Geh-schichten von der Via de la Plata

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onivido

Mitglied
Hola John,
ich lese die Geh-schichten immer wieder vom Anfang an. Du laesst mich mitgehen. Dabei ist mir jetzt eine Kleinigkeit aufgefallen. "Plata del dia ". Es sollte eigentlich " Plato del dia" sein. Warte gespannt auf die Fortsetzung.
Beste Gruesse///Onivido
 

Mimi

Mitglied
Hallo John,
beim Lesen Deiner Erzählungen konnte ich fast schon den Rosmarin riechen...
Fast so als würde man mitgehen, ein Stück...
vorbei an den weißen Häusern, die die Straßen in Castilblanco säumen ... bis zum satten Grün der Landschaft im Frühjahr...

PS:
Lieber Onivido, ich kenne es auch nur als "Ruta Vía de la Plata"...
Für die "Plato del día", bekomme ich in einem argentinischen Restaurant "die Empfehlung des Tages".

Grüße
Mimi
 

John Wein

Mitglied
Dankeschön Onivido und Mimi,
Mix-up mit Via de la Plata, es heißt natürlich Plato!
und "plato de día" ist einfach das Tagesmenü der/des jeweiligen Bar/Restaurante. Es gibt in diesen kleinen Establishments meistens keine Speisekarte. Der Wirt liest vor und man bestellt. Das Hauptgericht, einmal gekocht oder gegrillt gibt's für alle. Ich werde später unterwegs noch darauf eingehen. Es ist alles so reizend einfach und gefällig.
LG JOhn
 

Mimi

Mitglied
Korrektur: ich meinte natürlich, dass ich es auch nur so von der "Ruta Vía de la Plata" kenne ...
Ja, John, Speisekarte gibt's in diesem Dorf nicht wirklich...
Aber das Essen dort... einfach aber himmlisch.
 

John Wein

Mitglied
27. April 2019 Castilblaco de Arroyos - Almadén de la Plata, 31 km

Was für ein Tag!

Ich habe einigermaßen gut geschlafen. Die Nacht in Castilblaco war ungewöhnlich kalt, mehr als 10 Grad waren es nicht. Die zweite Decke war nötig. Am geöffneten Fenster atme ich lang und tief ein. Ich bin ausgeschlafen, fühle ich mich gut erholt und voller Energie. Heute stehen 31 km auf dem Fahrplan und die haben es, nicht nur der Länge wegen, in sich. Im ersten Teil erwartet mich eine unfreundliche Landstraße, der zweite, glanzvolle Teil dagegen, gehört dem Naturpark Sevilla Nord.

Der Cortado zum Frühstück wärmt mich. Der Kaffee ist eine spanische Köstlichkeit, ein Espresso mit der gleichen Menge heißer Milch zubereitet und in einem Glas serviert. Das Bocadillo dazu ist belegt mit Bellota, dem Schinken-Gold der Extremadura. Doch davon später mehr. Als Wegzehrung bestelle ich ein Zweites, bis Almadén gibt es keine Einkaufsmöglichkeit und keine Bar. Mit 2 Liter Wasser in den Seitentaschen meines Rucksacks bin ich gut gerüstet.

Das Wetter ist zum Heldenzeugen. Ein klarer und blauer Himmel wölbt sich über der Gottesnatur, dazu die morgendliche Kühle, ich könnt‘ ein Liedchen pfeifen. Auch nicht das wellige, kurvenreiche Asphaltband kann meine Laune betrüben. Monoton den einen Schritt vor den andern setzen ohne Ablenkung, räumt auf im Kopf und friert die Gedanken ein. Verkehr gibt es kaum an diesem Samstagmorgen.

Als wollte die Via alles wieder gutmachen, wartet sie im Park Natural Sevilla del Norte mit einer glanzvollen Fortsetzung auf. Hinter dem Eingangstor ist meine Welt wieder in Ordnung. Tief sauge ich die würzige Luft in die Lungen, fühle mich befreit und gut gerüstet für den zweiten Teil der Strecke. Am Wegrand blüht in lila Tönen verschwenderisch der Lavendel, rosa und weiße Zistrosen malen bunte Tupfer in das frische Grün unter Kork- und Steineichen und meine gefiederten Freunde stimmen ein in das Potpourri der Sinne. Außer mir ist hier niemand unterwegs. Ich bin voll Lebensfreude und beschwingt singe ich.

“Summer time, and the living is easy…”

Wenn sich das Herz weitet und Freude und Glück einen beseelen, dann wird so ein Tag im Leben zu einem besonderen, einen den man auch nach vielen Jahren nicht vergisst. So versteht sich der Camino, und so bekommt er seine besondere Bedeutung für jeden, der dieses beschwingte Gefühl einmal erlebt hat und dann, ja dann wird das Gehen auf einem der Pilgerwege zur Obsession.

Krieg dich ein!

Vorne liegen die Gebäude der ehemaligen Finca Berrocal, deren Ländereien heute zum Naturpark gehören. Hier ist keines Menschen Seele. Ich setze mich auf das verwitterte Mäuerchen neben den ehemaligen Stallungen und verschlinge mein Schinkenbrötchen. Der Wasserhahn tropft, ich zapfe köstliches, frisches Wasser. Das vom Hotel gehört den Opuntien, es schmeckte nach Chlor. Mit frisch gefüllten Flaschen mache ich mich auf die Socken.

Die Landschaft ist in ihrer Vielfalt verschwenderisch. In dem ehemaligen Weideland, dominieren in lockerer Anordnung Kork- und Steineichen bis zu den fernen Gipfeln, unter den Bäumen steht grünsilbrig schimmernd das Frühlingsgras und an den Hängen wogt das Meer der Zistrosen.

