Geh-schichten von der Via de la Plata

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G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Eine tolle Idee und ein ganz toller Thread. Ich habe nun mit den letzten Beiträgen begonnen, werde mich nun bis zum Anfang durchlesen. Stil und Schreibweise kommen authentisch rüber.
heins Anregung mittendrin (je Story ein neuer Thead) war so dumm nicht. Aber auch so werde ich ganz gewiss weiter folgen.

LG
Cellist
 
heins Anregung mittendrin (je Story ein neuer Thead) war so dumm nicht.
Das ist aus meiner Sicht nicht so, Cellist. Es handelt sich nicht um "Storys", sondern um eine lange zusammenhängende Reise. Bei Einzelthreads würde erfahrungsgemäß deren chronologische Reihenfolge bald zerstört. Vieles in den Einzeltexten bezieht sich aufeinander. In einem Gesamttext kann man viel leichter zurückspringen und sich den Zusammenhang verdeutlichen. So habe ich gestern z.B. alle früheren Erwähnungen jenes John aus Wisconsin gezielt gesucht und auf diese Weise auch leicht gefunden.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Hallo Arno,

guter Einwand. Vermutlich hast du Recht.
 

John Wein

Mitglied
Freitag, 3. Mai, Villa Franca de los Barros

Carmen



„Buenas días“, „Buenas días Caballero, ¿qué tal?'“

Sie ist noch jung genug, um älter aussehen zu wollen und mit einer piepsigen Mädchenstimme ausgestattet,

„Danke Carmencita, und ihnen?“

„muy bien, gracias“.

Sie lächelt zu mir herüber, ein noch unverbrauchtes Frühmorgenlächeln,

„¿desayuno?“.

Ich bin in der Hotelbar ihr erster und einziger ‚cliente‘. Exakt gereiht wie eine militärische Formation warten auf dem Tresen zwei Dutzend Kaffeetassen für den Morgenkaffee, auf den dazugehörigen Untertassen liegt jeweils ein Löffel.

“¿cafe?“

„¡Si!“, entgegne ich, „cafe con leche“.

Ich bin verliebt in die spanische Sprache, den feurigen Klang im Stakkato mit dem rollenden R. Manchmal möchte ich nur zuhören und dann kann ich mich leicht im Wasserfall meines Gegenübers verlieren. Die Mischung aus Corrida und Flamenco hat es mir angetan, dabei sind meine Kenntnisse des Spanischen eigentlich begrenzt.

„¿A la orden?“,

„¡Si!“,

„¿quieres comer algo?“

„¡Si, si!“

Sie setzt an zu einem Höhenflug, beugt sich über mich, während ich gerade noch gedanklich zwischen Mantequilla und Mermelada feststecke. Meine Augen verlieren sich in ihrer mit einem Monogramm bestickten, nur unzureichend geknöpften Bluse. Über ihren Kirschmund purzeln die Worte im Dreivierteltakt. Ich beiße mich an meinen Gedanken fest, alle Aufmerksamkeit auf ihre Fragen fährt in eine ferne Unendlichkeit.

„Si, si“stammelt es aus mir heraus „si mermelada“ und ertrinkt in ihrem Wortschwall zwischen melocotón und fresa.

„¿Tostado?“ Ob ich das getoastet haben möchte?

Wie jetzt? Meiner Verlegenheit höchst bewusst, lächelt der Schalk aus ihr. Sie schneidet ein Brötchen in zwei Hälften und zeigt mir die Gesichter.

„¡Si, eh,… mam…da!“

Ich bemerke den Flirtcharakter ihres Lächelns, mir wird heiß. Eine heimtückische Röte huscht über mein Gesicht, der Verrat meiner Phantasie. Lieber Gott nochmal, ich stehe zu meinem Jahrgang, wann zuletzt bin ich dermaßen angeflirtet worden?! Die Situation ist verwirrend, ich fühle mich in unruhigem Fahrwasser. Verlegen suche ich nach einer plausiblen Erklärung dessen, was hier aus einem harmlosen Frage- und Antwortspiel geschehen ist. Sie lacht laut und in einem fort und während ich noch reflektiere und nach Fassung suche, bricht es auch aus mir impulsiv und ungeschützt heraus. Sie prustet, eine Träne perlt über ihre Wange. Wann hat man in einer Bar ähnliches an einem ganz normalen Morgen schon einmal vernommen?!

