Sage und schreibe

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Danke, Scal, für das Lob, in dem ich mich zum Teil wiedererkenne, zum anderen Teil aber nicht. Ich werde mich künftig noch mehr bemühen, deinem Bild zu entsprechen.

Freundliche Grüße
Arno Abenschön
 
XLVII. Die Grünen und die Nachrüstung damals (Originaltagebucheintrag vom 24.11.83)

"Anfang der Woche dann die traurigen Tage, da in Bonn vollzogen wurde, was in Washington längst beschlossen war, die Zustimmung zu neuen Raketen, die Krieg und endgültige Zerstörung unseres Landes einen großen Schritt näher rücken lassen. Ich habe eine Reihe von Beiträgen aus der Debatte im Rundfunk gehört. Ein grüner Abgeordneter stellte am Dienstagabend fest, die Abstimmung sei ja keineswegs eine freie, da sie in der amerikanisch besetzten Zone stattfinde. Worauf sich empörte Pfuirufe erhoben. Selten ist im Bundestag ein Wort mit mehr Wahrheitsgehalt gefallen. Vielleicht ist dies auch der Ansatzpunkt für eine langfristige Änderung unserer Lage: dass sich immer mehr Bürger bewusst werden, dass sie keineswegs in einem freien Land, sondern in einer amerikanischen Militärkolonie mit beschränkter innerer Selbstverwaltung leben. Wenn es dazu kommen sollte, dass die Masse der Intelligenz diesen Zustand als unhaltbar und unerträglich empfindet und dies bei jeder Gelegenheit aus-spricht, wäre viel gewonnen. Die Fiktion wäre zerstört, die Propaganda auf die Massen von geringerer Wirkung. Den Amerikanern und ihren Statthaltern bliebe die Wahl, mit der Fiktion auch die Macht fahren zu lassen oder die Macht ohne Fiktion aufrechtzuerhalten, was den Widerstand erheblich stärken müsste. Fraglich nur, ob uns genügend Zeit für diesen Prozess bleibt."

Nur noch schwer vorstellbar vierzig Jahre später ... Es lässt sich gewiss in den Bundestagsprotokollen nachlesen.
 

petrasmiles

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Schon erstaunlich: Diese politisch korrekten Beißreflexe gab es wohl schon immer; aber man bedenke, dass die Grünen, 1980 geründet, 1983 erstmals in den Bundestag eingezogen waren (und 1990 scheiterten sie an der 5 % Hürde ... weiß alles Widipedia). Da waren sie noch die Underdogs.
interessant, Dein Tagebuch. Ich habe noch nie so konkret über Ereignisse in mein Tagebuch geschrieben ... außer über Tschernobyl.
 
Ich habe noch nie so konkret über Ereignisse in mein Tagebuch geschrieben ... außer über Tschernobyl.
Petra, das Politische lief bei mir im Tagebuch immer mit als eines der Hauptnebenthemen. Diese Stelle hier habe ich nicht gesucht, sondern bin heute zufällig bei ganz anderer Recherche (unpolitisch) darauf gestoßen und habe sie dann spontan wegen ihrer Relevanz für aktuelle Diskussionen der mehr oder weniger geneigten Leserschaft zu präsentieren gewagt.

Tschernobyl? Da muss ich gleich mal nachsehen ... Ich weiß aber noch, dass ich ein oder zwei Tage später in Hamburg einen Nachtzug nach Wien bestieg und durch das geöffnete Fenster von draußen diesen Kommentar zu hören bekam: "Da fahren sie alle rein in die Atomwolke!"

Liebe Grüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Petra, das Politische lief bei mir im Tagebuch immer mit als eines der Hauptnebenthemen. Diese Stelle hier habe ich nicht gesucht, sondern bin heute zufällig bei ganz anderer Recherche (unpolitisch) darauf gestoßen und habe sie dann spontan wegen ihrer Relevanz für aktuelle Diskussionen der mehr oder weniger geneigten Leserschaft zu präsentieren gewagt.

Tschernobyl? Da muss ich gleich mal nachsehen ... Ich weiß aber noch, dass ich ein oder zwei Tage später in Hamburg einen Nachtzug nach Wien bestieg und durch das geöffnete Fenster von draußen diesen Kommentar zu hören bekam: "Da fahren sie alle rein in die Atomwolke!"

