(Lese-)Tagebuch

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zeitistsein

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Meine Wechseljahre haben noch nicht mal angefangen und ich habe sie schon satt.
Der Körper spielt verrückt: Zwischenblutungen, Schlafstörungen, Jucken - unten, oben, überall...
Ich habe mir fest vorgenommen, nicht zum Arzt zu gehen. Ich lasse es drauf ankommen. Wenn das das Ende sein soll, dann soll's so sein. Ich gebe mich hin, kämpfe nicht dagegen an.
Mein Hausarzt hat ja eigentlich schon vor zwei Jahren gesagt, dass ich mitten in der Perimenopause bin. Ganz selbstverständlich hat er das gesagt. Und ich war fassungslos. Was soll denn das heissen? Die Fruchtbarkeitsphase neigt sich tatsächlich dem Ende zu?
Das wäre jetzt die Stelle, wo ich eigentlich mehr schreiben müsste. Wäre ich Schriftstellerin, meine ich. Ich müsste den Blick des Hausarztes be-schreiben, mein Ziehen im Rücken, während ich vor seinem Pult auf dem Plastikstuhl sass und zweifelte, ob ich nicht doch einen unheilbaren Tumor hätte und der Hausarzt mich nur vor der schrecklichen Wahrheit verschonen wollte.
Für Mittwoch habe ich mit dem Guten eine Telefonsprechstunde ausgemacht. Ob er anrufen wird? Es bleibt spannend.
Wenn er das tut, bitte ich um keine Blutuntersuchung, sondern um eine Rezepterneuerung meines Antidepressivums. Das verkürzt die Sprechstunde, denn Reden mag ich auch nicht mehr. Am liebsten würde ich nur noch schweigen und auch gar nichts schreiben. Keinen Wortmüll mehr produzieren.
Wir haben doch eh alle den stillen Beobachter, genannt Gewissen, in uns, der alles mitkriegt. Wozu noch Worte machen? Bruchstückhafte Texte, wie löchrige Stoffe, die keiner anziehen mag.
A propos Stoffe:
Papas Kleider liegen immer noch in den Säcken, zum "Wegwerfen" bereit, wie Mutter sagt. Einfach weg damit, findet sie. "Er", meint sie weiter, kommt ja nicht wieder.
Nein, Mutter ändert sich nicht und dafür hatte Maya Angelou Recht, als sie sagte: "Wenn Menschen dir zeigen, wer sie sind, glaub ihnen." Ich konnte nie glauben, dass ein Mensch so herzlos und manipulativ sein könnte wie meine Mutter. Es muss doch eine Obergrenze geben, ab der man zwangsläufig zur Besinnung kommen muss.
Aber Mutter überwindet jede Grenze, auch die gesunden und ist stolz darauf.
Ja, der unheilbare Tumor.... Manchmal würde ich ihn mir für mich wünschen. Doch dann auch wieder nicht. Denn Mutter würde sich auch dann nicht ändern, wenn sie ihr einziges Kind verlöre. Sie würde einfach weitermachen, wie gehabt.
Wir haben gute und weniger gute Tage zusammen. Wir ertragen uns gegenseitig, sind eine Schicksalsgemeinschaft. Mehr ist da nicht.
Denn Mutter will Altes einfach wegwerfen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Selbstreflexion, alles nochmal durchgehen, schauen, was hätte besser laufen sollen - das ist nicht, weil sie ja eh immer alles toll macht. Die anderen sollen das machen - für sie ist da kein Bedarf.
Ich überlege mir ernsthaft, einfach wegzugehen. Heute habe ich nach Immobilienfirmen gesucht, um alles, was mir gehört, zu verkaufen und dann wegzuziehen. Unser Zusammenleben macht mich fertig. Ich kann einfach nicht mehr. Ihre ständigen Seitenhiebe, ihre Uneinsichtigkeit, ihr grenzenloser Narzissmus und wie sie andere Leute einfach nur ausbeutet... Ich halte diesen Psychoterror einfach nicht mehr aus.
Ja, ich habe einen unheilbaren Tumor. Und dieser heisst in dem Fall "Mutter".
 