Es wird heiß, schnell klettern die Temperaturen wieder über die dreißig Grad Marke. Ich öffne ein Gatter. Dahinter grasen Kühe mit ihren Kälbern, der Talschluss ist bewirtschaftet. Zeitweilig stehen die Tiere direkt vor mir auf dem Weg. Mein Herz klopft bis zum Hals, doch die Tiere nehmen nicht einmal Notiz. Ich bin kein mutiger Torero, habe statt Banderillas nur meine Wanderstöcke. Mutig schreite ich durch die Herde und siehe da, olé, die Gehörnten weichen. Es wird steiniger und der Sonne ausgesetzt, führt der Weg im Geröll zum Schlussanstieg steil bergan. Es ist eine letzte schweißtreibende Prüfung vor dem Tagesziel. Oben werfe ich einen langen Blick zurück hinunter über die weite Ebene des Berrocal. Steil, auf garstigem Beton führt der Weg hinunter nach Amáden de la Plata. In der baumlosen Ebene unter mir leuchtet ein weißes Dorf unter roten Ziegeldächern.

Entgegen den Gewohnheiten ist hier und heute alles auf den Beinen, Straßen und Plätze gehen im bunten und lauten Getrubel landunter. Aber man wartete natürlich nicht auf mich trotz meines 31 km Hindernislaufs und Finale. Heute, am Samstag, feiert das Dorf die Heilige Kommunion der Kleinen. Die toben festlich herausgeputzt und die Erwachsenen schwitzen vornehm in Eau de Toilette. Auf dem Marktplatz, ein Spießroutenlauf, spendiert man mir ein Estrella aus dem Eiskübel. Es ist in erster Linie der Feierlaune und weniger meiner jämmerlichen Aufführung geschuldet.

Die Bar des „Casa Concha“ ist zugleich auch Rezeption. Um mir Gehör zu verschaffen, muss ich mich mühsam durch zwei Reihen trinkfreudiger und zudringlicher Caballeros arbeiten, während meine Stimme markerschütternd und trotzdem hilflos in spanischem Frohsinn ertrinkt. Nach einer gefühlten Ewigkeit, abgekämpft und durchgeschwitzt, bekomme ich endlich den Schlüssel zu meiner Kammer. Alle überflüssige Last landet mit einem kräftigen Schwung auf der Lagerstatt. Draußen, im Schatten des Schirms, schicke ich ein zweites Estrella über die ausgetrocknete, lechzende Gurgel. Ein paar Fahrradpilger in der Runde, ist es Zufall, deutschstämmige Bierbrauer aus dem fernen Melbourne, heben an. Na denn Prosit!

Gegen Mitternacht fingere ich die Ohrenstöpsel aus dem Rucksack, unten in der Bar kocht die Stimmung bei Gesang und Polonaise. Man feiert in den frühen Sonntag hinein. Ich knete mir das Wachs zurecht, drücke es kräftig in die Gehörgänge und steige hinunter in das seichte Grab eines schlechten Schlafs.

What a day for a daydream!
 
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An deine Fersen habe ich mich geheftet, John. Das ist ganz einfach: den jeweiligen Ausgangsort deiner Etappe bei Google Maps abrufen und auf Luftbild gehen, dort das Etappenziel suchen und den Weg bis dahin nachverfolgen. Man stößt so auch auf Fotos von den Orten und Gegenden. Eben habe ich eine Reihe solcher Bilder von El Berrocal angesehen, sie waren allerdings wohl nicht im Frühjahr aufgenommen. Ich lese deine Aufzeichnungen weiter sehr gern.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
da findest du auch, die Casa Concha in Almáden de la Plata. Ich bin in einer FB Gruppe VdlP habe dort auch damals von Unterwegs meine Rohfassungen mit Fotos versehen. Das ist alles sehr anschaulich mit Bildern nachzuvollziehen.
Danke für deine Begleitung!
LG John
 
Danke für den FB-Tipp. Allerdings habe ich dort (wo ich nie wirklich aktiv war) seit einiger Zeit keinen Zugriff mehr. Man will nun meine Mobiltelefonnummer wissen, und selbst wenn ich eine besäße, würde ich sie ihnen nicht geben.

Solche Aufnahmen sollen mir nur einen zusätzlichen Eindruck vom allgemeinen Charakter der Landschaft vermitteln. Deine subjektiven Reisenotizen sind mir natürlich wichtiger.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
28. April, Almadén de la Plata – El Real de la Jara, 15 km.

Die Sonntagsglocken läuten, Almadén schläft tief und seine Gassen sind ohne Leben. Klar, der Andalusier ist lebenslustig und gesellig, man hatte bis in die frühen Morgenstunden, getanzt und gelacht. Noch ist es kühl zwischen den Mauern, die klare Nacht hat frische und sauerstoffreiche Luft hinunter in die Ebene transportiert.

Gegen 9:00 Uhr, nach einem reichhaltigen Frühstück in Gesellschaft mit den australischen Bierbrauern, bin ich wieder allein mit meinen Gedanken und in Gottes Natur auf der Bahn. Heute werde ich viele Gatter öffnen und schließen müssen. Wechselnd, zwischen Herden von Schafen, Ziegen, Kühen und Schweinen, wandere ich auf und ab durch die hügelige Natur Andalusiens. Die Strecke ist nicht lang, mehr Spaziergang, als Wanderung. Es bleibt viel Zeit für ausgedehntes Rasten.

Der Camino krabbelt abwärts durch Fels und Gestrüpp in ein schmales Tal und mündet in einen Schotterweg. Am Rand entdecke ich von oben her eine hundertköpfige Schafherde. Kein Hirte ist weit und breit auf der Flur. Ein Hund, aber kein kleiner, überwacht die Herde. Der Herr, treibt seine Schäfchen den Wegrand entlang und organisiert die Schar. Ich zögere, Auge in Auge steht mir der Wächter gegenüber, ausweichen ist unmöglich. Hhmm! Beide Stöcke fest in den Händen, gehe ich weiter und rede, mehr den Angsthasen in mir beruhigend, als den Hüter besänftigend. Er jedoch würdigt den Zaudernden mitleidig. Der Hirte hat Wichtigeres zu tun, als einem hasenherzigen Pilger Beine zu machen. Der gewinnt hurtigen Schrittes, aber holla, sicheres Land; der Mutige, ein Don Quichote unter Palmen!