Ein Taxista tritt ein, verdattert der Situation geschuldet, empfindet er in seiner Verlegenheit das Gelächter auf seine Person gerichtet. Es katapultiert die ganze Chose für uns in noch höhere Sphären der Heiterkeit. Ich schlage mir auf die Schenkel, die junge Frau versteckt sich hinter ihren Händen. Meine Augen kommen ins Schwimmen. Der Taxista dreht auf der Hacke, bekreuzigt sich und sucht das Heil in der Tür. Draußen vernimmt man ein Martinshorn. Nein, es war nicht diesem bizarren Unfall in der Bar geschuldet!

Was man so alles erlebt, auf einem ganz gewöhnlichen Jakobsweg! Das muss man sich einfach mal vorstellen!

Nie, hier bin ich mir sicher, ist ein Pilger mit einem so quietschvergnügten Frühstücksgefühl hinaus auf seinen Weg gegangen, wie der Autor an diesem Morgen in Villafranca de los Barros.

„¡Adíos, Carmencíta!" „¡Hasta luego, Señor!"
 
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John Wein

Mitglied
Freitag, 3. Mai, Villafranca de los Borros – Almendralejo, 18 km

Almendralejo: Der Mitteleuropäer braucht seine Zeit, die fünf Vokale in diesen Namen in seinem Kopf zu verarbeiten und reihenfolge- und betonungsmäßig richtig auszusprechen. Dabei ist es eigentlich gut zu verstehen, wenn man den Namen einfach mal entknotet. Almendra heißt auf Deutsch Mandel und lejo heißt weit, ich gehe also heute nach Mandelweit. Schön ist die Welt! Almendralejo liegt vier Kilometer abseits des Camino auf dem Weg nach Mérida in der großen Weite der Tierra de Barros, eine flache Schüssel mit endlos langen Geraden. In Torremija, der traditionelle Etappenort auf dem Weg, war kein Zimmer frei gewesen.

In der Morgensonne präsentiert sich die Strecke eintönig und platt. Ringsum dominieren Reben, reiht sich eine Plantage an die andere bis zu den Horizonten und die hat man in alle Himmelsrichtungen weit, sehr weit auseinandergeschoben. Schatten gibt es natürlich auch wieder nicht, es sei denn der eigene, doch auch der ist dürftig. Hier sollte sich der Wanderer gut mit Wasser versorgen, 2 Liter sind bei der Hitze unbedingt geboten.

Die Stille ist zum Greifen, kein Vogel zwitschert hier, keine Biene summt. Nur das Tack, Tack, Tack meiner Schritte begleitet mich durch die Monokulturen. Auf roter Scholle reift unter der südlichen Sonne die Lage Ribero Guadiana bis zur Augengrenze. In der Tageshitze arbeite ich mich Kilometer um Kilometer vor. Die langen Geraden sind ermüdend, man erkennt kaum einmal das Ende. Ich frage mich manchmal, was macht die Via de la Plata eigentlich so speziell!? Diese Passagen sind eine psychische Herausforderung, eine Tortur. Hin und wieder passiert ein landwirtschaftliches Fahrzeug, wirbelt und bläst mir eine dichte Staubfahne ins verschwitzte Gesicht. Es ist eine Herausforderung! Doch wenn ich‘s bedenke, viele Pilger berichten von schlammigen Wegen bei Regen und pfundschweren Lehmplacken unter der Sohle, da habe ich es trotzdem noch einigermaßen passabel getroffen.

Es ist 12 Uhr mittags. Seit einer Stunde suche ich verzweifelt Schatten für eine Erholung und Rast. Die stählernen Telegraphenmasten auf ihrem Betonsockel sind wenig geeignet. Da ist schließlich ein Stock Opuntien, der mich anzieht. Er ziert das Tor eines scheinbar unbewohnten Gehöfts. Ich streife den Rucksack von der Schulter und setzte mich in den dürftigen Schatten auf das Mäuerchen am Zaun. Augenblicklich entlädt sich hinter meinem Rücken mehrfaches, wütendes Gekläff. Ich erschrecke, lasse es aber mit fatalistischer Ergebenheit und stoischem Ertragen geschehen, es ist gibt einfach keinen besseren Ort zum Ausruhen. Die Wächter machen auch nur ihren Job in diesem trostlosen Glutofen.

