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John Wein

Mitglied
Myschkin, die Jepantschins, Nastassja Filippowna, der alte Iwolgin, Kolja
Wie diese Namen klingen! Ich liebe die russische Literatur, habe selbst schon einmal eine Geschichte aus dem alten Russland verfasst. Eine eigenartige Mystik liegt in dieser russischen Weltliteratur, die mit einer unglaublich bildhaften Sprache verfasst ist. Ich erinnere mich auch an Onkel Wanja von Tschechow. Alles umweht der Atem des Schöngeistigen. Mann und Hesse unsere deutschen Protagonisten.
Gruß, John
 
Ach, John, ich betrachte das ganz nüchtern. Die russische ist halt eine der großen Nationalliteraturen und bietet quantitativ wie qualitativ viel Interessantes. Mystik liegt mir nicht so und insgesamt neige ich eher zur französischen Literatur mit ihrer Rationalität. Und man darf nicht übersehen, dass gerade der französische Einfluss auf die russischen Autoren immens war.

Schönen Abendgruß
Arno
 
(18) 3. Januar 1991

Deprimierend die Verhältnisse bei den Eltern. Mein Vater baut immer mehr ab. Er redet nur noch wenig, liegt und schläft zumeist, hat hörbar immense Verdauungsprobleme und isst nur wenig und immer dasselbe. Er ist jetzt wirklich eine Dreiviertelmumie, schrecklich anzusehen. Meine Mutter leidet sehr unter den beschränkten Verhältnissen, der Kontaktarmut, dem täglichen Leerlauf. Dennoch wagt sie kaum eigene Initiative. Ihre Einstellung zu meinem Vater ist deutlich ambivalent, stimmt man jedoch in ihre Klagen ein, erschrickt sie. Der Arzt hat ihr Medikamente gegen Unruhezustände, Schlaflosigkeit und Depressionen verordnet. Es ist wirklich eine Welt zum Depressivwerden, ihre unmittelbare Umgebung ist eine Müll- und Ruinenlandschaft voller Erinnerungen an bessere Tage und deren Hoffnungen geworden. Von einem Umzug in den Ort ist vorerst keine Rede. Es wird immer klarer, dass sie die leerstehenden alten Häuschen wohl nie beziehen werden. Wozu dann aber die jahrelange Plackerei mit den alten Häusern? Sie heizen dort drei Öfen! Offenkundig, dass mein Vater nicht ernsthaft umziehen will. Er denkt wohl, dass er mit viel Glück noch den Ablauf des staatlichen Vorkaufsrechts für den Hof erreicht und dann sterben kann. Meine Mutter aber droht immer wieder, ihm in diesem Fall bald zu folgen. Sie könne nicht ohne Partner leben.

Sie pflegen ihre Schrullen, etwa diesen absurden Geiz. Das muss man gesehen und gehört haben, wie mein Vater den Zwieback schneidet und dann sorgfältig die Krümel zusammenkratzt und aufisst. Und dann hocken sie täglich mehrere Stunden im Dunkeln herum. Die Sonne ist schon vor einer Stunde untergegangen, aber meine Mutter sitzt mit chronisch entzündeten Augen über einer Handarbeit … Ihr ganzer Jahreslauf spielt sich jetzt ausschließlich zwischen dem Haus, den alten Katen im Dorf und dem nächsten Supermarkt ab. Diese zwei Kilometer, das ist alles, was sie noch an Spielraum haben. Das völlig neue Stadtzentrum ignorieren sie, mein Vater lehnt es heftig ab, die Mutter bestellt ihre Kleidung lieber umständlich beim Versandhandel als das nur fünf Kilometer entfernte sehr große und günstige Angebot zu prüfen. Aber sie gehen auch nicht in die andere Richtung, hinaus in die Natur. Bei ihr wäre das Interesse zwar vorhanden, aber ohne ihn unternimmt sie nichts und so sehen sie gar nichts mehr. Sie schauen sich nicht einmal mehr auf ihrem eigenen Grund um, betreten das verpachtete Land nicht mehr. Auf der großen Wiese oben – drei Minuten von ihrem Haus – ist in diesem Jahr intensiv Pferdesport betrieben worden. Es ist eine Art Pferderennbahn entstanden, angelegt vom Pächter des Nachbarhofs, und die Wiese stark beschädigt worden – ja, sie haben davon schon gehört, aber sind nicht selbst da gewesen. Bei einem einzigen Besuch im Jahr nehme ich von ihrer unmittelbaren Umgebung hundertmal mehr wahr als sie das ganze Jahr über. Sie leben wirklich im Vorzimmer des Todes, es ist furchtbar. Einmal wagte ich es, die Mutter zu kritisieren, und sagte ihr, sich derart abzukapseln, sei nicht gut. Ich hatte es ruhig gesagt und sie antwortete nichts. Aber nach zwei Minuten hörte ich sie im Flur mit dem Vater tuscheln: Ich hätte mit ihr geschimpft. Vielleicht sollte ich das wirklich tun – aber ob es irgendetwas nutzen würde? Sie wollen sich ja quälen, das ist ihr einziges Vergnügen. Idiotisch, es ihnen nehmen zu wollen.
 