Die Begegnungen mit den lebenden Schinken sind weniger todesmutig. Die fetten, alten Säue halten, dösig in schattiger Suhle hingestreckt, ihre Siesta und das schwarze Jungvolk am Wegrand interessiert sich nur für Eicheln und andere Leckereien unter der Narbe. Es muss wachsen und gedeihen und nebenbei saftigen Schinken produzieren.

Es ist 15:00 Uhr und wieder einmal ist Siesta, auch in El Real de la Jara. An der Eingangstür des „Hostal Encina“, Pension Eiche, klebt ein Zettel, die Telefonnummer, darunter in Rot: „cinco minutos“, der Rest der Nachricht: geschenkt! Fünfzehn Minuten später steht Paco, stämmiger Glatzkopf, mit seinem klapprigen Pickup vor dem Haus und gibt mir die Schlüssel für ein Zimmer auf der Etage. Das Hostal bietet, neben dem Getränkeautomaten, keine aufregende Unterhaltung und draußen vor der Tür schmückt die sonntagsverwaiste Industrie ein abweisendes Gelände. An diesem Tag, denke ich, ist hier am Ende der Welt von El Jara, die ganz Tote Hose. Pacos hält mir das Mobiltelefon unter die Nase, hmm: Raucher! Der Google Übersetzer krächzt ein holprig deutsches Kauderwelsch in das Aroma, Marke Fortuna: „du gehen, Bar“ und „Beerdigung“, ja Himmel, wie passt das alles zusammen?! Bar ok, prima, aber was soll ich auf der Beerdigung eines Fremden, Gott habe ihn selig, in El Real de la Jara? Die Beifahrertür ist nur von innen zu öffnen. Ich pflanze mich, die Beine verknotend neben ihn und den Baumarkt Krempel zu meinen Füßen. Paco zündet den aufblubbernden Pickup, krachend spreizt sich der erste Gang. Aus dem Lautsprecher schmettert es: „Vayamos Compañeros“, derart beflügelt, holpern wir über Schlaglöcher aus der Industriebrache ins reich besonnte Dorf. In der „Bar Jara“ herrscht typisch spanischer Sonntagstrubel, Paco: „¡Hasta la proxima!“, bis später!

Auf dem Trottoir finde ich einen freien Plastikstuhl im dürren, abnehmenden Schatten in enger Nachbarschaft zum lauten Jungvolk in herber Körperlichkeit, eine Mischung Gloria Vanderbild und Achselschweiß. Der Wirt, mir in mitleidiger Freundschaft zugetan, bringt ein Schälchen mit fetten Häppchen in öliger Tunke und ein Mahou: „¡buen provecho!“ Die Dorfstraße vor dem Trottoir wächst zur Kirche hin und mündet vor dem Portal. Über dem Turmgesims, auf ihren Nestern üben ein paar Jungstörche Trampolinsprünge. Vor dem Eingang versammelt sich ein Trauerzug. Aaaah! Die Beerdigung!

¡QUE DIA! Was für ein Tag! Oben Klapperstorch und unten schwarzer Rabe.

Stunden später und ein weiters Bier, oder war es schon das Dritte (?) seliger, hocke ich zwischen Paco und dem Baumarkt Gerödel auf dem Bock und klappere zurück in die Industrie. Ein Paar Socken auswaschen, ein paar Nüsse knabbern, in so vollkommener Harmonie mit mir und dem abgerundeten Tag, kann ein Sonntag auf dem Camino ausklingen. Olé!

Draußen, hinter den verdrossenen Spinnfäden im Fenster, versinkt dottergelb die andalusische Sonne im westlichen Wiesengrund.

Ich schließe die Läden.
 
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Hier konnte ich mich vor allem in die Begegnung mit dem Hirtenhund gut hineinversetzen, John. Wie oft habe ich Ähnliches durchzittert ... Dabei sind Hunde ohne Herde in der Regel eher bedenklich als solche mit Tieren.

Mir fällt auf, dass wiederholt in deinen Aufzeichnungen von Gewerbegebieten die Rede ist, auch solchen in kleinen Orten. Ich finde es gut, dass du kein einseitiges Bild von nur heiler Landschaft zeichnest.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
29. April, El Real de la Jara – Monesterio, 20km

„Buenas Dias“ Es ist 8 Uhr. Unten vor der Tür des „Hostal Escina“ blubbert der Pickup. Paco wirft mein Gepäck auf die Ladefläche und öffnet mir die Tür von innen. Paul Anka „Eso Beso“, damit fliegen wir hinaus und über die Schlaglöcher von El Real de la Jara hinweg Richtung Desayuno, Frühstück.

Die Gaststube, in der zu anderen Tageszeiten das Leben pulsiert, gähnt Leere. Auf den Hockern in der Bar, Füße auf der Reling, verstecken sich zwei Caballeros im Rentenalter hinter „El Pais“. Ich nehme einen Stuhl und setze mich an einen in weißem Papier gedeckten Tisch. Links neben mir dudelt der Spielautomat, gefangen in seiner Endlosschleife, synthetische Melodien und rechts oben an der Wand, auf einem überdimensionierten TV-Gerät, befeuert eine attraktive Meteorologin meine gutgelaunte Morgenstimmung.

„Camarero, por favor, una tostada con jamón y un cortado.” Ich bestelle mein Frühstück und überlasse Paco dem Tag. Wehmut kommt auf, wir hätten Freunde werden können, ein bisschen ist mir der Kerl Herz gewachsen. Das Frühstück in der "Bar Chati", ich will nicht klagen, ist reichhaltig und gut. Klar, hier bin ich im Schinkenland.

„Einen Moment, bitte!“ Ich spreche noch schnell ein paar Worte in mein IPhontagebuch: „Heute ist Montag der 29. April, die Etappe nach Monesterio ist nur 20 km lang. Es geht mir gut, ich habe gut gefrühstückt, die Luft ist frisch, der Himmel blau und die Frühtemperatur liegt bei 18 Grad. Himmel, was soll ich sagen?! Es geht mir gut! Ja, es geht mir gut!“

Noch liegen die Gassen im Schatten, Adiós El Real de la Jara, adiós Andaluz! Olivenhaine in einer freundlichen Hügellandschaft führen mich zurück in die liebliche Natur. Ein Pirol pfeift seine Melodie, ich spitze den Mund und antworte mit dem Echo.