Bei Tageskilometer 15 erreiche ich um 13 Uhr endlich die Landstraße nach Almendralejo, verlasse den Originalweg und gehe am Rand der Fahrbahn zu meinem Etappenort. Es ist keine Erleichterung, denn die heiße Luft hat den Asphalt aufgeweicht und der Teer schwitzt und stinkt seinen Dunst in die Natur. Über dem flirrenden Straßenbelag, eine Fata Morgana, grüßen in der Ferne die Türme der Kleinstadt. Noch ziehen sich zwei mühsame Wegstunden zum Ziel. Zu meinem Logis am gegenüberliegenden Stadtrand, begleiten mich Industrie und von der Siesta entleerte Häuserschluchten. Niemand heißt mich willkommen, doch ich habe es wieder einmal geschafft.

Ich öffne die schweren Vorhänge im dritten Obergeschoss des Hotels Acosta und augenblicklich von der Sonne geblendet bläst mir ein Luftschwall seine Glut mitten ins Gesicht. Intuitiv ohne Zögern raffe ich den Stoff. Eine arterielle Hypotonie, ein augenblicklicher Schwindel, zwingt mich aufs Bett. Nach kurzer Erholung und Gewöhnung an die Helligkeit, erkenne ich im Spalt der Vorhänge mit den Augen tastend unter mir ein grünes Meer.

Verblüfft schaue ich von oben her über die Ränge auf das Feld eines großen Fußballstadions. Es ist Heimstatt des spanischen Zweitligaclubs UD Extremadura. Natürlich ist heute kein Spiel, sonst hätte man mir dieses Zimmer nie und nimmer zugewiesen. Doch was wäre es für ein Ausklang am späten Abend gewesen, bei einem Estrella oder gern zwei, in „Mandelweit“ einem Match beizuwohnen.

Olé, olé, olé, olé!
 

onivido

Mitglied
Hola John,
gerade bin ich aufgestanden und schon musste ich die Strapazen dieses Abschnitts ueber mich ergehen lassen und das sogar auf nuechternen Magen. Ich hoffe der naechsteAbschnitt wird erbaulicher.
Saludos///Onivido
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Auch ich bin mit dabei @John Wein: Herrlich, so ohne Atemnot, Rucksack und Blasen an den geschundenen Füßen mit schlendern zu dürfen.
Das "Zurück zur Einfachheit" habe ich bereits im täglichen Leben, daher stehe ich nicht so aufs Hunger-Durst-Müde-Pilgern.
Aber mit Dir isses schön, ährlich.
 

John Wein

Mitglied
Gracias Onivido und Isbahan,
für eure Steherqualitäten,
Schade, dass man hier keine Fotos einstellen kann (ist ja auch in erster Linie ein Literaturforum),, dann würdet ihr ein bisschen mitschwitzen können.
Grüß, John
 

John Wein

Mitglied
Samstag, 4. Mai 2019, Almandralejo - Merida

Die Via de la Plata ist auch ein kosmischer Weg und auf seine eigentümliche Weise anziehend. Einerseits ist der Verlauf, was Strecken und Etappenorte angeht, vorgegeben, aber andererseits ist er, wie jeder andere Pilgerweg, was persönliches Erleben betrifft, vollkommen offen. Da wiederholt sich nichts und jeder, der einmal die Unternehmung wagt, erlebt den Weg anders. Man kann nichts vorhersagen, alles ergibt sich aus dem Unterwegssein und der eigenen Wahrnehmung. Wem ich und warum ich jemand begegne, ob man sich unterwegs wiedersieht, das steht in den Sternen. Alles Geschehen offenbart sich durch eine magische Kraft, die man nicht steuern oder beeinflussen kann, die Anziehung.

Ditte.

Sie hat ein schüchternes Lächeln.

„Do you speak english?“

Auf dem Busbahnhof in Almendralejo morgens um viertel nach Neun, spricht Sie mich an. Es ist Samstag und alle Schalter sind noch geschlossen. In mir erwacht der Ritter:

„Certanly, yes, may I help you? “.

Ob ich wüsste, wann hier ein Bus nach Torremeija führe, sie würde dort nämlich gerne wieder in den Camino Richtung Merida einsteigen. Ditte, sie könnte meine Tochter sein, ist aus Tønder in Dänemark und spricht akzentfreies Englisch.

„Nein, sorry“, erwidere ich, „das weiß ich auch nicht.“

Ich selbst hatte mich gegen den Asphaltzubringer von Almendralejo nach Torremeija entschieden und will heute ohne Umwege den Bus nach Merida nehmen. In der Hauptstadt der Extremadura möchte ich an diesem Tag die antiken Stätten besichtigen.