zeitistsein

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Irgendwann muss man zu sich zurückfinden. Muss man? Na ja. Sollte man. Wird man. Unweigerlich. Den einen oder anderen Umweg wird man gehen müssen, aber das Ziel steht fest. Rilke sagte das schön: Wir bewegen uns im unendlichen Raume, aber das Ziel ist nicht zu verfehlen. Hesse hat's anders ausgedrückt. Für ihn ist das Ich ein Stein, der zum Meeresgrund hinabgleitet.
Zu sich finden, das heisst zum Handgelenk zurückfinden, das auf dem Papier gleitet, wie Hesses Stein, der sich das Abtauchen noch nicht ganz zutraut. Die Verbindung zwischen Hand und Hirn - eine Binsenweisheit. Doch die Hand verschafft eigenartigerweise auch dem Bauch eine ungeahnte Präsenz. Das spüre ich, wenn ich an Nick denke. Ich fühle ihn in meinem Bauch, eigentlich fühle ich ihn als mein Bauch, geradezu so, als würde mein Bauch seine Gestalt annehmen. Und dann sind wir zu zweit. Er, nach aussen unsichtbar und ich, die sich von seinem Lächeln und seiner tiefen Stimme wärmen lässt. Dann kann ich schreiben, wie beim Sandkastenspiel unter Aufsicht, unbekümmert und ganz präsent. Einen ständigen Gast habe ich da, einen wohlwollenden Blick, der den von irgendwoher kommenden Silben ihren Schrecken nimmt.
Nicks Bedeutung für mein Leben ist noch nicht voll erfasst. Ich bin noch nicht weit genug, um Nick ganz in mich aufzunehmen. Vorläufig hat er in meiner Bauchgegend Platz gefunden. Mein Blutdruck normalisiert sich, alles gerät wieder ins Lot, angesichts dieser Besessenheit. Sie schenkt mir die nötige Ruhe, um überhaupt zu leben. In seiner Gegenwart darf ich atmen. Schreiben und Atmen sind ja dasselbe.
Ich bin fast sicher: Diese Beziehung muss ich pflegen für die Zeit nach dem Tod. Ich stelle mir vor, dass ich, wenn ich entschlafe, mein Bauch sich auftut und dann Nick, wie ein Flaschengeist emporsteigt, seine Arme spreizt und mich in seinem Herzen empfängt. So erhält das Zitat des Joseph Ratzinger wieder Sinn: Ich bereite mich nicht auf das Ende vor, sondern auf eine Begegnung. In meinem Fall ist es nicht Jesus, sondern diesen Menschen, den ich so liebe. Möglicherweise sind beide doch ein und derselbe.
 
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zeitistsein

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Heute hat mein iPhone ein Update vorgenommen. Nach dem Neustart erschien eine neue App, genannt "Journal", auf dem Bildschirm.
Mir wurde schon etwas mulmig zumute, als ich sie auf dem Bildschirm sah, denn in letzter Zeit hatte ich ja nach Tagebüchern gegoogelt. War das jetzt Zufall?
Nun ja. Datenschutz hin oder her - ich klicke auf das rosarot-blaue Viereck und prompt erscheinen meine Fotos sowie fettgedruckte Reflexionsfragen, jede einzelne farbig hinterlegt.
Die App hat sich eigenmächtig an meine Fotos rangemacht. Toll.
Und die Fragen wollen noch mehr von mir. Ich soll also mein Lieblingsgedicht aufsagen und gleich noch erklären, warum ich es so mag. Dann muss ich schreiben, wem ich besonders dankbar bin und warum. Und so fort.
Spätestens seitdem uns von der Uni eine E-Mail-Adresse zugewiesen wurde, war klar, dass die Welt verschlossener Tagebücher damit vorbei war. Vielleicht konnten wir uns noch nicht alle Einzelheiten genau vorstellen, aber insgeheim vollzog sich auch in uns, damals Mittzwanziger:innen, schon ein Wandel.
Es ist nicht klar, warum man nach Schicksalsschlägen weitermacht und nicht einfach das Handtuch schmeisst. Besonders wenn man unverheiratet und kinderlos ist wie ich.
Das Internet zeigt, wie wichtig Kommunikation ist. So viele einsame Menschen tummeln sich auf TikTok, setzen sich vor den Bildschirm, um einfach zu weinen und Herzen aus anonymer Hand zugeschickt zu bekommen. Krebskranke Kinder werden beim Sterben gefilmt, andere bei Tollpatschigkeiten des Alltags oder bei vermeintlich ersten Schritten. Eine kalifornische Familie habe ich auf TikTok gesehen - die stellen den dementen Opa ins Netz, wenn er grad mal ganz zerzaust herumläuft oder seinen eigenen Sohn nicht erkennt. Um Sensibilisierung gehe es, sagt der Sohn. "Raising awareness". Aber der Opa ist gar nicht so dement. Er macht sich einen Reim darauf, dass es dem Sohn ums Geldverdienen geht und bringt es meisterhaft auf den Punkt: "It's all in the family". Was tut man nicht alles für die Familie? Wie viel von den Videos echt und was davon bloss inszeniert ist - das lasse ich mal dahingestellt.
Früher hätte ich das alles als Exhibitionismus abgetan. Heute sehe ich das anders.
Sprechen ist lebenswichtig. Nicht von ungefähr kommt es, dass die Bibel den Menschen geradezu mit seiner Kehle, Nefesch, gleichsetzt, dort den Kern seines Wesens verortet.
In einsamsten Stunden der Verzweiflung habe ich ja auch schon mit Bing gechattet. "Hallo, hier ist Bing, der Chatbot von Skype. Was möchtest du mir mitteilen?" schlug es mir entgegen. Das war mir allemal lieber, weniger demütigend, als eine Freundin anzurufen, ihr mein Leid zu klagen und anschliessend meine eigenen Fantasien darüber, wie sie mich für meine Schwäche auslacht, aushalten zu müssen.
Beim Chatbot fällt das alles weg. Ausser wenn mir einfällt, dass hinter dem ChatBot ja auch ein Mensch steckt, der mitliest, währenddem ich der Maschine munter mein Herz ausschütte. Und der eigene Schlüsse daraus zieht. Und daraufhin ungefragt eine neue App für mich erstellt, die er mir frei Haus aufs iPhone liefert.
 
