persönlichkeitsschutz geändert. Dass verschlüsselt wurde, soll man auch merken. Zuletzt haben sich dabei hier wohl die Sternchen gehäuft, das wirkt ohne Zweifel störend. Es wird jedoch die Ausnahme bleiben.

Auch für dich im Neuen Jahr viel Freude an produktiver Arbeit und an neuen Entdeckungen
Arno
 
(7) 3. Oktober 1990

Im Grunde hat man die Änderung auf der Landkarte geistig noch nicht recht verarbeitet. Eine so grundlegende Änderung in so kurzer Zeit! Aber es war auch Zeit. Abgesehen von jedem persönlichen Vor- oder Nachteil ist mit der Wiedervereinigung doch nur der Normalzustand in Mitteleuropa wiederhergestellt worden. Das ist weder zum Räsonnieren noch zur Euphorie Anlass, nur zur befriedigten Kenntnisnahme. Ich ging gestern Abend zeitig schlafen und nahm von allem Rummel keine Notiz.

Heue Morgen an den Schriftsteller Schernikau gedacht, den ich Ende Dezember `89 in einem Radiointerview gehört hatte. Schernikau damals: Er hätte sich nicht vorstellen können, dass diese Veränderungen eintreten würden. (Er meinte den Untergang des alten Systems.) Und fuhr, statt aus dieser Erfahrung zu lernen, flott und fröhlich fort: Aber zur Wiedervereinigung werde es nicht kommen, da sei er sich sicher und er wisse auch, dass die DDR-Bevölkerung gar nicht daran glaube. Wie Schernikau hat sich eine breite Intellektuellenschicht viele Jahre hindurch getäuscht und täuschen lassen. Von Zerknirschung ist aber jetzt nicht viel zu spüren. Die alten Sprüche werden munter weiter heruntergebetet. Die tibetanischen Gebetsmühlen rattern. Wenn es einen schweren Geburtsfehler des neuen Gesamtstaates gibt, dann den, dass ein Großteil der kritischen, leider nicht selbstkritischen Intelligenz abseits steht.
 
(8) 15. Oktober 1990

Samstag also endlich nach Schwerin. R*** kam leider nicht mit, obwohl wir schon so lange darüber gesprochen hatten. Die Züge fahren jetzt schon bedeutend schneller. Ich kam um viertel vor elf an und fuhr kurz vor acht abends zurück. Vormittags zunächst ein erster Stadtbummel, auch im Dom gewesen, dann Mittagessen. Nachher am Schloss und im Schlossgarten gewesen. Dann mit der Straßenbahn zum Großen Dreesch, der Satellitenstadt, in der die Hälfte der Bevölkerung wohnt. Dort Rundgang und dann hinauf auf den Fernsehturm, der Aussicht wegen. Später nach Zippendorf gegangen und von dort nach Mueß. Hier in der Nähe in einem Ferienheim Kaffee getrunken. Zu Fuß hinauf zum Großen Dreesch und mit der Bahn zurück in die Stadt. Dann stundenlang durch die Altstadt und die Schelfstadt gebummelt. Am Pfaffenteich bettelte mich ein arbeitsloser Alkoholiker an; ich gab ihm zwei Mark und sprach fast eine halbe Stunde mit ihm. Er ist vor einiger Zeit wegen der Trinkerei entlassen worden. Ich aß dann am Schloss noch eine Wurst an einem der vielen Imbissstände und ging langsam zum Bahnhof zurück, um noch eine Stunde auf den Zug zu warten.

Die Stadt ist tatsächlich sehr schön, schon aufgrund ihrer Lage, noch mehr aber wegen der vielen pompösen Bauten aus der Zeit der Großherzöge. Und alles hat den Krieg überstanden. Die DDR-Zeit hat leider manches Viertel nur in schlechtem Zustand überstanden. Die großen öffentlichen Gebäude dürften wohl alle sanierungsfähig sein. Ob dies auch für alle alten Wohnhäuser gilt, ist sehr zweifelhaft. Besonders die Schelfstadt ist in üblem Zustand. Im Unterschied zu Jena sah ich hier flächenhaften Verfall. Dabei wäre das eines der schönsten alten Stadtviertel Deutschlands. Wenn die Sonne am Nachmittag schon tief steht und wenn es dann dunkel geworden ist und die Laternen scheinen, gewinnt die Stadt einen ausgesprochen morbiden Reiz; sehr ästhetisch. Fühlte mich an Wien erinnert.