Vor mir arbeitet die Landschaft an einem Panorama. Erhöht, gegenüber einer Furt, thront der Quader eines verfallenen Kastells und spiegelt sich im flachen Wasser. Unter der viertürmigen Ruine grasen ein paar Schäfchen und darüber, am Himmel, ebenfalls. Das Sujet erinnert mich an die flämischen Landschaftsmaler meiner zweiten Heimat. Im Bildformat würde sich das gut über jedem Sofa machen.

Der Bach, durch den ich wate, ist zugleich die Grenze zwischen den autonomen Regionen Andalusien und Extremadura. Letzteres ist ein Land von der Fläche der Niederlande, mit nur wenig mehr als eine Million Einwohner, ein Vogelparadies und Region des geschätzten Belotta Iberico.

Dann öffnet sich die Landschaft und die ungeschützte Sonne brennt mir von hinten auf den Pelz. Ich muss meine Beine kräftig eincremen. Die generelle Gehrichtung der Via de la Plata ist nordwärts und da hat die Sonne an den Waden ihr leichtes Spiel. An den weit geschwungenen Flanken der Berge zieht sich das Grasland, Dehesas, bis weit in den fernen Dunst über den Horizont hinweg. Zu Tausenden weiden Schafe auf der offenen Flur, auch Ziegen, Schweine und Rinder. Kuckuck ruft’s in die Stille. Die Luft gehört den Gefiederten, Urs hatte sie mir vor Tagen einmal erklärt: Blauracke, Pirol, Wiedehopf und Bienenfresser in der Baumetage, Adler und Lämmergeier im Wolkenstockwerk und natürlich unten, im Souterrain stolzierend, Adebar in den Binsen.

Krass schneidet die A66 Richtung Merida in die Idylle. Im Schutz der Kastanien gibt es eine kleine Bar. Ich bin immer für einen Milchkaffee zu haben und die Tortilla baut mich auf. Frisches Wasser aus dem Hahn für unterwegs gibt es gratis.

Eingezwängt zwischen der Autovia nach Mérida und der N630 bahnt sich der Camino auf einem Pfad durch struppigen Eukalyptus. In der Mittagshitze ist der ätherische Balsam intensiv und belebend. Dann beginnt meine letzte Tagesprüfung, der Anstieg auf staubigem Schotter nach Monesterio. Der Schweiß fließt, das Hemd ist quietsche nass und mein Hut vom Salz gerändert. Unwirtlich duften die Nuancen aus den Schweineställen auf halbem Weg hinauf, hier ist Schinkenland und verwehren mir die Lust auf eine Rast. Oben werfe ich einen letzten Blick zurück über weite Täler und gewellte Höhen. Ich habe jetzt die 100 km Marke überschritten und bin mit knapp 800 m auf dem bisher höchsten Punkt der Via de la Plata.

Monesterio grüßt den Wanderer mit seinem Schinkendenkmal auf der großen Verkehrsscheibe. Hier dreht sich alles um Jamon und Salchichón. Natürlich ist auch jetzt wieder Siesta, auch das hiesige Schinkenmuseum ist: „cerrado“! Der alte Stadtkern um die Kirche verbreitet morbide Würde, aber ich verspüre bei 34 Grad im Schatten und den gibt es kaum, wenig Lust für einen Rundgang. In Fenstern und Auslagen hängen die halben Schweinehintern wie Lametta am Weihnachtsbaum, für den Vegetarier ist es der Vorhof zur Hölle. Ausgangs der Stadt wartet das Hotel Leo auf mich.

Am frühen Abend, die Füße sind gepflegt und die Siebensachen gewaschen, schlurfe ich in Schlappen noch einmal die Hauptstraße hinauf in den Ort. Die Temperaturen sind immer noch sehr hoch. Die Siesta ist dem Müßiggang gewichen und auf den Plätzen und in den Gassen herrscht wieder urbanes Leben. Im Gestühl des „Puerta del Sol“ setze ich mich an einen freien Tisch.

„¡Camarero una cãna!
 
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onivido

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Hola John, natuerlich bin ich wieder mitgegangen und sitze jetzt muede vor meinem PC Statt einer caña goenne ich mir einen Schluck Rum.
Bis zur naechsten Etappe///Onivido
 
Die hier beschriebene Landschaft ist ungefähr meine ideale, John. Der Wikipedia-Artikel zu Monesterio zeigt eine Burgruine, die die in deinem Text erwähnte sein kann, auch mit Landschaft und sogar Tieren.

"Schinken-Denkmal"? Sehr witzig. Davon können wir uns eine Scheibe abschneiden, ideell: Lasst uns ein Knackwurst-Denkmal bauen.

Gute Weiterreise (im Rückblick)
Arno Abendschön
 

John Wein

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29. April, Monesterio, La Extremadura.

Begegnungen

„¡Hola!” fragt mich da einer mit rollendem amerikanischen R auf der Zunge, „pardon, ¿está libre?“

„¡Si, si! certainly, take your seat!” Klar, ein Schwätzchen beim gemütlichen Chillout ist mir stets willkommen. Heute habe ich noch mit keiner Seele, außer den Ameisen unter meinem Hintern, gesprochen.

Mit einem freundlichen Zug um die Mundwinkel stellt er sich vor: „Thanks, I‘m John, Johnny Walker” und setzt sich.

Ich grinse zurück: „Me too, ich bin John Wein, auch Walker”.

„Yeah!“

Die tägliche Pilgergemeinde auf der Via de la Plata ist recht überschaubar. Unterwegs trifft man nur wenig Menschen und weil man ja immer nur in eine Richtung geht, begegnet einem auch niemand. Nur am Abend, in der Etappe, findet sich die Pilgergemeinde wieder.