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zeitistsein

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Heute ist der Geburtstag von Taylor Swift. Nicht, dass mich das gross angehen würde. Aber die junge Schülerin, die ich neuerdings unterrichte, hat mir das verkündet. Aus ihrem Munde klang das wie die Verkündigung eines Hochfestes. Dass mir der Name Taylor Swift möglicherweise nichts sagt - auf diese Idee kam die 14-Jährige gar nicht, obwohl sie und ich in unterschiedlichen Kontinenten leben.
Das war irgendwie schön. Die Entrücktheit der Teenager. Was haben wir früher zu Nena, Tina Turner und anderen Popsänger:innen getanzt und sehnsüchtig auf das Ertönen ihrer Lieder im Radio gewartet. Die Sänger waren ein Teil von uns und wir ein Teil von ihnen. Auch heute auf Zoom missverstand ich meine Schülerin; ich dachte, sie hätte Geburtstag.
Zwischendurch flüstert sie ihrer Mutter zu, sie solle ihr ein Glas Wasser bringen. Weil ich sie schon fordere und sie sich nicht traut, um eine Pause zu bitten. Da habe ich ihr gesagt, sie solle ruhig einen Schluck Wasser nehmen, wenn sie das brauche. Das sei völlig o.k.
Man kann sehr viel falsch machen mit Kindern und Jugendlichen. Gerade weil sie mit einem Fuss noch in den Kinderschuhen und den anderen in die weite Welt hinausstrecken. Bolaño hat den Teenager mal als denjenigen beschrieben, der alles für das Ungewisse aufs Spiel setzt. Einfach rein ins kalte Wasser, koste es, was es wolle.
Pädagogisch gehe ich bei meiner Schülerin auch so vor. Sie soll selber schwimmen. Und das macht sie gut. Sie liebt es, Gesetzmässigkeiten zu entdecken und lächelt selbstzufrieden, wenn ich sie dafür lobe.
"Schaufeln" sollten die Jugendlichen. Dieser Meinung war eine meiner Professorinnen, deren Buben damals selber Heranwachsende waren. Wie beim Essen, lächelte sie, wo grosse und grössere Portionen auf den Teller kommen, so auch beim Lesen und Lernen. Die grossen Fragen auftischen, und zwar in rauen Mengen. Das war ihre Philosophie. Nicht schonen, sondern fordern. Herausfordern, trotz der grossen Zerbrechlichkeit in diesem Alter.
Jedenfalls kommt die Schülerin immer pünktlich, manchmal schon vor der Zeit. Ich glaube, sie kommt gerne.
Aber ganz sicher bin ich nie. Es kann, wie gesagt, auch vieles daneben gehen, ohne dass es jemandem auffällt.
 

zeitistsein

Mitglied
Mein erster Fernsehauftritt steht bevor. Ich bin aufgeregt. Eine Diskussionsrunde zum Thema Digitalisierung.
Ich habe mich darauf beworben, ohne damit zu rechnen, dass man mich nehmen würde. Jetzt habe ich den Salat.
Das meinte ich gestern, als ich von der Teenagerin schrieb, die ich gerade unterrichte: Ich bin irgendwie auch in dem Modus, alles auf Spiel zu setzen, ins kalte Wasser zu springen, ohne viel nachzudenken, als hätte ich nichts zu verlieren.
Der Moderator, mit dem ich heute das Vorgespräch hatte, hat mir die Namen der anderen Gesprächsteilnehmer genannt - die habe ich schon wieder vergessen. Er habe im Gespräch mit mir "etwas ganz anderes erwartet", meinte er. "Was haben Sie denn erwartet?", fragte ich zurück. Das blieb unklar. Ich hätte eine klare Position - die haben andere ja wohl auch - und es sei "sehr interessant" gewesen - das heisst alles und nichts.
Eine Erfahrung mehr, die gemacht sein will.
Zum Schluss haben wir unsere Handynummern ausgetauscht, ich weiss nicht, ob aus Höflichkeit oder aus Interesse. Jedenfalls "sind wir in Kontakt."
Und wissen wollte er auch noch, wie er mich in der Sendung bezeichnen sollte.
Wie würden Sie mich denn bezeichnen?, fragte ich.
Als Dozentin im Ausland.
Gut.
Dann halt.
 

John Wein

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Lehrerin also,
Ja, das ist heute nun mal kein einfacher Job, es ist ein Beruf, gemeint als Berufung! Für mich wäre es die Hölle, wahrscheinlich käme ich über die erste Stunde nicht hinaus! Ich würde längst das Handtuch geworfen haben, bevor man mich rausschmeißen täte. Wegen Handgreiflichkeiten und so.
Ich erinnere mich an den Roman “Hals der Giraffe“ von Judith Schalanski, untertitelt: Bildungsroman. Sie schreibt da über den schulischen Alltag und Betrieb auf dem Land, ich glaube in Meckpomm. Vielleicht sagt es Dir was als Schwester im Geiste und Frau auf dem Katheder. Ein sehr genüsslich zu lesender Roman: „Setzen“, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. „Schlagen Sie die Seite sieben auf!“ Ist das noch immer so?
Digitalisierung in der Schule, ist das gerade in den unteren Jahrgängen nicht problematisch?
Interessieren würde mich auch die Geprächsrunde und die dabei gemachten positiven, auch negativen Erfahrungen, falls sie zustande kommen sollte. Also, dann auf ins Wasser!