Liebe Grüße
Arno
Ich bin eigentlich kein ängstlicher Mensch, aber ich erinnere mich als sei es gestern gewesen - nie - oder zumindest selten - hatten wir Ostwind in Düsseldorf, immer Westwind. Es stürmte und donnerte in der Stadt und der Wind brachte die giftigen Wolken. Ich habe auf dem Klodeckel im fensterlosen Bad meiner Studentenbude gehockt und geheult - da hat mich etwas ganz Archaisches angefasst und ich hatte ein Gefühl des Bestraftwerdens der Menschheit für ihre Hybris. Wegrationalisieren kann man das nicht. und sind es nicht eigentlich diese Gefühle, die auch bewirken, dass man sich mit dem Rest der Menschheit in einem Boot sitzt - und daraus so etwas wie Solidarität entsteht, ich meine, echte Solidarität, keine politisch verordnete ...

Liebe Grüße
Petra
 
diese Gefühle, die auch bewirken, dass man sich mit dem Rest der Menschheit in einem Boot sitzen fühlt - und daraus so etwas wie Solidarität entsteht,
Verzeih, Petra, dass ich beim Zitieren in deinen Kommentar hineinredigiert habe ... Dieses Bewusstsein ist mir nicht fremd, allerdings wurde es bei mir nicht durch die diversen Havarien geweckt, sondern durch die starke Militarisierung meiner weiteren Heimat in meiner Kindheit und Jugend. Da war am Himmel ständig Krieg. Die permanenten extremen Tiefflüge über Rheinland-Pfalz und dem Saarland schärften dieses Bewusstsein und hielten es wach. Und wenn ich in der Pfalz rund um Kaiserslautern unterwegs war und auffällige bauliche Veränderungen an Waldhügeln bemerkte, war gleich die Frage da: Lagern da auch Atomwaffen, bestimmt für Leningrad und Moskau, so wie auf der anderen Seite die für uns bestimmten liegen? Heute lebe ich auf dieser anderen Seite des damaligen Eisernen Vorhangs und registriere, in wie hohem Maße die weitere Umgebung von Berlin militarisiert und gerade auch mit Atomwaffen bestückt war - und dann frage ich mich: Wollen wir dahin zurück, in diese Situation unaufhörlicher wechselseitiger Drohung mit totaler Vernichtung? Da hast du mein Gefühl für gemeinsame Gefährdung und das Bedürfnis nach Solidarität. Von wegen Parallelwelt (siehe oben) - wir leben alle in derselben Welt. Es ist die Büchel-Welt.

Trotzdem gute Nacht
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Gerne reinredigieren lassen - und so erfahrbar machen lassen, dass es unterschiedliche Weg zum gleichen 'Ziel' gibt.
Habe Büchel googeln müssen, verstehe - ein 'Fliegerhorst' in Rheinland-Pfalz ...

Dir auch!
LG Petra
 
XLVIII. Neue Nachtgedanken (1987)


Ich hatte einen Traum, wachte auf und hatte den Traum schon vergessen. Ich weiß nicht, warum ich dann die Toten zu zählen begann - keine beliebigen Toten, sondern meine Toten, Menschen, die ich gekannt hatte und die inzwischen gestorben waren. Es waren viel mehr als ich vermutet hätte: siebenunddreißig zählte ich – und da hörte ich erst einmal auf: Für jedes Jahr einen Toten, ich bin ja jetzt siebenunddreißig. Ich machte mir klar, dass ihre Gesamtzahl immer größer werden muss, solange ich noch lebe. Wenn ich lange genug existiere, dürfte sie eines Tages diejenige meiner noch lebenden Freunde, Feinde, Bekannten übersteigen. Nach dieser Einsicht verging mir die Lust auf weiteres Rechnen. Es kam mir so vor, als hielten jene Toten am nächtlichen Himmel draußen eine Versammlung ab, als ob sie sich zusammengetan hätten, um dort auf mich zu warten. Ich spürte einen Sog, der von ihnen ausging. Waren sie am Ende sogar gestorben, um mich vereinnahmen zu können? Lebte ich nur noch, um eines Tages unter ihnen zu sein? Das Warten auf mich verband sie, verwischte alle Unterschiede zwischen ihnen, die ich zu ihren Lebzeiten gemacht hatte. Diese Toten waren meine Feinde. Ich riss mich von den Gedanken an sie los, um weiterschlafen zu können. Übrigens habe ich noch nie einen Toten gesehen.