„Ich will nach Merida“, sage ich, „und nehme den Gijon-Bus, aber ob der unterwegs Torremija anfährt, das kann ich dir nicht sagen.“

„Was soll ich machen?“

„Komm doch mit, Merida ist sehenswert!“, schlage ich vor, „die antiken Stätten verstreut über die Stadt sind gut erhalten, komm doch mit und lass uns einen schönen Tag haben.“

Sie lässt sich nicht darauf ein und verneint es mit einem freundlichen Lächeln. Sie wolle unbedingt die letzten 16 km von Torremija nach Mérida laufen, das wäre ihr wichtig.

Um 9:45 fährt der Bus aus Sevilla in die Station ein. Ich deponiere meinen Rucksack im unteren Gepäckabteil, bezahle den Fahrschein beim Fahrer und nehme meinen Platz in einer der hinteren Sitzreihen. Ditte verhandelt noch, kommt dann den Gang herauf und setzt sich neben mich. Ich bemerke den leichten Glanz in ihren Augen.

‚Ach Mädchen‘, denke ich, ‚was ist denn so schlimm daran, bei einer so unbedeutenden Etappe auf dem 1000km Weg zum Sternenfeld einmal den Bus zu nehmen‘.

Eine Träne gibt mir passend die Antwort. Ich schweige mitfühlend höflich. Da erzählt sie mir stockend und mit leiser Stimme ihre Beweggründe. Eigentlich wollte sie diesen Weg mit ihrem Mann gehen. Man hatte das im vorigen Jahr geplant, sich vorbereitet und darauf gefreut.

Der Fahrer schließt die Türen, der Bus fährt los.

„Was ist, warum bist du allein?“, frage ich.

„Ich bin nicht allein, Morten ist eigentlich immer bei mir, ich spüre das, leibhaftig, er begleitet mich auf Schritt und Tritt.“

Es trifft mich unerwartet und ich reagiere hilflos, bin verwirrt.

„Was ist passiert?“

Er sei verunglückt, und nach einer kurzen Pause der Sammlung fährt sie fort. Er sei mit dem Rennrad verunglückt, sei in einer Kurve gestürzt und in ein entgegenkommendes Auto gerutscht: „No chance at all!“ Es sei alles so bitter für sie und unfassbar in seiner tragischen Konsequenz. Sie weint! Ich male mir das schreckliche Geschehen aus und bin kaum fähig etwas Vernünftiges zu sagen. Sie tut mir leid.

„20 Jahre waren wir verheiratet, glücklich und das Leben war einfach. Jetzt fällt es mir schwer.“

Ihr einsetzender Monolog gibt mir kaum die Gelegenheit für eine vernünftige und überlegte Antwort, ich frage:

„Hast du Kinder?“

„Zwillinge, zwei Mädchen, 17.“

Obwohl sie eigentlich nur Antworten gibt, merke ich, dass sie jede Menge Fragen in sich trägt. Sie erwähnt die Notwendigkeit, die es ihr bedeute, diesen mühsamen Weg freiwillig zu gehen. Der andere Weg, den sie zu gehen habe, sei schwieriger. Meine Augen folgen den Bewegungen ihrer Hände, in einer hilflosen Situation sehe ich Frauen ungern ins Gesicht.

Ditte ist auf dem Weg zum Apostelgrab auf einer Art Selbstfindungstrip und möchte auf jedem Abschnitt unterwegs jeden einzelnen Schritt spüren, mit Besinnung und Kraft ihre seelische Last mindern, um wieder Halt und neu inneren Frieden zu finden. Sie weiß um die Leere, die sein würde, wenn sie dann einmal in Santiago ankommen sein wird.

„He is with me on my way, always, he takes care of me…. understand?”

„Ditte, Ich verstehe dich!“

Es ist ihr schwerer Gang nach Canossa und dazu gehört nun einmal auch die schattenlose Hitze und der Staub der Tierra de Barros.

Eigene Sorgen und Nöte erzählt man einem Fremden manchmal lieber als Freunden. Man geht nach einiger Zeit wieder auseinander und trifft sich im Leben kein zweites Mal. Im Geflecht des persönlichen Umfelds ist das Netz aus alltäglichem Mitleid, beschwichtigendem Ratschlag und manchmal auch Vorwurf, dicht geknüpft. Ich stelle keine Fragen.

Die Brücke über den Rio Guadiana führt vom städtischen Busterminal geradeaus hinüber nach Mérida. Ich kann Ditte nicht überreden, gemeinsam mit mir in die Stadt zu gehen. Sie will, nein sie muss, wie sie es mir noch einmal eindringlich anmahnt, in Gegenrichtung nach Torremija laufen, um schließlich von dort den Camino zurück nach Mérida zu vollenden. Wie unpraktisch!