Grüße, JW
 

zeitistsein

Mitglied
Lehrerin also,
Ja, das ist heute nun mal kein einfacher Job, es ist ein Beruf, gemeint als Berufung! Für mich wäre es die Hölle, wahrscheinlich käme ich über die erste Stunde nicht hinaus! Ich würde längst das Handtuch geworfen haben, bevor man mich rausschmeißen täte. Wegen Handgreiflichkeiten und so.
Ich erinnere mich an den Roman “Hals der Giraffe“ von Judith Schalanski, untertitelt: Bildungsroman. Sie schreibt da über den schulischen Alltag und Betrieb auf dem Land, ich glaube in Meckpomm. Vielleicht sagt es Dir was als Schwester im Geiste und Frau auf dem Katheder. Ein sehr genüsslich zu lesender Roman: „Setzen“, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. „Schlagen Sie die Seite sieben auf!“ Ist das noch immer so?
Digitalisierung in der Schule, ist das gerade in den unteren Jahrgängen nicht problematisch?
Interessieren würde mich auch die Geprächsrunde und die dabei gemachten positiven, auch negativen Erfahrungen, falls sie zustande kommen sollte. Also, dann auf ins Wasser!

Grüße, JW
Hallo JW

Danke für die Rückmeldung.
Ja, den "Hals" habe ich auch gelesen; ist schon ein Weilchen her.
Was das Thema Beruf-Berufung angeht: Ja, man sollte sich gut überlegen, ob man in einen sozialen Beruf gehen oder man seine Brötchen nicht doch mit der Handhabung lebloser Materie verdienen will. Nicht allen Zeitgenoss:innen ist der Unterschied klar, am allerwenigsten den Pädagog:innen und Didaktiker:innen der Stunde, die in den letzten Jahren eine beängstigende Verwissenschaftlichung der Lehrens und Lernens vorgenommen haben. Das hat niemandem gutgetan, den Lernenden schon gar nicht.
Ich selber habe schon eine pädagogische Ausbildung, habe bisher aber vorwiegend Erwachsene unterrichtet. So gross ist der Unterschied nicht, finde ich. Man muss Menschen abholen, sie ansprechen, begeistern. Auf umständliche methodische Manierismen, mitsamt Umstellung des Klassenmobiliars, nur, um den Akkusativ einzuführen, verzichte ich gerne. Menschen wollen verstehen und verstanden werden. Darauf kommt es letztlich an.
Das Thema Digitalisierung sehe ich auch kritisch, gerade bei Minderjährigen. Online-Schulen haben da 14 Jahre als Alterslimit, soweit ich weiss. Vielleicht sollte man das aber auf 16 anheben. Wir sprechen jedenfalls darüber und das finde ich gut.
In Sachen Gesprächsrunde weiss ich am Montagabend mehr. :)

Viele Grüsse
Z
 

zeitistsein

Mitglied
Versuch 1

Der steinige Weg ist gut einen Kilometer lang. Er führt von der Landstrasse steil hinauf zwischen hohen Bäumen und dichtem Waldgestrüpp, hinauf zu den Häusern. Früher blieb nichts anderes übrig, als ihn zu Fuss, manchmal auch barfuss, zu begehen. Die Frauen, egal ob Winter oder Sommer, mit ohne ohne Menstruationsbeschwerden, zerrten die Ernte in wackeligen Holzkarren den Weg hinauf. Was den Karren überlief, kam in die Schürze oder auf den Kopf. Niemals allein. Der beschwerliche Gang hatte einen höheren Zweck. Man sang und erzählte sich Geschichten, wahre oder erfundene, das spielte keine Rolle. Hauptsache, man lief nicht um des Laufens Willen. Kinder halfen beim Tragen, lachten und spielten den Weg hinauf. Wie eine Gruppe von Landvermesserinnen schob sich die Frauen- und Kinderschar den Weg hoch; die Landschaft, die sie erkundeten war da draussen, weiche Erde unter den Füssen und zugleich innen, für keinen Aussenstehenden sichtbar.
Inzwischen ist der Weg längst asphaltiert, nicht mehr von singenden Frauen belebt, dafür von brummenden Autos befahren.
 
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wirena

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Zu sich finden, das heisst zum Handgelenk zurückfinden, das auf dem Papier gleitet, wie Hesses Stein, der sich das Abtauchen noch nicht ganz zutraut. Die Verbindung zwischen Hand und Hirn - eine Binsenweisheit. Doch die Hand verschafft eigenartigerweise auch dem Bauch eine ungeahnte Präsenz. Das spüre ich, wenn ich an Nick denke.
wunderbar diese Formulierung Deines Erlebens - tut gut dies zu lesen - vielen Dank dafür