Oft sind mir die Toten auch bei Tag lästig. Wer von ihnen mir nahe stand, scheint mit seinen Alltagsgesten und -empfindungen in meinem Kopf überlebt zu haben. Die Nachricht von seinem Tod ist vielleicht einer Infektion vergleichbar, die Kavernen im Hirn zurücklässt. Wenn nach Jahren mein Schmerz verschwunden ist und ich die Toten selbst nicht mehr vermisse, breiten sich in diesen Hohlräumen Erinnerungen an banale Äußerlichkeiten aus, an äußere Formen, Gesten, Zufallsbemerkungen. So höre ich etwa Peter, der vor drei Jahren an Aids gestorben ist, in mir mit seinem Wiener Akzent reden. Er kommentiert heutige alltägliche Ereignisse, indem er bloß damals Gesagtes wiederholt. Ich kaufe Pfirsiche, die statt saftig nur wässerig schmecken – dazu Peter: „Recht gschmackig san’s ned.“ Bei welcher Gelegenheit hat er es ursprünglich bemerkt? Ich weiß es nicht mehr.

Oder ich unterhalte mich im Büro mit dem Kollegen am Schreibtisch gegenüber. Er nimmt jetzt den Platz von Frau *** ein. Fünf Jahre saß sie dort, wurde manisch-depressiv und brachte sich nach zwei Jahren in der Psychiatrie um. Heute stelle ich im Gespräch mit ihrem Nachfolger an mir den gleichen abgeklärten und - ich finde keinen besseren Ausdruck - begütigenden Tonfall fest, den sie selbst vor Ausbruch der Krankheit immer mehr perfektionierte. Es geht jetzt um ganz andere Themen und doch höre ich mich dabei reden wie sie damals.

Apropos Depressionen: Bis vor kurzem habe ich mich selbst davor gefürchtet. Natürlich fürchte ich mich auch vor Aids. Seit ich jedoch im Radio gehört habe, dass das Virus die Nervenzellen befallen und lang anhaltende Depression ein frühes Symptom der Erkrankung sein kann, hat meine Stimmung sich schon sehr gebessert. Ich will und kann mir dadurch beweisen, dass ich noch gesund bin ...

Proust sagt irgendwo – und ich finde die Stelle jetzt wie üblich nicht -, dass die Toten nur in den Köpfen der Überlebenden weiterexistierten. Allerdings stellt er in einem anderen Zusammenhang davon abweichende Vermutungen an, wenn ich mich recht erinnere. Wohin gehen wir also, wer kann es wissen? Dazu hörte ich neulich in einer Buchbesprechung Bedenkenswertes. Aus einem Werk, betitelt „Physik und Transzendenz“, zog der Rezensent den Schluss, dass es Wirklichkeiten ohne raumzeitliche Dimension geben könnte. In diesem Fall erübrigten sich sogleich die Fragen nach dem Woher vorher und dem Wohin nachher. Diese Begriffe existierten dann nicht mehr. Das leuchtete mir ein.

Meine Toten werden auch nicht älter, sie haben keine Entwicklung. Über sie zu schreiben, hat keinen Anfang und kein Ende. Die Toten sind in uns, aber sie altern nicht mit uns. Sie sind vielleicht doch nicht nur in uns und das könnte die Furcht vor ihnen erklären, die ich unmittelbar nach jenem Traum empfand.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

ich habe manchmal den Eindruck, dass unsere 'Toten' eine Manifestation sind von etwas in uns.
Als ich relativ nah nach dem Tod meiner Mutter meinte, ihr Gesicht in einer Menschenmenge auszumachen, war das ein irrer Gefühlscocktail, aber nicht überraschend und leicht erklärbar.
Aber so wie Du die Erinerungsfetzen beschreibst, tauchen auch bei mir manchmal Bilder von Menschen aus meiner Vergangenheit auf und ich denke, dass etwas an der Situation, die ich erinnere, sich bei mir eingebrannt hat wegen etwas Besonderem, vielleicht, weil man jemanden mochte und meinte, etwas Wesenhaftes entdeckt zu haben. Es ist gut möglich, dass diese Menschen mittlerweile nicht mehr leben, aber ich weiß es eben nicht.