Unsere letzte Umarmung ist herzlich und warm. Hinten am Ufer, bevor der Weg unter den Kiefern sein Gesicht verliert, dreht sie sich noch einmal um und winkt zum Abschied mit einer freundschaftlichen Geste. Ein wehmütiger Seufzer, ein Anflug von Kummer begleitet von einem hilflosen Schulterzucken, das ist alles was mir bleibt. Gedankenverloren winke ich zurück.

Leb wohl liebe Ditte und allzeit Buen Camino!

Sie ist fort, ich habe sie nicht wiedergesehen.

Über die lange, antikrömische mit Mauern bewehrte Brücke überquere ich den Rio Guadiana hinüber nach Merida.
 

Scal

Mitglied
Von deinen Ausblicken, Einblicken und Erlebnisschritten erzählst du auf eine sehr schöne und einfühlsam weitsichtige Weise.

Weil ich zweimal in den Gegenden von Ronda bis Castellar de la Frontera einige Wochen verbrachte, vorwiegend in Jubrique, kann ich mir manches innerlich ein wenig bebildern, auch wenn die Landschaften unterschiedlich sein dürften.

Deine Textgliederung - Zwischenräume sind Atemräume - empfinde ich als sehr wohltuend.

Lieben Gruß
Scal
 

John Wein

Mitglied
Hi Scal,
Eine geschichtsträchtige Gegend diese Kante Iberiens. Ich freue mich, dass dir meine Geh-Schichte gefallen hat. Danke für den wohlmeinenden Kommentar und die begrünte Begleitung.
Gruß, John



wohlmeinenden Kommentar. mit
 

onivido

Mitglied
Endlich. Ich dachte schon Du bist auf dem Weg verdurstet, dabei habe ich nur den post nicht gesehen.
Saludos - Animo ya falta menos.
Onivido
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Eigene Sorgen und Nöte erzählt man einem Fremden manchmal lieber als Freunden
Stimmt. @John Wein, ich folge Dir immer noch gerne, belausche Deine Gespräche - und lerne eine Gegend durch Deinen Blick kennen.
Ich hatte mich auch mal auf den Pilger-Weg gemacht, in Kleve sind wir los ... unterwegs habe ich festgestellt, dass mir das Pilgern in der Gruppe zu stressig ist. Aber allein - als Frau unterwegs, in einem Land, dessen Sprache ich nicht beherrsche? Lieber reise ich gedanklich mit, in Deinem Windschatten.
 

John Wein

Mitglied
Mérida, Samstag, 4. Mai 2019

Es ist 15 Uhr und die heißeste Stunde des Tages. Ich sitze auf der Bank im Schatten eines Johannisbrotbaums nahe den antiken Stätten und genieße die Stille. Unten, zwischen römischer Arena und Amphitheater blüht bei sommerlichen Werten das touristische Tagesprogramm. In dem kleinen Park des Museums, zwischen Rosen und Buchs, bin ich allein und erhole Leib und Seele von der interessanten aber anstrengenden Besichtigung.

Zwischen dem Laub über mir blinzeln die Strahlen der Sonne und spielen mit den Schatten der Blätter auf meinem Notizblock. Merkwürdig die Stille in dieser kleinen Abgeschiedenheit zwischen all dem Leben. Zwischen zwei Herzschlägen verliere ich mich gedankenversunken in den Schattenspielereien und wie von Zauberhand wachsen meinen Gedanken Flügel.

Sie tragen mich in eine halbverwaschene Vergangenheit, in das Dorf meiner Kindheit, ein Heimatgeruch von Feuerholz und frischem Heu, der mich anfliegt und mich an die Jahre erinnert als sich das Leben noch unkompliziert, unverkrampft und ohne Hektik einem täglichen Abenteuer gleich, in einer geborgenen, heilen Welt abspielte. Es war die Schlechte Zeit, wie die Oma, ich rieche immer noch die Kernseife, die sie umgab, sagte, schlecht des Mangels wegen, der überall in Welt das Leben bestimmte. Es war trotz vieler Widrigkeiten ein gutes Auskommen für mich, verspielt und geborgen im Schoß der elterlichen Familie.