John Wein

Mitglied
Lieber Arno,
Dieser Text hat mir sehr gefallen, nicht was du hier so bildhaft beschreibst, sondern wie du dieses armselige Leben deiner Eltern schilderst. Man hat bei dieser behutsamen, sehr anschaulichen Erzählweise nicht nur das Elend von Verbitterung und Trübsal im Fokus, sondern auch deine Verzagtheit und deine Resignation. Mit aller Feinfühligkeit in Sorge um deine Eltern geschrieben, sagtes auch etwas aus über dich.
Die Bilder, die man aus jener Zeit noch erinnert, können sich unsere heutigen Nachgeborenen gar nicht mehr nachvollziehen. Ich erinnere mich noch das Elend der Nachkriegszeit, es hat unsere Elterngeneration bestimmt und uns geprägt.
Ich erinnere mich, dass du vor Jahren schon einmal eine ähnliche Geschichte, hier war es ein Besuch zu Weihnachten, geschrieben hast. Ja, das war mir immer noch bei mir im Hinterkopf.
Resümierend einer deiner besten Texte!

eine Müll- und Ruinenlandschaft voller Erinnerungen an bessere Tage
sehr stark!
Liebe Grüße, John
 
Danke, lieber John, fürs Lob. Dabei ist es ursprünglich nur ein alter Tagebucheintrag, den ich ein klein wenig stilistisch verbessert habe (z.B. Wortwiederholungen ausmerzen). Es gibt da noch mehr Stellen dieser Art und ich habe sie wohl auch in belletristischen Texten verwendet (bearbeitet).

Etwas sehe ich heute kritisch: Unausgesprochen scheint mir der obige Text ein gewisses Gefühl der Überlegenheit zu enthalten. In mittleren Jahren war mir die Vorstellung, im Alter selbst in eine zwar anders geartete, doch insgesamt vergleichbar problematische Situation zu geraten, vollkommen fremd. Die mit dem weiteren Zeitablauf verbundenen Erfahrungen machen einen dann bescheidener. Man erkennt an, dass Niedergang und Scheitern etwas dem Leben Immanentes ist.

Trotzdem einen schönen Abend
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

das hat John sehr schön auf den Punkt gebracht - das deckt sich mit meinem Eindruck.

Und ich finde, Du brauchst von Deinem früheren Selbst keine Abstriche zu machen. Realistisch betrachtet warst Du 'überlegen', Du konntest Ihnen nicht als ein gealterter Mensch gegenüberstehen, sondern nur als der noch in 'Kraft und Saft' stehende, der sein Leben noch gestalten will.

