Samstag, 4. Mai 2019, Almandralejo - Merida
Die Via de la Plata ist auch ein kosmischer Weg und auf seine eigentümliche Weise anziehend. Einerseits ist der Verlauf, was Strecken und Etappenorte angeht, vorgegeben, aber andererseits ist er, wie jeder andere Pilgerweg, was persönliches Erleben betrifft, vollkommen offen. Da wiederholt sich nichts und jeder, der einmal die Unternehmung wagt, erlebt den Weg anders. Man kann nichts vorhersagen, alles ergibt sich aus dem Unterwegssein und der eigenen Wahrnehmung. Wem ich und warum ich jemand begegne, ob man sich unterwegs wiedersieht, das steht in den Sternen. Alles Geschehen offenbart sich durch eine magische Kraft, die man nicht steuern oder beeinflussen kann, die Anziehung.
Ditte.
Sie hat ein schüchternes Lächeln.
„Do you speak english?“
Auf dem Busbahnhof in Almendralejo morgens um viertel nach Neun, spricht Sie mich an. Es ist Samstag und alle Schalter sind noch geschlossen. In mir erwacht der Ritter:
„Certanly, yes, may I help you? “.
Ob ich wüsste, wann hier ein Bus nach Torremeija führe, sie würde dort nämlich gerne wieder in den Camino Richtung Merida einsteigen. Ditte, sie könnte meine Tochter sein, ist aus Tønder in Dänemark und spricht akzentfreies Englisch.
„Nein, sorry“, erwidere ich, „das weiß ich auch nicht.“
Ich selbst hatte mich gegen den Asphaltzubringer von Almendralejo nach Torremeija entschieden und will heute ohne Umwege den Bus nach Merida nehmen. In der Hauptstadt der Extremadura möchte ich an diesem Tag die antiken Stätten besichtigen.
„Ich will nach Merida“, sage ich, „und nehme den Gijon-Bus, aber ob der unterwegs Torremija anfährt, das kann ich dir nicht sagen.“
„Was soll ich machen?“
„Komm doch mit, Merida ist sehenswert!“, schlage ich vor, „die antiken Stätten verstreut über die Stadt sind gut erhalten, komm doch mit und lass uns einen schönen Tag haben.“
Sie lässt sich nicht darauf ein und verneint es mit einem freundlichen Lächeln. Sie wolle unbedingt die letzten 16 km von Torremija nach Mérida laufen, das wäre ihr wichtig.
Um 9:45 fährt der Bus aus Sevilla in die Station ein. Ich deponiere meinen Rucksack im unteren Gepäckabteil, bezahle den Fahrschein beim Fahrer und nehme meinen Platz in einer der hinteren Sitzreihen. Ditte verhandelt noch, kommt dann den Gang herauf und setzt sich neben mich. Ich bemerke den leichten Glanz in ihren Augen.
‚Ach Mädchen‘, denke ich, ‚was ist denn so schlimm daran, bei einer so unbedeutenden Etappe auf dem 1000km Weg zum Sternenfeld einmal den Bus zu nehmen‘.
Eine Träne gibt mir passend die Antwort. Ich schweige mitfühlend höflich. Da erzählt sie mir stockend und mit leiser Stimme ihre Beweggründe. Eigentlich wollte sie diesen Weg mit ihrem Mann gehen. Man hatte das im vorigen Jahr geplant, sich vorbereitet und darauf gefreut.
Der Fahrer schließt die Türen, der Bus fährt los.
„Was ist, warum bist du allein?“, frage ich.
„Ich bin nicht allein, Morten ist eigentlich immer bei mir, ich spüre das, leibhaftig, er begleitet mich auf Schritt und Tritt.“
Es trifft mich unerwartet und ich reagiere hilflos, bin verwirrt.
„Was ist passiert?“
Er sei verunglückt, und nach einer kurzen Pause der Sammlung fährt sie fort. Er sei mit dem Rennrad verunglückt, sei in einer Kurve gestürzt und in ein entgegenkommendes Auto gerutscht: „No chance at all!“ Es sei alles so bitter für sie und unfassbar in seiner tragischen Konsequenz. Sie weint! Ich male mir das schreckliche Geschehen aus und bin kaum fähig etwas Vernünftiges zu sagen. Sie tut mir leid.
„20 Jahre waren wir verheiratet, glücklich und das Leben war einfach. Jetzt fällt es mir schwer.“
Ihr einsetzender Monolog gibt mir kaum die Gelegenheit für eine vernünftige und überlegte Antwort, ich frage:
„Hast du Kinder?“
„Zwillinge, zwei Mädchen, 17.“
Obwohl sie eigentlich nur Antworten gibt, merke ich, dass sie jede Menge Fragen in sich trägt. Sie erwähnt die Notwendigkeit, die es ihr bedeute, diesen mühsamen Weg freiwillig zu gehen. Der andere Weg, den sie zu gehen habe, sei schwieriger. Meine Augen folgen den Bewegungen ihrer Hände, in einer hilflosen Situation sehe ich Frauen ungern ins Gesicht.
Ditte ist auf dem Weg zum Apostelgrab auf einer Art Selbstfindungstrip und möchte auf jedem Abschnitt unterwegs jeden einzelnen Schritt spüren, mit Besinnung und Kraft ihre seelische Last mindern, um wieder Halt und neu inneren Frieden zu finden. Sie weiß um die Leere, die sein würde, wenn sie dann einmal in Santiago ankommen sein wird.
„He is with me on my way, always, he takes care of me…. understand?”
„Ditte, Ich verstehe dich!“
Es ist ihr schwerer Gang nach Canossa und dazu gehört nun einmal auch die schattenlose Hitze und der Staub der Tierra de Barros.
Eigene Sorgen und Nöte erzählt man einem Fremden manchmal lieber als Freunden. Man geht nach einiger Zeit wieder auseinander und trifft sich im Leben kein zweites Mal. Im Geflecht des persönlichen Umfelds ist das Netz aus alltäglichem Mitleid, beschwichtigendem Ratschlag und manchmal auch Vorwurf, dicht geknüpft. Ich stelle keine Fragen.
Die Brücke über den Rio Guadiana führt vom städtischen Busterminal geradeaus hinüber nach Mérida. Ich kann Ditte nicht überreden, gemeinsam mit mir in die Stadt zu gehen. Sie will, nein sie muss, wie sie es mir noch einmal eindringlich anmahnt, in Gegenrichtung nach Torremija laufen, um schließlich von dort den Camino zurück nach Mérida zu vollenden. Wie unpraktisch!
Unsere letzte Umarmung ist herzlich und warm. Hinten am Ufer, bevor der Weg unter den Kiefern sein Gesicht verliert, dreht sie sich noch einmal um und winkt zum Abschied mit einer freundschaftlichen Geste. Ein wehmütiger Seufzer, ein Anflug von Kummer begleitet von einem hilflosen Schulterzucken, das ist alles was mir bleibt. Gedankenverloren winke ich zurück.
Leb wohl liebe Ditte und allzeit Buen Camino!
Sie ist fort, ich habe sie nicht wiedergesehen.
Über die lange, antikrömische mit Mauern bewehrte Brücke überquere ich den Rio Guadiana hinüber nach Merida.