An einem war kein Mangel, Zeit, man hatte genügend davon. Heute beherrscht uns Überfluss, den wir mit der Zeit erkaufen müssen, die wir nun verlieren. Alles just in time und up to date. Es ist unsere Lebenszeit, wir sollten es nicht vergessen. Im Laufe der vielen Jahre haben sich unsere Gewohnheiten geändert, unsere Gemeinsamkeiten verengt und unsere Freiheiten durch den Zeitmangel eingeschränkt! Die Fron im beruflichen Räderwerk von Spezialisierung und Hast macht den Menschen mehr und mehr zum Getriebenen, bei immerwährendem Streben und Strampeln im Hamsterrad um die besten Plätze. Kann es da verwunderlich sein, dass immer mehr einen „AUS“ Weg suchen, all dem zu entkommen und sich auf „DEN“ Weg machen um beim Pilgern Halt, Einkehr und innere Harmonie zu finden? Jeder von uns ist ein Unterwegs und Versuch, heißt es im „Glasperlenspiel“ des Meisters, ein Versuch dorthin unterwegs zu sein, wo das Vollkommene ist. Das Sein muss im Zentrum stehen und nicht irgendwo an der Peripherie. Der Pilgerweg ist eine gute Gelegenheit das in der Zeitreise in die eigene Vergangenheit zu erfahren, um das Leben neu auf Soll und Haben zu gewichten und um die Dinge, die uns die Zukunft bereithält, entsprechend einzuordnen. Er ist ein frischer Kraftquell für die Seele, eine natürliche Droge, die sich dem Erdenwanderer offenbart.

Merkwürdig diese Philosophereien aus Traum- und Gedankenspielerei unter einem Johannisbrotbaum.

Es tat einmal gut, an diesem Tag einmal nicht die Stunden auf dem Weg verbracht und dafür den Bus genommen zu haben. Das Wetter ist hochsommerlich und Mérida, das römische Emerita Augusta, bietet viel mehr, als nur ein Abendessen vor dem Zubettgehen in irgendeiner Bar oder einem Restaurant. Heute habe ich die Kilometer in den Mauern dieser Stadt abgespult und nicht in den schattenlosen Dehesas und Feldern der Extremadura. Es ist faszinierend römische Architektur, Ingenieursleistung und Schöpfergeist auf iberischem Boden zu studieren, eine Kultur auf die wir unsere heutige Lebensphilosophie in vielen Facetten gründen. Emerita Augusta war eine wichtige Stadt des Imperium Romanum, dessen Hinterlassenschaft noch heute auf dem Boden Iberiens selbst in den Fragmenten noch sehr präsent ist. Theater, Arena, Tempel der Diana, das Museum, die Brücke über den Guadiana, der Aquädukt und manches andere sind nicht im Verbeigehen zu erfassen und zu begreifen. Interessant, wie in erstaunlichem Umfang doch alles noch erhalten ist und uns einen Eindruck vom römischen Leben und der klassischen Kultur vor 2000 Jahren vermittelt. Wohlstand und Luxus, den die Artefakte Skulpturen und riesigen Mosaike im Museum illustrieren, machen uns staunen.

Mehr soll es aber nicht sein, denn es geht hier ja nicht um das Beschreiben und Auflisten von Dingen, die in jedem Reiseführer besser nachzulesen sind, sondern um die Geschichte meines Weges, meine Begegnungen, Erlebnisse und Gefühle und dabei die Dinge so zu beschreiben, wie ich sie mit meinen Augen sehe und in meinem Inneren spüre.

Während der Tag nach und nach sein Gesicht verliert, genieße ich die letzte Stunde beim Abendessen auf dem Pflaster der Fußgängerzone. Von eigener Fertigkeit entrückt und im Preis inbegriffen, jongliert der Camarero sein gefährlich scharfes Florett, das Cuchillo und tranchiert hauchtzart den Jamon Iberico scheibchenweise vom Schinkenbrett auf meinen Teller. Was wäre die Welt ohne die kleinen Freuden, die Spaßmacher und das liebevoll Unnütze!

Ein letzter Schluck vom Tempranillo, Zungenlöser und Seelentröster, dann schließe das Tagebuch. Morgen erwartet mich ein neuer Tag der Freude mit neuen Eidrücken und Abenteuern.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Es war trotz vieler Widrigkeiten ein gutes Auskommen für mich, verspielt und geborgen im Schoß der elterlichen Familie.
Ja, genau das kenne ich aus den 50ern: Als Kind liegen die Werte anders, Kinder brauchen keine gestärkten Damasttischdecken und Silberbesteck, die brauchen fettige Reibekuchen vonne Omma, die man mit den Fingern ins Apfelmus drücken kann.
ein Versuch dorthin unterwegs zu sein, wo das Vollkommene ist.