Auf seinem T-Shirt steht, „I am!“, „Ich bin!“, das ist schon einmal eine Ansage. In mir, kurze Wanderhose und Barfußschlappen, wähnte er den Pilgerkollegen. John Walker, rothaariges Grobholz aus Wisconsin, hatte in Monesterio seinen Weg für ein paar Tag ausgesetzt. Eine Schwellung am rechten Fuß machte Ihm Sorgen. Er hofft nun, nach Schonung und mit ein paar medizinischen Vorkehrungen ausgerüstet, morgen weitergehen zu können. Es ist nicht nur der Kopf und das Wollen, die Tag und Weg bestimmen, man muss auch auf seinen Körper hören. Vorsatz, Tatkraft und Drang sind groß, doch das allein ist nicht ausschlaggebend. Die kleinste Blase kann größte Sorgen machen. Ganz allgemein gehören Schmerzen und Leiden zu jedem Pilgerweg, man kann sie nicht ausschließen und wenn man Glück hat, sind sie nicht übermäßig hinderlich. Der Körper verändert sich mit der Zeit, passt sich an und dann, nach und nach, verschwinden die Wehwehchen von ganz allein.

Die Via de la Plata ist eigentlich ein ganz normaler Feld-Wald- und Wiesenweg, doch durch die Pilger, die ihn gehen, wird er lebendig, dann erzählt er uns seine Geschichten. Alle Kraft, die er entwickelt, bekommt er erst durch die Menschen, die sich ihm anvertrauen. Bußfertigkeit und Glaube spielen heute nur eine untergeordnete Rolle. Die überwiegende Mehrheit pilgert aus einem inneren Bedürfnis, das einem dann erst ganz erschließt, wenn man es denn schon einmal ausprobiert hat. Die Frage nach Warum und Wofür stellt sich dann nicht mehr und wird gewissermaßen zur Sehnsucht, zur Obsession, laut Wikipedia eine Zwangsstörung. Ich gehe diesen Weg, weil es so ist, weil es so sein soll und am Ende auch nicht anders geht. Das Muss liegt jenseits des allgemeinen Verstehens in einer Mischung aus innerer Befreiung und äußerer Gestaltung.

Das scheuernde, metallische Geräusch der Palmwedel an der Mauer in der Abendbrise, weckt mich aus meinen philosophischen Reflektionen. Ich spendiere eine Runde und bestelle eine Tortilla. Auf das Abendessen, la cena, werde ich heute nicht warten, es wird im Hotel erst ab 21 Uhr aufgetragen. Das ist für den Pilger, der am Morgen wegen der Tageshitze früh aufbrechen will, natürlich sehr spät, außerdem schläft man mit vollem Magen nicht besonders gut. Wenn man sich, wie in manchen Herbergen möglich, nicht selbst verpflegen kann, muss man mit kleinen Snacks am Abend improvisieren.

Der Tag ist noch hell. Zum Abschied umarmen wir uns wie Brüder, herzlich in der Hoffnung einander auf dem Weg nach Santiago noch einmal zu begegnen.

„Nice to meet you John, hasta la proxima!“

„Jeah, see you next!”
 

John Wein

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Dienstag, 30 April, Monesterio - Fuente de Cantos, 25 km

Fuente de Cantos, Liederborn, ein Name wie Musik, ich bin gespannt.19 km steht auf dem Straßenschild, aber der Weg kennt keine Geraden, der Wanderführer erzählt 25. Fuente, so hatte ich gelesen, ist der Geburtsort des Francisco de Zurbarán, Königsmaler 17. Jhdt. am spanischen Hof. Seine Werke hängen in der ganzen Welt.

Mit leichten Schritten folge ich einem Bachlauf ins Grüne. Ich bin frohgestimmt, über mir viel Himmelsblau, die Wasserflaschen sind frisch gefüllt. Nichts kann mein Befinden trüben, alles ist gut und wohl bereitet für die Reise. Ich habe mir bis jetzt weder schmerzende Blasen noch einen Wolf gelaufen, kein Rücken, kein Knie, habe weder Sonnenbrand noch eine Erkältung. Ja, es geht mir gut!

Heute wird es ein Tag der fernen Horizonte werden und unterwegs liegt keine Ortschaft zum Verweilen. Doch ich bin gut gerüstet. Das Problem ist allein die unbarmherzige Sonne um die Mittagszeit, der Strahlen wegen, weniger der Hitze. Auch heute gibt es wieder wenig Schatten, außer jenem der Krempe. Die Arme schütze ich mit dünnen Ärmlingen und das Halstuch bedeckt meinen Nacken. Wenn ich schnell gehe, schaffe ich 4 km in einer Stunde, aber ich schlendere meistens. Ich lasse mich vom Augenblick des Erlebens treiben, speichere das Geschehen im Kopf und die Szene in der APP des IPhones. Jeder Augenblick hat seinen besonderen Sinn, zwischen mir und Fuente de Cantos, liegen nur Raum und Zeit.

Nach einem Spaziergang zwischen den verwitterten Mauern, die den Camino links und rechts in seine Richtung zwingen, trete ich oben auf der Hochfläche hinaus ins offene Land. Vor mir breitet sich die große, unbeschränkte Weite, mit einer Palette in grünen, roten und blauen Tönen mit weißen Schäfchen darin. Der Weg führt in langen Schleifen durch die abgeernteten Felder in eine grünwuchernde Senke hinunter und kriecht gegenüber in langen Schwüngen über die Kämme hinauf zum Horizont. Oben, wo sich Erde und Himmel begegnen, erkennt man im Geflimmere der Mittagshitze winzig und vage Fuente de Cantos mit seinem Kirchturm. Bis dahin sind es noch immer 10 km, bei meinem Schnitt sind das fast 3 Wegstunden.