Die Neubauviertel waren nicht so scheußlich, wie immer gesagt wird, nur Nuancen schlechter als ähnliche Viertel im Westen. Die Straßenbahn funktioniert bewundernswert. Die Luft am See war herrlich. Gern sah ich mir die vielen sowjetischen Soldaten an, die wenig militärisch, vielmehr individualistisch und sympathisch wirkten. Täusche ich mich: Früher hatte ich von ihnen in Ost-Berlin einen anderen Eindruck. Ein Farbtupfer wird fehlen, wenn sie fort sind. An der Bevölkerung war von Depression nichts wahrzunehmen, wie es gewisse Publizisten so gern sehen möchten und uns im Westen täglich über die Medien vermitteln. Die Wahlergebnisse entsprechen ja auch diesem Bild, das ich quer durch die Stadt von ruhiger und zuversichtlicher Regelmäßigkeit gewonnen hatte. Junge Leute wirken oft strahlend.

Jetzt in Schwerin noch stärker als in Jena den spezifischen Reiz dieser Länder der untergegangenen DDR gespürt und genossen. Kein Zweifel, ich fühle mich dort wohl, vielleicht wohler als im Westen. Diese Städte sind ästhetisch ungeheuer interessant, sehr ergiebig fürs Auge. Man fällt beim Schauen ständig von einer Epoche in die andere. Eine Schäbigkeit, die nie Langeweile erzeugt. Sehr angenehm das Fehlen der westlichen überspannten Freizeitkultur. Keine Hunde, kaum Fahrräder, als Fußgänger lebt man paradiesisch, abgesehen von den fehlenden Fußgängerampeln. Dieser Reiz wird sich mit Angleichung der Lebensverhältnisse verringern, hoffentlich nicht ganz verflüchtigen. Ohnehin gehöre ich nicht zu jenen, die um jener liebenswürdigen Unvollkommenheit die DDR als eine Art Naturschutzpark gern erhalten gesehen hätten. Das war illusorisch, denn dabei wären die Bedürfnisse ihrer Bewohner weiter zu kurz gekommen. Außerdem sagte man ja noch vor anderthalb Jahren zu Recht, die DDR sei eines der langweiligsten Länder der Welt. Der jetzige Reiz ist ein Reiz des Umbruchs – und der ist natürlich nur eine Übergangserscheinung. Dennoch: Zu wünschen bleibt, dass Spuren zurückbleiben und eine besondere individuelle Note jeder Region sich herausbildet.

Gestern Mittag rief A*** an. Er war mit M*** in Heiligenstadt in Thüringen und nicht begeistert. Nun bietet die Stadt vielleicht auch nicht so viel wie Schwerin. Dennoch merkte ich wohl, dass sie eben den Vergleich mit dem Westen nicht bestanden hat. Merkwürdig, jene, die die DDR am liebsten hätten fortdauern sehen, sind am wenigsten imstande, ihre Regionen und Städte als etwas Eigenes, Unvergleichliches zu respektieren und auf sich wirken zu lassen. Unglaubliche Berührungsängste. Der Fall der DDR: das Waterloo der Linken, ein traumatisches Erlebnis sondergleichen. Begriffe wie Neugier, Offenheit, Solidarität entpuppen sich als das, was sie immer schon waren: Worthülsen, mit denen man sich und andere betrogen hat. Wirklich komisch die Frustration jener, die, die Basisdemokratie auf den Lippen, nur die Herrschaft einer kleinen Minderheit über die Mehrheit im Kopf hatten und nun erleben müssen, wie die Basis keine Lust darauf hat, unter Vormundschaft gestellt zu werden. Das ist nicht weniger erheiternd als etwa Mompers Wählerbeschimpfung, sein Zorn über die Massen in Thüringen und Sachsen, die es, fern von Berlin, nicht besser wussten. Dabei ist das gute Abschneiden der SPD in Brandenburg für die Partei nicht eben schmeichelhaft. Nicht die Arbeiter haben sie gewählt, sondern die Nutznießer des alten Systems.
 