Rüchtüch. Und "das Vollkommene" kann ein Bulli am Strand von Narbonne sein, eine Flasche billiger Rotwein, ein Baguette, etwas Käse ... und
ein Mann, eine Frau, ein Hund, die sich lieben.
Morgen erwartet mich ein neuer Tag der Freude mit neuen Eidrücken und Abenteuern.
Genau DAS will ich auch, buhuuuuuu .....

@John Wein, ich gebe es unumwunden zu: Ich bin neidisch - und ich gönne es Dir von ganzen Herzen!
 

onivido

Mitglied
Hola John Wein,
ich habe vergebens nach der Fortsetzung des Pilgererlebnis gesucht und deshalb den letzten Abschnitt nochmals gelesen. Dabei ist mir aufgefallen
" verliere ich mich Gedankenversunken "
Sollte es nicht "gedankenversunken" heissen?
Saludos///Onivido
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
@onivido, ich warte auch auf die Fortsetzung - vor allem, weil ich im Moment gar nicht gehen kann (Außenband am Knie gezerrt), da muss ich "gehen lassen".
 

John Wein

Mitglied
Sonntag, 5. Mai 2019 Merida - Aljucén 16 km

Der Tag ist noch jung und frisch, wie ein neuer Morgen der Welt. Klick! Selbsttätig fällt die Tür des Hotels Nova Roma hinter mir ins Schloss. Mérida schläft, die Gassen sind noch unbelebt und leer. Unten in der Runde des Plaza Domingo schlägt ein Hund an. Die Schlucht der Häuser ist ein verstärkender Resonanzboden für das unbändige Gekläff. Ich bin heute Morgen doch nicht allein auf der Welt.

Vorbei am Tempel der Diana und durch das Tor des Trajans folge ich den gelben Pfeilen zur Talsenke und hier in seiner Mächtigkeit strotzt unverrückbar der römischen Aquädukt Los Milagros ins Bild. Er hatte zu seiner Zeit dem antiken Emerita Augusta das Trinkwasser aus dem entfernten Proserpina Stausee geliefert. Heute Morgen liefert er den Freizeitjoggern den Treffpunkt.

Stadtauswärts, entlang der Landstraße, führt mich ein asphaltierter Radweg zum Stausee. Auf der glatten Oberfläche des Wassers spiegelt sich das Blau des Himmels. Mir gefällt die schöne Aussicht weit über den See hinweg. Eine erfrischende Erholung auf den Quadern am Ufersaum, im Schatten eines Eukalyptus, kommt mir gelegen. Heute habe ich genügend Zeit und Ruhe die Beschaulichkeit in mich aufzunehmen, die 16 km Etappe nach Aljucén ist nahezu ein Sonntagsspaziergang. Ohne jede Regung, verwachsen mit dem Steinsockel auf dem er steht, ist vor mir ein Angler im See. Da ist sonst niemand, der die Morgenfrühe stören könnte. Angeln ist die einzige Art der Freizeitbeschäftigung, von der man satt werden kann, sagt Heine. Ich angle in meinem Rucksack nach essbaren Schätzen. Ein kleiner Wind kommt auf und kräuselt die Oberfläche des Wassers.

Der Camino führt über den antiken Damm, dann am Ufer entlang und weiter hinein in das menschenleere, vom Chor der Zikaden erfüllte und vertrocknete Grasland. Ich stolpere vorwärts, die Straßenlöcher im Asphalt erzählen mir ihre Geschichten. Auf den Dehesas, die sich rechts und links weit über Flanken des Höhenzuges schwingen, stehen die schwarzen Stiere auf der Kammlinie in Pose. Heute sehe ich sie zum ersten Mal auf dem Camino, die schwarzen und feurigen Stiere, Sinnbild des stolzen Spaniens. Ihr Anblick in dieser Landschaft vermittelt ihre Kraft und verleiht ihnen eine poetische Gelassenheit. Man sagt, dass in der Extremadura die wildesten und heißblütigsten Stiere des Landes für die Corridas gezogen werden. Hier sind sie geboren, wachsen auf und ziehen glücklich über das offene, weite Land. Es macht sie stolz und stark, hier in der Extremadura erwacht in ihnen das Feuer zum Kampf.