Man altert als der Mensch, der man war - und hält sich wahrscheinlich an das, was man noch kann von dem, was in Fleisch und Blut übergegangen ist, wie die übertriebene, lebensfeindliche Sparsamkeit, die ja wiederum in einer Generation verhaftet ist. das ist ein wichtiges Zeitzeugnis.
Außerdem hast Du diese 'Überlegenheit' ja gar nicht ausgespielt, Du bist ja nur in der Rolle des Chronisten anwesend; nur ein bisschen sieht man, was diese Beobachtungen mit Dir machen.
Da fällt mir wieder der Epiktet ein, von den Dingen, die wir beeinflussen können und welche nicht. Es ist unser, zu streben, aber nicht, damit Erfolg oder Ansehen zu erreichen.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, liebe Petra, für die begütigenden Worte.

Was mir gerade einfällt: Man kann die spätere eigene Zerknirschung recht gut literarisch ausbeuten - und selbst aus dieser Ausbeutung dann noch einmal gestaltbare Zerknirschung gewinnen - ein Kreislauf, bis aus lauter Aufrichtigkeit reine Unaufrichtigkeit geworden ist.

Liebe Grüße
Arno
 
(19) 7. Februar 1980

Hatte am Montagabend einen bizarren Einfall. Ich wollte das kommunale Kino Metropolis kennenlernen und suchte mir zu diesem Zweck den 1941 gedrehten japanischen Film „Genroku Chushingura“ aus. Der Film war nicht synchronisiert und ohne Untertitel. Ich hatte auch keinerlei Kenntnis von der Handlung, die unter Samurais im 17. Jahrhundert spielt. Ich verstand überhaupt nichts, langweilte mich aber in keiner Weise. Es war das totale Dada-Erlebnis, wie ein gewaltiger Alptraum. So stelle ich mir einen wirklichen Kulturschock vor. Man versteht nicht einmal die Mimik, von Ausnahmen abgesehen. Übrigens handelte es sich nur um den ersten Teil des Filmwerks. Der zweite läuft vierzehn Tage später. Ich werde wohl nicht hingehen. Ein solches Erlebnis könnte durch Wiederholung nichts gewinnen.

Gestern Nachmittag erneut im Metropolis. Ich sah zwei deutsche Stummfilme von 1929, den Kurzfilm „Überfall“ und den etwas längeren „Menschen am Sonntag“, eine Mischung zwischen Spielfilm mit Amateurdarstellern und Kulturfilm. Mich interessierte im Wesentlichen das Bild der früheren Stadt, dieses untergegangene Berlin. Ich erschrecke jedes Mal, wenn ich feststelle, wie sich Städte innerhalb von fünfzig Jahren völlig verändern können. Dies ist wirklich eine ganz andere Stadt, schöner und hässlicher zugleich, mit Menschen, die ganz anders aussehen. Die Touristenwerbung, die an diese angeblich glorreichen Zwanziger anknüpft, ist Schwindel. West-Berlin heute ist von jenem Berlin so weit entfernt wie das Paris Victor Hugos von der Stadt Ludwigs des Zwölften. Wollen wir „aber den Eindruck genießen, den euch die neue Stadt nimmermehr geben kann“, so sind wir auf die Archive angewiesen. Allerdings sind gerade diese Filme nicht für eine Nachwelt gedreht, die wissen will, wie Berlin damals ausgesehen hat. Die Kamera zeigt selten Gesamtansichten von Plätzen oder Straßenzügen. Sie folgt in raschem Wechsel den Bewegungen immer neuer „Verkehrsteilnehmer“, um dem damaligen Zuschauer ein Gefühl von großstädtischer Hektik und Modernität zu vermitteln. So muss man sich mit sekundenschnellen Streiflichtern begnügen. Was aber jenes Berliner Tempo angeht, so scheint es mir weder langsamer noch schneller gewesen zu sein, erweckt aber gleichfalls den Eindruck von Fremdartigkeit. In den Bewegungen der Menschen und der Fahrzeuge liegt ein anderer Rhythmus. Sieh hin, wie sich die Menschen am Zoo damals begegneten. Es ist kein Schieben oder Drängeln, wie ich es erlebt habe, sondern mehr ein kantiges, eckiges Vorbeigleiten. Übrigens sieht man auch, dass sich die Passanten und Autos und Bahnen auch im dichtesten Gewühl weniger reglementiert und viel sicherer und freier bewegen. Es ist das Straßenbild der Neuen Sachlichkeit, das sich hier zeigt. Was ist die Neue Sachlichkeit? – Der ästhetische Ausdruck der vorläufig letzten Phase des liberalen Wirtschaftssystems. Der Film zeigt Berlin im Sommer 1929, wenige Monate vor Ausbruch der großen Wirtschaftskrise. Wie bald das alles verschwinden sollte. Der Faschismus stand ihnen bevor, von dem Adorno gesagt hat: „Gewalttätig nahm er die gegenwärtige Krisenbeherrschung vorweg, ein barbarisches Experiment staatlicher Lenkung der Industriegesellschaft“. Die Bilder stimmen wehmütig. Das hat nichts mit jener unsäglichen Nostalgie zu tun, die jetzt überall im Schwang ist. Adorno erklärt es so: „Weil der Weltgeist nicht mehr mit dem Geist ist, erscheinen dessen letzte Tage, als wären sie das goldene Zeitalter gewesen, das auch sie nicht waren.“
 