Aber das ist sicher etwas anderes als Deine Erinnerungen an Menschen, die tatsächlich Todesgefahren ausgesetzt waren und für Dich nachvollziehbar tot sind. Aber ich glaube nicht, und dass meine ich zu Deiner Beruhigung bzw. Deines Protagonisten, dass sie eine eigene Wesenheit haben, die über unsere Neuronen hinausgehen. Es sind die Themen, die uns beschäftigen, die die Bilder hervorholen.
Aber als Geschichte ist Deine Lesart besser.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, Petra, für deine Anmerkungen. Ja, die Gedanken und Bilder im Kopf des Protagonisten sind solche, die er unmittelbar nach einem Traum in jenem Zwischenzustand des Bewusstseins hatte. Es sind nicht die nüchternen Überlegungen, die man bei Tag anstellen kann. Damit will ich mich als Verfasser aber nicht herausreden oder davonstehlen ...

Ich habe gerade gestern erstmals überhaupt die Lektüre des erwähnten Buches "Physik und Transzendenz" abgeschlossen. Es ist eine Sammlung von Aufsätzen und Reden von Planck, Einstein, Schrödinger, Niels Bohr, Pascual Jordan, Heisenberg und noch einigen weiteren Physikern. Thema: Welchen Einfluss hatten Relativitätstheorie und vor allem Quantenphysik auf das Weltbild dieser Forscher? Um ein Bild zu gebrauchen: Sie scheinen sich mir alle von der klaren Küste des Beurteilens, wie sie ihre Vorgänger noch vor Augen hatten, entfernt zu haben, sind hinausgerudert ins Großartig-Nebulöse - nur bei dieser speziellen Problematik, nicht auf ihrem Fachgebiet! Insgesamt fühle ich mich nach der Lektüre sowohl erleichtert als auch ein wenig enttäuscht, indem nämlich bestätigt in meiner bisherigen Tendenz zum Agnostizismus.

Einen schönen Montagmorgen
Arno
 
XLIX. Mein stärkster Eindruck in Paris

Balzac lese ich jetzt nach Jahrzehnten erstmals wieder, angeregt neulich vom Blogger Gerhard Mersmann. Er bezog sich in seinem Text ausdrücklich auf „Verlorene Illusionen“. Inzwischen begleite ich Lucien de Rubempré zum dritten Mal durch Paris und wenn die Namen von Straßen oder Plätzen auftauchen, frage ich mich: Sagen sie dir etwas? Woran erinnerst du dich überhaupt?

Zwar liegt mein Aufenthalt in Paris schon Jahrzehnte zurück, dennoch enttäuscht es mich, wie wenig an Erinnerungen im Gedächtnis vorhanden ist. Ich überfliege die knappen Notizen von damals und stelle resigniert fest: Es werden keine Bilder in dir lebendig. Wir sind fünf Tage lang viel in der Stadt herumgegangen und jetzt lese ich, auf dem Père-Lachaise sind wir zufällig auf Balzacs Grab gestoßen. Ich glaube mich undeutlich zu erinnern, wie wir von dort auf die tiefer gelegene Stadt geschaut haben. Mein Verdacht: Ich erinnere mich eher an Fotos von Grab und Friedhof, Reproduktionen in Büchern, die ich später gelesen habe.

Und kein Wort in jenen Notizen über die kleine Zufallsbegegnung, die die einzige und Jahrzehnte überdauernde Erinnerung ausgelöst hat! Wie oft hat mir seitdem die an sich triviale Szene vor Augen gestanden …

Wir waren wieder einmal stundenlang durch die Straßen gelaufen. Vielleicht war es der Tag, an dem wir die berühmten Kaufhäuser besichtigten. Das Wort „Printemps“ klingt leise in mir nach. Wahrscheinlich waren wir auch in den Galeries Lafayette. Als wir dann in der Nähe der großen Bahnhöfe im Norden waren, musste ich pissen. Es lag nahe, das WC im Bahnhof aufzusuchen. Ich weiß nicht einmal mehr, ob es die Gare de l’Est oder die Gare du Nord war, aber ich spüre noch immer, wie verdutzt ich war, beim raschen Durchqueren des Pissoirs ein mir aus Berlin vertrautes Gesicht zu entdecken.

Wir verkehrten einige Jahre in derselben Disco und ich hätte nie gewagt, mich ihm zu nähern. Er war auf eine Abstand gebietende Weise schön. Cesare Pavese, den ich viel später lesen sollte, hat seinen Typ hier und da beschrieben: blond, löwenmähnig, löwenköpfig. Er war also attraktiv und war immer distinguiert aufgetreten und ich nun einfach baff. Offensichtlich interpretierte er das Wort Bedürfnisanstalt anders, als ich es immer tat. Ja, er war dort auf der Jagd. Er, der mich in Berlin stets ignoriert hatte, nahm mich in Paris sehr deutlich wahr. Ich machte, dasss ich fortkam, um eine „verlorene Illusion“ reicher.