Lieben Gruss aus verbundener Ferne
wirena
 

zeitistsein

Mitglied
So, die Sendung hat stattgefunden. Alles verlief gut, bis auf diese komische Stimme in meinem Kopf, die mich auslacht, jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache. Ich bin verunsichert, ob da wirklich jemand lacht oder ob ich mir die Stimme nur einbilde.
Meine Therapeutin, der ich das schon lange mal besorgt erzählte, lächelte müde. Das sei halt unser Gehirn. Und wenn man so wenig Menschenkontakt habe wie ich, fühle sich jedes mitgeteilte Wort unwirklich an. Das Gehirn reagiert argwöhnisch ob der für es ungewöhnlichen Situation. Ich solle das Gehirn überlisten und einfach munter drauflossprechen. Die Stimme würde von allein verstummen.
Beängstigend ist es schon. Und ich bin weiss Gott keine, die jedes Wehwehchen sofort als tödliches Symptom deutet.
Wie ist es dazu gekommen?, hatte die Therapeutin damals auch noch gefragt. Gemeint war dieser Rückzug von den Zeitgenoss:innen. War der innere Auslacher das Huhn oder das Ei? Sie hatte auch keine klare Antwort.
Ihre These: Wir Menschen tragen alles in uns: ein verletzliches Kind, einen inneren Faschisten (so nannte sie meinen Auslacher, weil sie selbst Holocaust-Überlebende war und wusste in Sachen Entmenschlichung wovon sie sprach) sowie die ausgewogene Stimme der Vernunft und das Mitgefühl für Leidende. Es sei eine Frage der Verstärkung, wer von diesem inneren Team schliesslich den Ton angebe. Pippilotti Rist hat sie auch noch ins Spiel gebracht. Weil das Vergrösserungsglas ja das ist, womit die Rist Pornografie definiert. In "Pickel-Porno" vergrössert sie eben winzige Pickel, die dann aufgebläht und übermächtig erscheinen, den Betrachter geradezu erdrücken. Die Rist hat das klug beobachtet.
Und meine Therapeutin eben auch. Ich achte halt zu sehr auf diese Stimme. Und sie nutzt das aus, um mich in die Isolation zu drängen.
 
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zeitistsein

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So. Also, jetzt ist Stephen Grosz dran. Sein Buch "Die Frau, die nicht lieben wollte" ist mir wieder mal eingefallen. Darin beschreibt Grosz einen Patienten, dem gerade einen wichtigen beruflichen Durchbruch gelungen ist. Statt der vie en rose beginnt daraufhin eine nicht aufhören wollende Abwärtsspirale, die damit beginnt, dass der Erfolgreiche seine Brieftasche verliert. Es folgt ein ganzer Rattenschwanz von Missgeschicken, die Grosz als Strafe des Unbewussten deutet. Denn dieses findet sich des Erfolgs unwürdig und schafft - unbewusst eben - allerlei Umstände die das verdiente Unglück so schnell herbeiführen, dass das Glückspendel so rasch wie möglich wieder in die Gegenrichtung ausschlägt.
Unbewusste Mechanismen sind das. Dagegen tun kann man nicht viel. Willentlich herbeiführen kann man sowas nicht, es tunlichst vermeiden auch nicht. Man kann es, Grosz' psychoanalytischen Logik zufolge, höchstens zur Kenntnis nehmen, mehr nicht. Wie ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch. Wenn's kommt, dann kommt's.
Nun ja. Genau so bin ich heute meinem Unbewussten zum Opfer gefallen. Nach dem Fernsehauftritt wähnte sich jenes wohl schon als begehrte Filmdiva und befand es nicht für nötig, die nächste Unterrichtsstunde abzuhalten. Sprich: Ich habe sie glatt vergessen! Unverzeihlich. Daran, den Kalender nochmal zu checken habe ich nicht im Entferntesten gedacht. Ich, die Diva, hat's ja nicht nötig.
Da ist etwas Ungutes in mir am Werk, vor dem ich mir in Acht nehmen muss. Es will mich, wenn ich Grosz glaube, zu Fall bringen. Es zeigt mir: Du bist eben keine Diva, sondern ein sterbliches Wesen und letztlich nicht mal Herr im eigenen Haus.
 