petrasmiles

Mitglied
Bizarr trifft es. Auf solch ein Abenteuer hätte ich mich nie eingelassen! Da ist mir etwas entgangen.

Wenn man bedenkt, dass Deine Reflexionen 45 Jahre her sind ... was weht einen da an? Selbst die Reflexion über Vergangenes vergeht, und ist doch merkwürdig aktuell. Sehr interessant Deine Beobachtungen aus dem Verkehrsgewühl, eckiger, aber nicht anrempelnd. Ein starkes Bild. Wie ist es heute?

Danke für Deine Zeitenlese.

Liebe Grüße
Petra
 
Auf solch ein Abenteuer hätte ich mich nie eingelassen!
Ja, damals, Petra ... Heute zieht man das internet zu Rate und ist bald im Bild:


Erschöpfende (auch den Leser!) Darstellung. Bei den angegebenen Verfilmungen fehlt allerdings ausgerechnet die japanische von 1941, von der ich die erste Hälfte gesehen habe.

Sehr interessant Deine Beobachtungen aus dem Verkehrsgewühl, eckiger, aber nicht anrempelnd. Ein starkes Bild. Wie ist es heute?
Ach, inzwischen ist mir ein Verdacht gekommen: Die Unterschiede könnten auch an der Technik der Filmaufnahmen liegen. Evtl. erzeugten damalige Kameras eher ein ruckeliges Bild.

Liebe Grüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Ja, das ist schon was mit unserer Wahrnehmung. Aber ist es nicht spannend, wie man seinem Selbst über die Schulter blicken kann und mit späteren Erfahrung - und anhaltender Reflexion - nicht nur ein 'runderes' Bild der Welt, sondern auch von sich selbst bekommt?

Ich schreibe seit meinem 18. Lebensjahr Tagebuch, nicht als Chronik, sondern eher 'zum Verarbeiten'. Am meisten schrieb ich, als mich die Liebeswirren beutelten. Nicht zufällig begann ich mit 18, das war, als ich meinen ersten Freund hatte. Nach vielen Jahren, vielleicht mit dreißig?, las ich im ersten Tagebuch, um mal zu sehen, wer ich gewesen war. Ich war nicht wenig überrascht, als ich las, wie ich die damalige Trennung nach dreieinhalb Jahren kommentierte. Da war ich doch eher Opfer der Umstände, Geschehnisse von außen, alles mögliche führte dazu, nur nicht mein Handeln. Dabei weiß und wußte ich, dass ich die Umstände benutzt hatte, um diesen notwendigen Schritt zu gehen. Ich kam mir ganz schön durchtrieben vor - unehrlich. Das war ein heilsamer Schock. Zum einen die Einsicht, dass ich dazu fähig war, solche Verdrehungen vorzunehmen: Gesundes Misstrauen gegen sich selbst ist durchaus angebracht! Zum anderen der Vorsatz, nichts zu schreiben, was ich nicht auch weiß und meine. Wenn man bei diesen intimen Aufzeichnungen nicht ehrlich sein kann, wann dann?
Im Nachhinein sehe ich diese Erfahrung weniger kritisch, weil sie mir die Erkenntnis bescherte, dass man auch seine eigenen Motive hinterfragen muss, das war fürs Leben! Ich sehe auch die 18jährige weniger streng, vielleicht war es Selbstschutz, der Versuch, vor dem noch zuckenden Herzen die Realität hervorzuheben. Außerdem verstehe ich dadurch besser, dass wir immer unterwegs sind und lernen müssen, das Richtige zu tun (und zu sagen) und wir lernen es, wenn wir die Erkenntnis zulassen, dass wir Fehler gemacht haben. Wie fatal ist doch die vorherrschende Haltung, man müsse immer schon der Tollste sein, kommt quasi so auf die Welt ... aber ich schweife ab.