Es ist heiß, sehr heiß! Das Trinkwasser in den Flaschen hat Badetemperatur. In der Senke, an den Rändern eines müden Bächleins, sprießt üppiges Grün. Schon von weit her vernimmt man aus den Pappeln ein ohrenbetäubendes, tausendstimmiges Vogelkonzert, Arroyo de Cantos, Bach von Liedern, so heißt das Wässerlein. Die kleine Au ist heute der einzig nennenswerte schattige Fleck. Ich beschließe zu rasten, schlage mich durch ein wildes Gestrüpp aus Brombeerranken und hohem Gras, setze mich einfach auf den Boden und grabe im Rucksack nach Schätzen. Eine Brise fächelt mir willkommene Kühle in das kleine Paradies am Liederbach und die lebendige Natur bietet mir ihr buntes Liedgut. Da tschilpt es und quakt, es zirpt und summt und lädt mich unablässig ein, zu bleiben. Doch von hinten, aus den hohen Pappeln ertönt schon ein bekanntes Klappern. Jungstörche mahnen zum Aufbruch. Ich habe überhaupt keine Lust aufzustehen.

Schattenlos steigt der Camino jetzt über 8 km hinauf nach Fuente de Cantos, die Sonne steht senkrecht im Hang. Ich quäle mich voran. Alles an mir ist nass. Nur die Kehle ist trocken, auf meinen Lippen schmeckt es salzig. Der Weg ist nicht immer freundlich, manchmal fordert er und zeigt uns seine Gesetze und unsere Grenzen. Ich will nicht klagen, bin ich doch auch an diesem Tag und zu dieser Stunde aus freien Stücken unterwegs. Ein Pilgerweg hat seine Bedingungen und die muss ich so annehmen, wie er sie mir vorgibt. Am Ende macht er mich stark und zeigt mir, was wirklich zählt im Leben: Erfüllung und Liebe.

Auf der Plaza de Constitución, links das Rathaus, rechts die Kirche, Siesta, wieder einmal. Die „Bar Salas“ ist geöffnet. Ich falle in den Stuhl und streife Schuhe und Socken ab, welche Wonnen!

„ Camarero un vaso!“

Ein Estrella, eine Erfüllung!
 
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John Wein

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Alle Wege enden

Dienstag, 30 April, Fuente de Cantos,

Die alte Kornmühle in Fuente de Cantos ist mein Domizil für die Nacht. Es ist ein langes dreistöckiges Fabrikgebäude aus den 1920 Jahren und heute ein Hotel Rustica mit museal, gastlicher Würde.

Im Badabteil meiner Kammer gibt es eine Wanne, eine große Badewonnewanne. Die Beine meiner 186 Körpergröße können sich hier einmal so richtig ausstrecken und lockern. Da geht einem doch glatt das Herz auf! Fehlen nur ein paar fürsorgliche Hände, die mir Waden und Rücken massieren.

Der düstere Comedor, hohe Decke und dunkles, schweres Holz, verströmt die Stimmung eines Wartesaals der Fünfziger. Am Fenster sitzt John Walker, der aufrechte 65jährige Mittelwestler. Mit einladender Geste lädt er mich an seinen Tisch. Schwerfällig erhebt er sich und umarmt mich. Die Anstrengung, die der Weg ihm bereitet hat, liegt in seinem Gesicht.

„John, was macht der Fuß?“ will ich wissen, „hattest du Probleme unterwegs?“

Er zeigt auf die Bandage: „ yeah, it went reasonably well“, einigermaßen. Dier Schwellung ist noch deutlich zu sehen. „And you, how were you on the way?”

„Great John, alles Bestens!“

“Yeah!”

Zum Abendessen bin Ich in guter Gesellschaft.

Johns raubeinigen Umgangsformen täuschen, ich bemerke die verletzliche Seele. Er hat das Bedürfnis sich mitzuteilen und ich höre aufmerksam zu. Sein Kinn verkrampft sich, die stärksten Muskeln, die man hat.

„I think positiv! Yeah!“

Menschen sind oft bereit, ihre ganz persönlichen Geschichten, ihre Gefühle und ihren Kummer zu offenbaren und Dinge, die oft die engsten Freunde daheim nicht wissen, einem Fremden anzuvertrauen. Vielleicht liegt es an der Natur des Weges, vielleicht ist man offener, wenn man keine Bindungen mit jemandem hat, einen Zuhörer, dem man nur im Vorrübergehen begegnet und der alles in sich bewahrt.

Er spricht leise und in kurzen Sätzen. John ist einer von jenen, die dem Leben mit einem Pilgerweg noch einen Stempel aufdrücken wollen. Er ließe sich nicht entmutigen, nicht jetzt.

„He won't get me, er kriegt mich nicht, bevor meine Zeit, meine mir von Gott gegebene Zeit, gekommen ist!“

Ich beobachte ihn, seine Hände wischen unruhig auf dem Tisch und bin verwirrt. Er hatte noch einen Plan und den will er, egal was komme, mit einem Gang zum Sternenfeld verwirklichen. Es ist die lange gepflegte Sehnsucht, sich diesen Traum zu erfüllen. Noch einmal den Rucksack packen, die Stiefel schnüren und einfach losgehen auf einen Weg in ein bekanntes, unbekanntes Spanien, um mit sich selbst und der Welt ins Reine zu kommen und die innere Ruhe zu finden. Der nächste Weg wird steiniger sein. Seine Augen geraten ins Schwimmen, drüben in Madison wartet die Chemotherapie. Er erwähnt Hemingway, den Schriftsteller, dem er aus dem Gesicht geschnitten scheint. Es ginge eigentlich nicht darum, welches Datum in der Anzeige stünde, im Grunde genommen sei es aber eine Terminvereinbarung.

Ich erschrecke, bin verwirrt: „Next year, five years, perhaps next week? “.

„Ernest had chosen the timing of his agreement“, Ernest hatte den Zeitpunkt seiner Vereinbarung selbst gewählt.

Die Welt ist nicht allein das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und mit unseren Vorstellungen und festgefügten Kategorien besetzen können. Da ist jenseits des Realen eine Hinterbühne, auf der alle Fäden bereits gesponnen sind und von der aus wir unsere Existenz begreifen müssen.