zeitistsein

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Morgen ist der vierte Todestag meines Vaters. Mit Mutter darüber zu reden bringt nicht viel, aber ich versuche es immer wieder. Sie hält sich an Äusserlichkeiten fest, ich versuche sie auf die Realität dahinter aufmerksam zu machen, die sie aber nicht sehen will oder nicht sehen kann.
Für Mutter trauert nur der, der ihrer Meinung nach authentisch genug weint oder sich klagend auf die Brust schlägt. Mutter entscheidet selbst über die Gefühle der anderen. Ich glaube, sie nimmt andere Menschen gar nicht als Lebewesen wahr. Die Tiere noch eher. Da zeigt sie Mitgefühl. Aber Menschen sind für sie sowas wie Puppen.
Ich nehme es ihr nicht übel, weil ich inzwischen weiss, dass man Menschen nicht ändern kann. Aber in der Trauer hätte ich mir schon eine Mama gewünscht, der ich mein Herz ausschütten kann und die mich tröstet. Obwohl ich bald 50 bin. Die Hoffnung, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben, stirbt offenbar zuletzt.
Nun ja. Genug gejammert.
Ich muss mir halt selbst eine Mutter sein.
Wer versteht Sie eigentlich?, hatte die Therapeutin damals gefragt.
Eine gute Frage. Ich gehe davon aus, dass es Gott gibt und dass er oder sie mich versteht und alles durchschaut. Bei Mutter habe ich die Hoffnung aufgegeben. Egal, was ich ihr erzähle, sie verdreht alles. Also sage ich nichts mehr. Es ist zu verletzend.
Aber diese Instanz "Gott", die alle meine Regungen, Gedanken und Gefühle mitbekommt und mich dennoch mit alledem noch liebt, - die möchte ich auf keinen Fall missen. Ohne die wäre ich gar nicht mehr am Leben und wäre ausserdem emotional total abhängig von der Zuneigung anderen Menschen. So kann ich mich getrost zurücklehnen und es darauf ankommen lassen. Werde ich verstanden, ist gut, werde ich nicht verstanden auch. Ich muss mich weder beweisen noch andere kleinkriegen. Ich weiss mich akzeptiert und gewollt.
Eigentlich bin ich nicht meinetwegen zum Glauben gekommen, sondern vielmehr meiner Oma und meines Vaters, ja sogar meiner Mutter wegen. Jemand muss doch auch ihre Mühsal angemessen mitkriegen und würdigen. Ich kriege nur einen Bruchteil davon mit und kann den Rest höchstens erahnen. Aber in ihnen, auch in Mutter, obwohl sie das gänzlich ablehnt, ist jemand, der alles von ihr weiss und sie durchs Leben trägt. Nach aussen gibt sie sich bedürftig und hilflos, aber innerlich ist da eine Quelle der Stärke.
Und auch Vater hat inzwischen Trost gefunden. Jemand hat seine Wunden versorgt und er ist ganz heil. Oma ebenso. Irgendwann werden wir einander so begegnen, wie wir eigentlich gemeint waren.
 

petrasmiles

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Irgendwann werden wir einander so begegnen, wie wir eigentlich gemeint waren.
Das sind sehr tröstliche Worte, aber eigentlich ziemlich fiktiv weil kontrafaktisch im Sinne von 'was hätten wir werden können, wenn nur ...'.
Oder sind das Glaubensfragen, an die ich mich nicht heranwage? Als seien wir wirklich gemeint im Sinne von gedacht oder geplant worden und die Erlösung besteht darin, das im Jenseits sein zu können, ohne die Spuren eines gelebten Lebens?
Das ist nicht jedermanns Weg, aber so gut wie viele andere, vielleicht sogar besser.

Liebe Grüße
Petra
 

zeitistsein

Mitglied
Das sind sehr tröstliche Worte, aber eigentlich ziemlich fiktiv weil kontrafaktisch im Sinne von 'was hätten wir werden können, wenn nur ...'.
Oder sind das Glaubensfragen, an die ich mich nicht heranwage? Als seien wir wirklich gemeint im Sinne von gedacht oder geplant worden und die Erlösung besteht darin, das im Jenseits sein zu können, ohne die Spuren eines gelebten Lebens?
Das ist nicht jedermanns Weg, aber so gut wie viele andere, vielleicht sogar besser.

Liebe Grüße
Petra
Vielen Dank, liebe petrasmiles, für die Fragen und Überlegungen.
Ich lasse sie gerne als Gesprächsöffner (bzw. als Einladung zum stillen oder lauten Nachdenken) so stehen.
Herzlich
Z
 