Einen schönen Sonntag Dir!

Liebe Grüße
Petra
 
Die von dir, liebe Petra, beschriebenen Mechanismen sind mir auch bekannt. Wie man sie einschätzt und mit ihnen umgeht, das sehe ich ähnlich wie du.

Nur zwei kleine Ergänzungen. Ich denke, dass das Ausmaß an Selbsttäuschung im Lauf des Lebens abnimmt. Und: Übersehen wir nicht den konträren Ablauf, die Täuschung infolge der Erinnerungsarbeit. Da wird verkürzt, verschoben und neu zusammengestellt, so dass sich in der späteren Erinnerung manchmal von der ursprünglichen stark abweichende Hergänge festsetzen können. In der Kriminalistik und vor Gericht gibt es ja den Grundsatz, dass der frühesten Zeugenaussage nach einem Geschehen die stärkste Beweiskraft zukommt. Im Verhältnis zu sich selbst kann das gelegentlich nicht nur äußere Abläufe, sondern auch uns bewusste oder eingestandene Motive betreffen.

Neulich schrieb ich einen kleinen autobiographischen Text, allein aufgrund von Erinnerung und nur ein klein wenig auf die Wirkung hin arrangiert. Als der Text fertig war. las ich im Tagebuch nach, was seinerzeit festgehalten worden war. Es waren zwei verschiedene Geschichten, die sich nur hier und da berührten. Ich änderte nichts, tröstete mich mit dem Spruch, dass Geschichten nie richtig erlebt, sondern nur - sehr selten - richtig beschrieben werden. (Wer hat das gesagt: Polgar oder Kerr?)

Schöne Sonntagsgrüße
Arno
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ja, das ist so, die Geschichte von früher bildet sich im Kopf.
Und Lücken füllt das Gehirn mit Fantasie.
Ich hätt's nicht für möglich gehalten. Vieles ist wahr, aber Zeiten verschieben sich.
Meine Mutter war sehr krank undihr Hausarzt hatte sie aufgegeben. Sie schlief nur noch, aß nichts, und war verwirrt.
Wir gingen der Sache auf den Grund. Es war die Medizin. Zu starke Beruhigungstropfen oder Pillen.
Der Familienrat trat zusammen. Wir gingenjede Medizin durch und strichen alles, was bei 14 Tagen nicht notwendig ist.
Es wurden noch ca. 6 Jahre draus, von denen 51/2 gut waren. Aber sie war immer optimistisch. Das half sehr. Ich habe den Rest weggelassen, wo die Ursachen gefunden wurden, wo ihre Medikation korrigiert wurde, wo sie wieder Laufen und Harmonika spielen konnte.
Und für mich selbst lernte ich auch. Das ist aber eine andere Geschichte.
Deine Erlebnisse sind gut beschrieben. Und beeindruckend.
 