Zwischen ensalada mixta und Bratkartoffel summt sein Telephon. „Yeah!?“ „Johnnyboy!“ Die Stimme aus dem Off, nicht zu überhören, erkundigt sich nach seinem Befinden. Sie wird sporadisch unterbrochen von Johns „Yaeh“, das man sowohl als Ja oder auch Nein interpretieren kann. Seine Augen rollen nach rechts oben ins Schlierige, ein Signal seiner Hilflosigkeit. Ein halbes Leben tanzt er an ihren Fäden.

Ich überlasse die beiden sich selbst, da gibt es viel zu bereden. Mühsam, mich am Stuhl haltend, erhebe ich mich. Der halbe Liter Rotwein zum Abendessen zeigt Wirkung, beinahe lässt mich der Kreislauf im Stich. Wankend schleppe ich mich zur Tür und öffne sie. Aus dem benachbarten Garten weht die kühle Nachtluft herüber. Die Arme ausgebreitet und die Brust weit geöffnet, nehme ich einen langen und tiefen Zug in die Lungen.

Ich bin traurig.
 
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John Wein

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Mittwoch, 1. Mai, Fuente de Cantos – Zafra, 25 km

Was für ein wunderbarer Frühlingsmorgen! Die Luft ist noch ganz ohne Sommerschwere, würzig, dünnluftig und leicht und mit silbrig glänzender Himmelsbläue überwölbt. Draußen vor den Toren ist die Stille unüberhörbar. Weit im Osten, da wo die Autobahn ihren Weg nach Salamanca nimmt, grüßt über dem Horizont der Schattenriss von Bronco, der schwarze Stier aus der Osborne Werbung.

John, mein US-amerikanischer Namensvetter, hat mit Sorgenfalten den Bus nach Zafra genommen. Er will noch einmal aussetzen, um dem rechten Fuß Zeit zu geben. Zeit kann man sich nicht für alles in der Welt kaufen, erst recht nicht auf einem Camino. Sie ist ein kostbares Gut und wertvoll besonders für den, dem sie bemessen ist. Sie geht einfach weiter, schneller und in einem fort und das Wenig, das noch bleibt, rinnt wie feiner Sand unablässig durch die Finger.

Die Etappe nach Zafra ist mit 25 km von der Länge her nicht gerade herausfordernd. Ich werde also wieder einmal pünktlich zur Siesta, dem allgemeinen Stillstand, eintreffen. Das Terrain ist flach und ohne nennenswerte Steigungen.

Rechts und links des Weges macht der Mai mit seiner Wildblumenpromenade dem Namen Ehre. Kamille, Affodill, Lilie, Kornblume und Silberdistel kleiden die Ränder, weiß, blau und gelb, und der Klatschmohn gibt tausendfach im grünen Weizenmeer den Kontrast mit seinen roten Tupfern. Ich komme zügig voran.

Unweit vor Calzadilla, ich bin noch nicht lange unterwegs, liegt ein Mensch der Länge nach hingestreckt im hohen Gras des Wegrands, ein Unglück? Vorsichtig, fast schüchtern nähere ich mich der Situation. Auf meinen vielen Pilgerwegen habe Ich ja schon viel erlebt, aber Einer der halb auf der Straße liegt, das ist mir noch nicht untergekommen. Alles ist recht ungewöhnlich und scheint mir nicht geheuer. Erleichterung! Er schläft, jetzt höre ich es deutlich. „Hola!, any problem? may I help you?“. Er kehrt sich um, „Ga witr! s’isch nüht!“. „Urs!“… Ich bin baff: „Was hast du mir einen Schrecken eingejagt!“ und erleichtert: „du liegst ja halb auf dem Fahrweg!“ Er wälzt sich ins Gras und grummelt in sich hinein. Ich nehme die Stöcke auf, gehe weiter und lass ihn pennen: „Urs, wir sehn‘ uns in Zafra! Dulces sueños!“

Zafra, so könnte man meinen, sei die spanische Übersetzung des Wortes Zapfhahn, womit wir schließlich wieder einmal beim Durst angekommen wären. Hier habe ich mir einmal ein schönes Hotel gegönnt, das Haus liegt direkt zentral gelegen neben dem Parador, einem Zinnen bewehrten Palast der Herzöge von Feria. Unten an der Bar des „Huerta Honda“ bestelle ich ein köstlich kühles Estrella. Von hier habe ich die Stadt direkt auf dem Servierteller und weil die Siesta noch Türen und Tore fest geschlossen hält, gönne ich mir nach dem Waschgang ausgiebig Zeit für ein Nickerchen. Das muss auch einmal erlaubt sein. Nachher habe ich noch meine Verabredung mit Urs, dem Basler, vom philosophischen Ufer.

Zafra

Es ist Frühling und ich bin verliebt. Ja, ich bin verliebt in Zafra, die reizende Spanierin, man kann nicht einfach an ihr vorübergehen. Sie verdreht mir den Kopf und lädt mich ein zum Flanieren. Heute, am 1. Mai, erscheint alles viel zu leicht und zu bunt. Das Fluidum von Flieder und Lavendel liegt in der Luft und ein Glücksvirus hat die Menschen infiziert. Alle Welt scheint mit sich im Reinen. Der Frühling hat es wieder einmal geschafft.

Auf der Plaza Grande, unter dem Schirm der Palmen, sitzen wir bei einem Tempranillo, beobachten die Welt und unterhalten uns über Poesie, ich und Urs Philosoph und Straßenrandschläfer. Im Basler Akzent meint er, allein in den Straßennamen der Stadt läge Poesie und Glück in den Gesichtern der Menschen ringsum. Mir zugewandt: „Bisch doch dä dippischi driblikendi länzima!“, ich zum Beispiel, sei der typische dreinblickende Frühlingsmensch. Er sähe mich auf einer Wiese sitzen, mit einem „Gänsäbliemli' in der Hand, sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Urs fragt mich doch tatsächlich: „Häsch Glieckshörmönli gschlickt'?“ Glückshormone? Nein! Hmm, oder vielleicht doch? Möglicherweise aber war es wieder einmal nur der Rote, der Gute Laune Macher aus der Ribera Guadiana, immerhin hat er stattliche 13 Prozent.