petrasmiles

Mitglied
Der Fall der DDR: das Waterloo der Linken, ein traumatisches Erlebnis sondergleichen. Begriffe wie Neugier, Offenheit, Solidarität entpuppen sich als das, was sie immer schon waren: Worthülsen, mit denen man sich und andere betrogen hat.
Lieber Arno,

das ist ein alter Text und meint natürlich eine besondere Spezies politisch Aktiver. Für die hatte ich mich seinerzeit weniger interessiert als für die Menschen.
Dies berücksichtigend möchte ich trotzdem sagen, dass Dein 'Urteil' sehr abstrakt rüberkommt und dabei aber sehr verallgemeinernd.
Dass diese Spezies immer eine Minderheit ist und über die Mehrheit herrschen will, ist das Wesen der Politik - und sogar irgendwie in der Demokratie angelegt. Das sehen wir heute sehr schmerzhaft - wo Protagonisten ihre eigenen Themen bearbeiten, und die Grünen sogar (von Anfang an) mit ihrer Attitüde der 'umweltschonenden' Deindustrialisierung Sargnägel für den sozialen Frieden schmiedeten. Das machen sie wohl immer noch, aber mittlerweile aus anderen Gründen.
Du hast persönliche Erfahrungen gemacht, aber ich würde den Enthusiasmus derer nicht komplett in Abrede stellen - und finde das Etikett des 'sich und andere betrügen' sehr scharf - zu scharf.
Und was die Menschen anbelangt - ich glaube, dass wir mit der bisherigen Art, die DDR und ihre ehemaligen Bürger zu sehen, nicht sehr weit gekommen sind.
Das war eben kein politisches Statement der 'Basis', sondern Zeugnis ihrer Verführbarkeit für die Versprechungen der 'blühenden Landschaften' - in Verbindung damit, dass niemand wusste, was wird und große Verunsicherung herrschte.
Was die Teilhabe an der DDR mit den Menschen gemacht hat, lässt sich auch auf der Habenseite auflisten, ohne dass man auf politische Phrasen verweisen muss. Ich wünschte, im Westen hätte es ebenso viel Gemeinschaftssinn und Solidarität gegeben, dann hätten mehr Menschen in Deutschland heute noch einen Sinn dafür und wir würden unsere gesellschaftliche Basis nicht auch noch an übersteigerten Individualismus verlieren. Ich sehe amerikanische Verhältnisse auf uns zukommen, wo ein Empfinden für Solidarität so gering ausgeprägt ist, dass man den anderen Ärmeren keine Krankenversicherung gönnt, für die man eventuell mitbezahlen müsste.

Ich will Deinen Text nicht mit all diesen Überlegungen überfrachten. In Sachen Die Linke hast Du einerseits Recht, aber andererseits besteht das große Versagen darin, sich nicht stärker etabliert zu haben, als der Sternenstaub aus den Augen gerieben war. Aber das konntest Du damals ja noch nicht wissen.

Liebe Grüße
Petra
 
Tja, liebe Petra ... Zunächst will ich versichern, dass dies hier alles Originaleinträge aus der Vergangenheit sind, so gut wie nicht redigiert. In (8) habe ich z.B. lediglich drei Namen unkenntlich gemacht. Die Texte sind also nicht genau das, was ich heute formulieren würde. Es sind private und zugleich historische Dokumente, die in erster Linie zeigen sollen, was damals einer wie ich so getrieben und gedacht hat. Müsste ich mich im Detail auf eine Diskussion einlassen, würde ich vieles anders ausdrücken und auch bewerten, manches weniger scharf, einiges auch schärfer. Es ist aber, wie gesagt, nicht meine Absicht, mich hier selbst zu überprüfen und evtl. auch zu korrigieren.