John Wein

Mitglied
Mich interessierte im Wesentlichen das Bild der früheren Stadt, dieses untergegangene Berlin. Ich erschrecke jedes Mal, wenn ich feststelle, wie sich Städte innerhalb von fünfzig Jahren völlig verändern können.
Wie ist es heute?
Lieber Arno,
...und wieder einmal fast 50 Jahre vergangen, untergegangen (wie du angemerkt hast). Ja Arno, da kann man auch heute wieder erschrecken. Ich denke, die Haupstadtfunktion bekommt Berlin überhaupt nicht und es ist keinesweg Nostalgie, die mich zu diesen Sätzen bewegt. Nein, das ungezwungene Flair, ein Berlinfeeling, das dieser Stadt nach dieser Spanne abhanden gekommen zu sein scheint. Erinnerst du dich noch an "Die Insulaner", das Kabarett der geteilten Stadt. "sehn' se det iss Berlin, eine Stadt, die sich gewaschen hat, sehn' se det iss Berlin!" Damit begann und endete die TV Ausstralung, die wir damals nie verpasst haben. Man sollte sie einmal waschen und knitterfrei bügeln, damit ein frischer Weltgeist wieder einziehen kann und der verkniffene Zeitgeist das Zeitliche segnet, Amen!
Heute ist Berlin in meiner Wahrnehmung eine Stadt, die einen gehörigen Schuss schwäbisches Klima verströmt, gepaart mit einem großen Quantum Arroganz; hochnäsig und trotz aller Buntheit bieder. Es ist immer die Gesamtheit, die eine Stadt abbildet.
Das ist mein genereller Eindruck aus der Ferne, andere haben vielleicht andere Wahrnehmungen.
Ich grüße, John
 

petrasmiles

Mitglied
Heute ist Berlin in meiner Wahrnehmung eine Stadt, die einen gehörigen Schuss schwäbisches Klima verströmt, gepaart mit einem großen Quantum Arroganz; hochnäsig und trotz aller Buntheit bieder.
Das deckt sich mit meinen Erfahrungen - wobei ich Berlin nie als 'arrogant' empfunden hatte, als überheblich, frech, aber auch selbstironisch, ja, aber Arroganz ist eine neue Note der zugezogenen Alimentierten.
Was sagt der Fach-Mann?

Liebe Grüße
Petra
 
Zuerst bedanke ich mich bei Bernd für Zustimmung und lobende Worte. Das wird mir Ansporn sein.

Heute ist Berlin in meiner Wahrnehmung eine Stadt, die einen gehörigen Schuss schwäbisches Klima verströmt, gepaart mit einem großen Quantum Arroganz; hochnäsig und trotz aller Buntheit bieder.
Diesen Eindruck, lieber John, kann man tatsächlich in ausgedehnten Teilen der Stadt bekommen - und erst recht, wenn man das durch die Medien am liebsten vermittelte Bild betrachtet. Allerdings sieht ein facettenreiches Gesamtbild heute doch etwas anders aus. Bei deiner Beschreibung fehlen mir: weithin sichtbare starke Ansätze für Verfall und Verelendung (und auch deren öffentliche Thematisierung) und ebenso aber auch die weit verbreitete Alltagsnormalität (ohne Metropolengetue). Letztere findest du vor allem im größeren Teil der Stadt außerhalb des S-Bahnrings, in dem zwei Drittel der Einwohner leben. Wenn ich Alltagsnormalität sage, beinhaltet das zugleich auch hier unübersehbare soziale Probleme, nur eben ohne das von dir monierte "schwäbische Klima" mit "Arroganz" und Pseudo-"Buntheit". Diese Probleme sind dieselben wie in Hamburg, München, Köln, Dortmund. Leipzig usw.