Ich verliere mich gedanklich in eine weite lange zurückliegende Vergangenheit:

Camino Frances 2011, Pamplona:

Es ist ein später, sonnenverwöhnter Nachmittag und es ist heiß. Ich sitze auf der Bank am Paseo Hemingway gegenüber der Arena von Pamplona. Vor mir auf dem Plaza de Torros steht im Schatten der Platanen die Büste des Aficionado, er der die Fiesta an San Firmin wie kein zweiter im Roman glorifiziert hat. Ich spüre die eigenartig mystische Ausstrahlung des Ortes, ein unerklärlicher Schauer, der einen zuweilen an den geschichtsträchtigen Schauplätzen der Welt gefangen nimmt und von den Emotionen Besitz ergreift. Meine Gedanken fliegen, ich spüre mich neben mir stehen und mich mit den Augen des Betrachters sehen.

„Bonjour Monsieur!“ werde ich aus meinem Traum geweckt. „Was, wie bitte?“ Über meine Schulter auf der Bank sitzend sehe ich sie, um die 30 vielleicht, zierlich, mit einer glockenhellen Stimme.

„Bonjour monsieur, vous êtes aussi un pèlerin?“

Nein, Französisch ist nicht meine Stärke. Beatriz aus Bordeaux spricht ein wenig Englisch. Wir werden Freunde für ein Abendessen, steigen am nächsten Morgen miteinander über den Alto de Perdon, stolpern hinab in die Ebene mit den schattenspendenden Mandelbäumen und weiter über staubige Pisten nach Puente de la Reina. Ich fotografiere sie im Weizenfeld, sie bestand darauf. Wir albern wie die Kinder, übermütig und lebensfroh und sind doch nur Freunde für den einen Tag. Ich wohne im Hostal, sie in der Herberge.

„Jusqu'alor!“

„Bis dann!“

Ja wer weiß das schon!

Manche Tage haben etwas von diesem Unbewussten, das sich still über die Zeit und die Dinge legt und träumend vergangene Tage glorifiziert.


In dieser Gegend der Extremadura gibt es keine Weizenfelder zum Toben, nur Weiden mit mächtigen Eichen und Steinen, von der Eiszeit rundgeschliffene Brocken und natürlich auch die Sonne, die zum Mittag ihren schattigen Mantel abgeworfen hat.

In Carrascalejo verwirren mich die gelben Pfeile, hier hat man an diesem Sonntagmorgen einen Lauf-Wettbewerb gegeben. Ich bin ein wenig ratlos, wäge hier oder dort. Es ist Siesta. Hinten auf einer Bank vor der Kirche sitzt eine Frau in Schwarz, die ich fragen könnte. Sie weist mir den rechten Weg zwischen den Häusern hindurch ins Land der Rebflächen. Nicht viel später und über den letzten Hügel hinweg, erkenne ich in der Senke die roten Dächer von Aljucén.

Ich logiere am Anfang des Dorfes im reizvollen „Aqua Libera“. Das Casa Rural atmet Gelassenheit und erholsame Kühle in einer zauberhaft gestalteten Oase des Patios. Der Besitzer, Archäologe am Institut in Mérida, hat sein Anwesen außen und innen in Stil und Zeit eines einfachen, römischen Landhauses hergerichtet. Ich ziehe Schuhe und Socken aus und mache es mir auf der Veranda bequem. Sacht wiegen die Weinranken in der lauen Luft, in mein Ohr rieselt der Klang von Kithara, Flöte und Harfe. Vor mir im Rasenteppich ist ein kleines Wasserbecken zum kühlen der Füße eingelassen und hinten wie verwunschen im Aroma weißer und gelber Rosen thront ein kleiner Tempel als Blickfang. Mit einer Toga und Sandalen bekleidet, denke ich mich hinein in eine römische Vergangenheit und greife zur angebotenen Erfrischung.

Nunc est bibendum! Nun muss getrunken werden!

Nach der Körperpflege am Abend, schlurfe ich auf Sandalen zum Abendessen hinauf ins Dorf. Die Speisekarte im El Parque am Plaza Extremadura bietet zum Wein ein anständiges Dreigängemenü.

Hier, gegenüber San Andrés, trifft sich das bunte Völkchen der Tagespilger. „Hoi John!“ „Hallo Remo!“ Da sitzt doch tatsächlich mein philosophierender Freund, der Basler. Wir sind gleichermaßen gerührt und umarmen uns mit einem Anflug von Augenglanz brüderlich. Der Wein erzählt uns jetzt seine neuen Geschichten bis unsere Zungen stolpern. Was für Tag, welch ein Ausklang hier in der Weitläufigkeit der spanischen Extremadura.

„Buen Provecho!“
 
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