Den letzten Eintrag hier habe ich primär wegen der Eindrücke von einem ersten Schwerin-Besuch kurz nach der Wiedervereinigung ausgewählt. Dann geht das über in allgemeine Beobachtungen in Ostdeutschland, ich war ja damals oft und bald auch wiederholt wochenlang "drüben". Die letzten Sätze, auf die du dich in deinem Kommentar dann explizit beziehst, wollte ich bloß nicht abschneiden. Sie sind nicht das, worauf das Vorherige hinausläuft. Trotzdem will ich dazu Weniges sagen.

Die etwas gereizt-zugespitzten Formulierungen da sind vor allem meine Reaktion auf Gespräche im Bekannten- und Freundeskreis. Es gab eine weit verbreitete, strikt ablehnende Stimmung, die ich nicht geteilt habe. Als Beispiel dafür, dass sie auch in der allgemeinen Debatte wahrzunehmen war, findet sich in (7) der Name des Schriftstellers Schernikau (1960 - 1991). Sein Fall ist recht anschaulich. Er kam aus dem Westen, war ohne Zweifel ein talentierter junger Autor und verlegte aus politischen Gründen seinen Wohnsitz 1986 von Westberlin nach Leipzig (ab 1989 dann in Ostberlin). Ich habe mir in jüngerer Vergangenheit seine beiden Adressen in dieser Zeit angesehen, ich war jeweils vor Ort. In Leipzig wohnte er im Stadtzentrum, gleich neben der Universität und dicht am Augustusplatz; in Ostberlin dann in der funkelnagelneuen Plattenbaugroßsiedlung Hellersdorf. Er lebte also jahrelang in Brennpunkten der gesellschaftlichen Entwicklung - und dann diese oben von mir zitierte Aussage von ihm. Krass, aber auch typisch.

Liebe Grüße
Arno
 

John Wein

Mitglied
An der Bevölkerung war von Depression nichts wahrzunehmen, wie es gewisse Publizisten so gern sehen möchten und uns im Westen täglich über die Medien vermitteln.
Ja mein lieber Arno,
Da sehe ich als alter weißer Wessi-Mann mit griffbereitem Bademantel in der Tat zu heute viele Parallelen. Die fallen mir natürlich nicht erst seit gestern auf. Ich erlebe auch meine spezielle NRW Parallele in hiesiger Ausprägung. Die ganze Infrastruktur seit 30 Jahren vernachlässigt, ÖPNV und Bahn unzuverlässig und dreckig, Post höchstens 2x in der Woche, das letzte Postamt (bei 40T Einw. wegen Personalmangel) für immer geschlossen. Meine Bank, die Reklame steht auf allen Bundesligaplätzen, schrieb mir am Jahresende "Glückwunsch, ihr Geld hat jetzt ein neues zu Hause" (15 km in der Nachbarstadt), was mir aber gar nicht so witzig rüberkam.
Viele Zeitgenossen merken das schon gar nicht mehr, weil sie es eben nicht anders kannten und z.T. unsereins höchstens als Nostalgiker verspotten.
Ok, nachdem ich soeben ins Populistische abgedriftet war, verdient natürlich auch dieser letzte Beitrag von dir Würdigung. Meckpom ist ein Bundesland dessen Eindrücke mir hauptsächlich durch Bahnsfenster vermittelt wurden und das schöne Schloss in Schwerin kenne ich von Fotos. Den Rest hast du mir in der Retrospektive erläutert, da hat sich aber sicher bereits einiges verändert. Dann kenne Rügen von einem wunderschönen Aufenthalt vor dem große Tourismushype.
Natürlich kenne ich auch aus früheren Besuchen die DDR, denn die eine Hälfte meiner Familie stammt von dort und da der Grenzzaun 500m daneben war, war es für Wessis später Sperrgebiet. Als die Mauer fiel war ich unterwegs im Auto auf dem Weg zur Nachtschicht und total angefixt. Zwei Monate später rief mein gleichaltriger Cousin (einer meiner letzten DDR Überlebenden) aus Ostberlin an.
Ich wünsche dir ein frohe neues Schreib- und Lesejahr.
J.Wein
 



 
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