Schöne Abendgrüße
Arno
 
(20) 27. Januar 2017

T. hatte mir als DVD den Film „Das wilde Leben“ über Uschi Obermaier geschenkt. Gestern die erste Hälfte angesehen, die zweite soll heute folgen. Will er meinen Filmkunstgeschmack beeinflussen? Dann ist das fehlgeschlagen. Der Streifen ist 1. deutsch, 2. ein Historienfilm und handelt 3. nur von Heterosexualität. Das geht alles so sehr an meinen Interessen vorbei, dass ich nicht einmal imstande bin, die Qualität zu beurteilen. Im Internet sehe ich, dass die Kritik etwas überwiegend negativ war. Das kann ich nachvollziehen. Etwas anderes beunruhigt mich: Ich musste mir sagen, dass die Figuren zur selben Zeit wie ich jung waren und z.T. an denselben Orten – und dennoch der Eindruck eines mit meinem völlig unverbundenen Paralleluniversums! Kann das überhaupt so gewesen sein? Noch mehr beunruhigender Verdacht: Könnte ich mit meinem heutigen Bewusstsein in meine Welt von damals wirklich eintauchen, würde ich vielleicht ähnlich starkes Befremden verspüren.


29. Januar 2027

„Die wilden Jahre“ ist insgesamt ein Film mittleren Niveaus. Als zeitgeschichtliches Panorama taugt es kaum, doch die Beziehung Obermaier – Bockhorn ist berührend, beschäftigt mich seltsamerweise seitdem gelegentlich. Ob es Querverbindungen zu Hubert Fichte gibt? Ich will mal recherchieren.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

da bist Du ein anderer Zeitreisender als ich - für mich waren diese Protagonisten wie die Launen älterer Geschwister - und Uschi Obermaier fand ich immer dumm und unterhaltsam - wobei ich mit dumm eine gewisse Art der Selbstbezogenheit meine, die schon wieder imponiert.

Dafür ist mir Hubert Fichte entgangen - schon erstaunlich, was 10 - 15 Jahre ausmachen können.
Eine Parallele zwischen Bockhorn und Fichte bestand bestimmt auf St. Pauli, da hat Fichte ja seine 'Interviews aus dem Palais d'amour' gemacht - Bockhorns Lokal hieß allerdings L'amour, aber ob man die 'Kiezgröße' übersehen konnte? Was hast Du denn noch herausgefunden?
Kennst Du Fichtes Werk gut und welches würdest Du mir empfehlen? Ich bin neugierig geworden.

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra,

danke für Fragen und Stichworte. Also Frau Obermaiers Vita wie auch ihre Vitalität finde ich insgesamt durchaus beeindruckend. (Sie weilt ja noch auf Erden.)

Zu Hubert Fichte habe ich in diesem Zusammenhang nichts ermitteln können. Da aber in Bockhorns Café Adler zeitweise Prominenz verkehrte (sogar Augstein und Bürgermeister Klose), ist Fichte dort auch vorstellbar. Diese Kneipe lag nicht in St. Pauli, sondern in "meinem" Eimsbüttel, war aber schon geschlossen worden, als ich dahin umzog. Ebenso könnte Fichte in Bockhorns früheren Nachtclubs an der Reeperbahn verkehrt haben.

Fichte habe ich erst lange nach seinem Tod zu lesen begonnen. Persönlich schätze ich in erster Linie seine Hamburger autobiographischen Romane ("Die Palette", "Detlevs Imitationen 'Grünspan'" und vor allem "Versuch über die Pubertät"), doch auch "Das Waisenhaus" über die Zeit im Krieg in Schrobenhausen. Von seinen späteren ethnopoetischen Werken habe ich bisher kaum etwas gelesen. Ich habe auch mal sein Grab besucht (Foto davon im Wikipedia-Artikel). Er war zu Lebzeiten und noch eine Zeitlang danach en vogue. Ich weiß nicht, warum das längst nicht mehr so ist. Meine Vermutung: Dass die weniger zur Popularisierung geeigneten späten Sachen von Literaturwissenschaft und Ethnologie ins Zentrum gestellt wurden, hat seiner Nachwirkung sehr geschadet. Hamburg hat Jahrzehnte gebraucht, bis sie endlich ene kleine Sackgasse (!) nach ihm benannt haben, superpeinlich. Dabei ist er einer der beiden großen Prosaschriftsteller gewesen, die die Stadt im 20. Jahrhundert hatte.

Liebe Grüße
Arno
 



 
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