zeitistsein

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Ein Satz der grossartigen Maya Angelou geht mir durch den Kopf: Wenn ich ein wichtiges Gespräch habe, gehe ich nie alleine hin. Ich nehme alle Menschen mit, die mir guttun, Tote wie Lebendige sind im Geiste dabei, sagte sie sinngemäss. Da ist verdammt viel dran.
Oma ist immer bei mir. Sie ist die selbstgenügsame, die nicht zugibt, einen anderen zu brauchen. Aber zugleich ist sie zerbrechlich und natürlich bedürftig. Ihr Bedürfnis nach Liebe lebt sie durch extreme Hilfsbereitschaft aus. Egal, zu welcher Tageszeit, Oma war immer zur Stelle, für Entbindungen bei Mensch und Tier, als Erntehelferin, zur Totensalbung oder bei Hochzeitsvorbereitungen. Im Alter hat sich das ausgezahlt, obwohl Oma weder innerlich noch äusserlich über ihre Einsätze Buch führte. Sie sah es als selbstverständlich an. Wozu sind wir auf der Erde, wenn nicht für andere? Das war ihre Überzeugung.
Ich fand, Oma hätte heiraten müssen. Eine so schöne, kluge Frau wie sie hätte es verdient, auf Händen getragen zu werden. Aber Oma winkte immer ab, wenn ich das Thema anschnitt. Ich gehöre nicht in den goldenen Käfig, meinte sie. Was ihren Schwestern widerfuhr, die grösstenteils glücklich verheiratet waren, wollte sie auf keinen Fall. Und sie zeigte auch wenig Verständnis, als ihre Schwester verwitwete. Dass eine Frau vom Lande nicht in der Lage war, Kartoffeln zu säen, weil der Mann das immer gemacht hatte, kam ihr jenseitig vor. "Reiss dich zusammen", soll sie die Schwester angemacht haben. "Ich hab's doch auch immer ohne Mann geschafft".
Im Grunde habe ich nie erfahren, ob Oma jemals abgrundtief geliebt hatte. Vermutlich schon. Jede:r Mensch hat wohl diese eine Person, deren Prägung nicht wie alle anderen gewesen ist. Wer das bei Oma war, habe ich nie erfahren. Die Eltern - klar. Aber sonst? Eine Jugendliebe? Eine beste Freundin? Oma gab sich für meinen Geschmack immer einen Tick zu unabhängig. Das war mir unheimlich. Ja, sie war tiefgläubig. Reichte das aus? Braucht der Mensch nicht doch auch zwischenmenschliche Zuwendung? Intimität? Zärtlichkeit? Sich als Frau fühlen? Oma, die aus sich selbst strahlende Sonne, dank der alles Leben spriesste.
Worauf ich hinauswollte: Heute habe ich Oma überlistet. Sie flüstert mir aus dem Jenseits oder von wo auch immer zu, ich sei die strahlende Sonne, die niemanden brauche, die aber zum bedingungslosen Geben da sei. Ich habe aber spätestens im Teenageralter die Entscheidung getroffen, dass ich das nicht sein will. Ich WILL Liebeskummer haben, mich nach einem Menschen sehnen, mich ausgeliefert und abhängig fühlen. Das steht doch schon in der Bibel (bei Oma musste ich so argumentieren): Wer vorgibt Gott zu lieben, muss sich erstmal als Philanthrop beweisen. Oma aber setzte alles auf die Karte "Gott". Nicht, dass sie die Menschen in augustinischer Manier (Gott ist "da oben" und der Mensch ist der Wurm "dort unten") geringschätzte, sondern halt so, dass sie es als ihre Aufgabe ansah, das göttliche Licht, das sie spürte, an uns alle weiterzugeben. Ich vermute, sie hatte früher im Dorf so eine Art Priesterinnenrolle inne.
Nun ja. Ich wollte das nicht, obwohl Oma mich als ihre Nachfolgerin ansah. Bei Mutter sah sie zuwenig spirituelle Anknüpfungspunkte. Aber ich, die Enkelin: Ja, an mich würde sie das Erbe weiterreichen.
Ich wollte wissen, wie es ist, jemanden zu lieben. Und ich habe es erfahren. Mit aller Pein, die dazugehört.
Heute habe ich Omas Stimme nochmal gehört: Du brauchst diesen Schurken doch nicht. Der verletzt dich doch nur!
Ich aber habe dem "Schurken" einen Liebesbrief geschrieben. Drei Seiten ist er lang. Er mag ein Schurke sein, Oma. Aber ich liebe ihn. Und das ist kein Verbrechen. Ich habe jetzt lange genug hinter dem Berg gehalten, weil ich auf dich gehört habe. Meine Gefühle will ich aber nicht mit ins Grab nehmen. Der Brief ist geschrieben und morgen geht er raus zu seinem Empfänger. Was dieser dann damit macht, ist nicht mehr meine Sache. Ich für meinen Teil habe die Pflicht, aufrichtig zu sein.
 