Und, während wir uns noch in der kleinen Alltagsphilosophie verlieren und uns die Welt bunt malen, weicht die farbige, irdische Frühlingswelt aus den Gassen und es wird dunkler.

Heute war es ein guter Tag, einer von denen, die bleiben.

Chiao Urs und buenas noches!
 

John Wein

Mitglied
Donnerstag 2. Mai, Zafra – Villafranca de los Barros, 22km

Der Maifeiertag ist Geschichte, in der Extremadura übernimmt der Alltag wieder das Zepter. Heute ist mein Ziel in Villa Franca de los Barros. Ich habe ausgezeichnet geschlafen, wie ein Toter nach drei Glas Wein am Abend mit dem Basler. Also mach was aus dem neuen Tag!

Zafra, ich verlasse die Geliebte gegen acht. Der Himmel ist blau, so blau mit ein paar Wattewölkchen darin. Ich bin mir sicher, die werden im Laufe des Tages von der Sonne weggeputzt und dann, da bin ich mir ganz sicher, wird es in der Tierra de Barros wieder heiß werden. Der Weg führt zügig aus der Stadt heraus und geht leicht, später etwas steiler bergan. Oben auf dem Kamm schaue ich noch einmal zurück und winke ihr zu, der schönen Zafra, und da meine ich doch tatsächlich, hätten die Glocken von San Salvador angeschlagen.

Es ist neun Uhr. Vor mir liegt das fruchtbare Becken des Barros. Industrielle Rauchfahnen am Horizont hängen tief über der weiten Ebene und verwehren die Fernsicht. Ich gehe hinunter nach Los Santos de Maimona, was für ein trefflicher Name, ‚Die Heiligen vom Maimona‘ im Monat Mai. Es ist das erste und letzte Dorf auf dem Weg nach Villafranca.

Auf der Bank vor dem Rathaus sitzt John, „Yeah“, der Walker aus Wisconsin. Er schaut mich an und an seinem fatalistischen Ausdruck erkenne ich die Tragödie. „Must give up!“ Er spricht leise und farblos „Oh John! Was ist los?!“ Er ist untröstlich, den Tränen sehr nah. Es ist sein rechter Fuß, ein stechender Schmerz, er kann nicht mehr. „Fatigue fracture“, es deutet auf einen Ermüdungsbruch hin, der Fuß ist rot angelaufen, Vorfuß und Zehen sind angeschwollen. Er hätte sich übergeben, die Medikamente Freund und Feind. An diesem Morgen sei er von Zafra nach Maimona gekrochen. Doch auch bedächtige Schritte, Bandagen und Medikamente hätten nicht weiterhelfen können; aus und vorbei! Es ist das traurige Ende eines, im wahren Sinn des Wortes, Lebensweges, der mit viel Vorbereitung, großem Enthusiasmus und Selbstvertrauen begonnen hatte. Das Taxi biegt um die Ecke. Ich gebe ihm meine Karte. Buen Camino lieber Freund, „God bless you!“

Eine Angst, aus einem Grund den man nicht vorhersehen kann, den Camino abzubrechen zu müssen, kennt jeder der sich einmal auf den Weg gemacht hat. Die Via de La Plata ist 1000 km lang und obwohl sie vom Terrain her nicht sehr anspruchsvoll ist, begleiten auch sie manche Unwägbarkeiten. Der Mensch ist im Stande Großes zu leisten und schwierige Dinge zu meistern, aber man muss auf seinen Körper hören. Er spricht mit einem und warnt, wenn er überfordert wird. Ehrgeiz ist auf dem Weg nach Santiago fehl am Platz. Meine Schnitte sind normalerweise 4 km/h, und ich gehe selten einmal über die Strecke von 30 km. Bisher bin ich dabei immer gut und sicher vorwärtsgekommen. Ich habe von Pilgern gehört, die Etappen von über 50 km am Tag bewältigt haben oder im Sommer bei über 50°C gegangen sind. 6 Schrauben halten meine Füße zusammen und auf meinem Buckel ruhen außer dem Rucksack 75 Lebensjahre, solche Herausforderungen mute ich mir nicht mehr zu.

In der Mittagszeit bin ich wieder umgeben von Wein- und Olivenplantagen. Die Sonne steht hoch und Schatten gibt es nicht. Das Barros ist so flach wie ein Teller, kaum sieht man einmal den Horizont. Rechts und links sind über weite Strecken neue Reben gepflanzt, der rote Lehmboden ist trocken und ohne weiteren Bewuchs. In dieser Trostlosigkeit trotte ich vor mich hin, bin allein Kilometer um Kilometer. Kein Sänger der die Ödnis mit seinem Gezwitscher erhellen könnte. Vögel können hier nicht existieren, ihre Nahrungsgrundlage, die Insekten, fehlen. Alle Wildkräuter um die Rebstöcke hat die Egge abgetragen und das Kleingetier ist weg gesprüht.

Gegen 13 Uhr kann ich, kaum über dem Horizont hinweg, in der Ferne die weißen Häuser von Villafranca wahrnehmen. Es macht ein wenig Mut. Ich unterquere die Autobahn nach Salamanca und stolpere auf staubiger Straße zwischen abgeschiedenen Gehöften ansteigend Richtung Ziel. Die Sonne brennt erbarmungslos, mein Stimmungsbarometer tendiert gegen Null. Ein Kreisverkehr noch, der umrundet werden will, dann ist es geschafft. Ich bin da! Am kanalisierten Arroyo Chico der Villafranca von Süd nach Nord durchschneidet, orientiere ich mich hin zum Hotel Diana. Schnell die Formalitäten, ich bin gerädert. Noch bevor ich die Treppe hinauf zur Kammer krieche, ich kann es kaum erwarten, werfe ich den Rucksack in die Ecke und lasse ich mich in der Bar erschöpft in den erstbesten Stuhl fallen. Ich öffne die Schuhe, welche Erlösung!

In der Nacht schlafe ich wie ein Toter.
 



 
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