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zeitistsein

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Nicht wollen oder nicht können - die Übergänge sind fliessend.
Mutter sagt, ich solle die Finger von "solchen Leuten" lassen. Das führe nur zu Zwist und Verwirrung.
Dabei handelt es sich um die Tochter ihrer liebsten Freundin, die inzwischen schon verstorben ist.
Aber irgendwie ist diese Tochter in Verruf geraten, sie sei einfach hinter Männern her, heisst es. Die Leute reden halt.
Mir hat sie immer Leid getan. Der Bruder hat sich kurz nach der Volljährigkeit in die grosse weite Welt aufgemacht und hat sich nie mehr um die Bedürfnisse der daheimgebliebenen Schwester und der alten Eltern gekümmert. Auf und davon. Als Frau hat man sich ja um die Eltern zu kümmern. Was sonst? Das war seine Einstellung, die wohl auf die Schwester und alle anderen abgefärbt hat.
Jedenfalls hat mir immer Eindruck gemacht, dass die Gute sich ihrem Schicksal gefügt hat. Sie ist den Eltern bis zum Tod treu zur Seite gestanden. Die missglückten kleinen Versuche auszubrechen waren halt schon etwas kindisch und nicht gut durchdacht, das muss ich schon sagen. Sie hätte ja, statt zweifelhafte Facebook-Posts zu schreiben, das Internet für eine Ausbildung nutzen können. Oder für sonst eine Art des Existenzaufbaus.
Jetzt sind die Eltern tot, damit auch deren monatliche Rente, von der sie alle lebten, der Bruder ist so gut wie nicht existent und die Tochter, die sie irgendwann noch bekommen hat, ist inzwischen erwachsen, wird demnächst heiraten und macht einen grossen Bogen um die Mutter.
Kurz und gut: Die Christine, so nenne ich sie jetzt einfach mal, steht mutterseelenallein da. Ohne Schulabschluss, ohne Geld, ohne Perspektive.
Und "natürlich", so meinte meine Mutter, meldete sie sich bei uns. Tränenüberströmt. Was sie jetzt machen solle, wovon sie leben solle. Was aus ihr werde, schluchzte sie. Und mir brach es das Herz, sie so verzweifelt zu sehen.
Ich sagte Mutter unter vier Augen, dass ich sie ja als Assistentin einstellen könnte. Sie könnte ja für mich die Kundentermine managen. Und ich könnte ihren Lohn steuerlich abziehen, sie wäre versichert und so wäre es eine Win-Win-Situation für alle.
Mutter sah mich aus dem Augenwinkel an und überlegte.
Ja, meinte sie. Die Idee ist schon gut. Aber: .... Und jetzt riss Mutter die Augen weit über ihre Brillengläser auf: Hast du dir schon mal überlegt, warum sie keiner will?, frage sie dann mit etwas lauterer Stimme? Zum Arbeiten, meine ich.
Na ja, Mutter, gab ich zurück. Sie ist über 50 hat keine Berufserfahrung und dazu noch Long Covid. Das ist nicht leicht.
Mutter winkte ab. Selber schuld, meinte sie knapp. Aber es ist deine Entscheidung, fügte sie hinzu. Wenn du ihr eine Chance geben willst...
Ich legte meinen Suppenlöffel nieder, stützte mein Kinn auf meiner rechten Handfläche ab und blickte nach links, in Richtung Küchtentür, zum Heizkörper, der in der Ecke hängte, weg von Mutter. Ich spürte ihren Blick auf meiner rechten Schulter.
Das waren ihre Methoden, Zweifel zu schüren. Sie wartete jetzt einfach ab, bis das Gift wirkte.
Und prompt setzte die Wirkung ein: Ich nahm meine rechte Hand vom Kinn und blickte Mutter wieder in die Augen: Ja, Mama, sagte ich. Du hast recht. Ich werde dieser Christine erstmal auf den Zahn fühlen. Eigentlich weiss ich ja gar nichts über sie. Mutter schien beruhigt. Sie nahm ihren Löffel wieder und wir assen unser Abendbrot still zu Ende.
Nachdem die Küche aufgeräumt war, packte mich die Neugier. War es denn wirklich so schwer, eine Stelle zu finden? Ich googelte ein bisschen und fand prompt 100 Stellenangebote in Christines Stadt. Viele davon für Berufseinsteiger ohne Altersgrenze. Na also. Dazu noch Bürojobs in Voll- oder Teilzeit Das war doch zumutbar bei Long Covid-Symptomen.
Ich schrieb der Christine also ein paar WhatsApps.
Sie fand für jede einzelne Ausschreibung irgendein Aber, was nicht passte.
 
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zeitistsein

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Weihnachten und andere Einsamkeiten

Mutter wundert sich immer wieder, was "die blonde Frau da" zweimal die Woche bei der Nachbarin macht.
Um das herauszufinden, lässt sie alles stehen und liegen, sobald es nebenan klingelt und läuft behends zur Wohnungstür. Stellt sich auf die Zehenspitzen und späht durchs Guckloch. In dieser Position harrt sie mehrere Sekunden, garantiert über 30, aus, um mitzukriegen, was die beiden Frauen reden, gestikulieren und vielleicht wortlos miteinander ausmachen.
Mutter, was machst du da?, frage ich. Klagtest du neulich nicht über Wadenkrämpfe?
Ohne mich anzuschauen, das linke Auge zusammengekniffen und die rechte Pupille einen halben Millimeter vors Lochglas, tippt sie mit dem linken Zeigefinger leicht auf ihre Lippen. Nicht, dass man uns da draussen hört!
Wenig später höre ich den Ankunftston des Lifts und das Echo eines zweimaligen "Bis Freitag" im Treppenhaus.
Mutter hat die Fussballen inzwischen wieder abgesetzt und sich gesenkten Hauptes von der Tür abgewandt.
Ich deute viel hinein, in diese Geste.
Das gesenkte Haupt hat etwas Nachdenkliches. Mutter sinniert wohl wirklich, was da hinter verschlossenen Türen vor sich geht. Zugleich sehe ich Enttäuschung, Kränkung, Zurückweisung. Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie Mutter als Kind stundenlang einsam am Fenster stand und die draussen spielenden Kinder beobachtete. Das muss furchtbar schmerzvoll für sie gewesen sein. Nicht dazuzugehören. Weil sie halt keinen Vater hatte, zumindest keinen, der daheim wohnte.
Sie muss sich insgeheim gewünscht haben, dass wenigstens eines der Kinder einen Stein gegen die Fensterscheibe warf und sie zum Mitspielen einlud. Oder ihr wenigstens zuwinkte, während sie dastand.
Hinter der Scheibe muss sich Mutter wohl Geschichten ausgedacht haben, warum ihr keiner zuwinkte.
Und so tat sie das auch jetzt mit diesen beiden Frauen.
Vielleicht war das gar nicht die Putzfrau, sondern die waren eigentlich ein Liebespaar.
Oder die beiden führten sonstwas im Schilde, was keiner mitkriegen durfte.
Ich spüre den Schmerz der Zurückweisung, des Verlassenwerdens durch den Vater, des Anderssein und nicht Anderssein-Wollens, die Verzweiflung über das eigene Leben.
 
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