Mache ich mich, indem ich das so beschreibe, vielleicht harmloser, naiver, als ich damals tatsächlich gewesen bin? Zu meiner Entlastung: Rasch niedergeschrieben ist es an einem Silvesterabend. Immerhin hat es mich den monotonen Dauerlärm ein, zwei Stunden leichter ertragen lassen.
 

petrasmiles

Mitglied
Ich glaube mich undeutlich zu erinnern, wie wir von dort auf die tiefer gelegene Stadt geschaut haben. Mein Verdacht: Ich erinnere mich eher an Fotos von Grab und Friedhof, Reproduktionen in Büchern, die ich später gelesen habe.
Lieber Arno,

gesundes neues Jahr wünsch' ich!

Das mit den Erinnerungen ist so eine Sache. Vielleicht widersprächen mir da Hirnforscher, aber mir will scheinen, dass wir individuell speichern, was wir sahen. Bei mir ist es definitiv eine Verknüpfung mit Emotionen, warum ich mich an das Grab Balzacs erinnere - ich fand es nämlich beschämend nichtssagend, teilweise renovierungsbedürftig in der Einfassung und mit irgendwelchem Bauabsperrmaterialien 'verziert'. Ich dachte noch, bei den Parisern liegen so viele erinnerungswürdige Gebeine herum, da hat das einzelne nicht mehr so viel Gewicht. (Meine Reise ist aber auch erst zwölf Jahre her.)
Um so überraschter war ich, als wir in einer U-Bahn-Station - ich weiß nicht mehr, welche - auf eine überlebensgroße Plastik Balzacs stießen. Sie war allerdings so hoch im Verhältnis zum Bahnsteig, dass diese Ehrung auch wieder 'ungelungen' erschien - oder war das meine ignorante Meinung und der Alltags-U-Bahn-Nutzer bekam so seinen Balzac täglich übergroß präsentiert?

Und offensichtlich waren es auch bei Dir Emotionen, und dann noch mit einem Gefälle von erinnerter 'Größe' und realem Erleben.
Es ist schon komisch, wie tolerant man wirklich ist. Ich werde z.B. nie vergessen, dass George Michael wegen seiner Besuche dieser 'Örtlichkeiten' mit dem Gesetz in Konflikt geriet und man danach regelrecht Jagd auf ihn machte. Es könnte mir doch wirklich egal sein, wie er sein Sexualleben gestaltete, aber irgendwie scheint das 'übermenschlich' zu sein, da wirklich den eigenen Messbecher außen vor zu lassen, und so habe ich einen leisen Schauder, wenn ich ihn in den rauf und runter gespielten Konzertmitschnitten sehe.

Ob Dein erinnertes Unbehagen naiv ist? Das glaube ich nicht. Ich glaube sogar, dass in solchen Momenten wir etwas sehr Wesentliches über uns selbst erfahren, selbst dann, wenn wir es nicht einordnen können.

Schön, dass Du diesen Faden immer weiter bestückst.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, liebe Petra, fürs Mitteilen deiner Gedanken. (Wünsche dir ebenfalls einen erfreulichen Verlauf des Neuen Jahres.)

Ja, das dürfte schon so sein, dass die Emotionen bei der Wahrnehmung eine Wertigkeit schaffen, die sich zur Gänze erst nach und nach auswirkt. Anders wäre es nicht zu erklären, dass gegenüber all den vielen reichen Eindrücken von Paris ausgerechnet etwas an sich Banales die Oberhand gewinnt, das ebenso in Hannover oder Mannheim vorgefallen sein könnte. Ich hatte immer schon eine starke Aversion gegen diese Art von Kontaktsuche und nun betrieb sie ausgerechnet einer, der eine Zeitlang so etwas wie ein unerreichbares Idol gewesen war. (Ich war um die zwanzig, als ich ihm zuerst begegnete.)

Vor den Tagen in Paris waren wir damals knapp zwei Wochen in Saint Malo, an das ich eine Reihe von persönlichen Erinnerungen touristischer Art habe. Woraus allerdings kein Text hergestellt werden könnte, dessen Niederschrift mich reizen würde.

Balzac dürfte, was enttäuschende Dichtergräber angeht, keine große Ausnahme sein. Unsere Beziehung zu Autoren beruht auf Mitgeteiltem, also Wortreichem, und Gräber sind ihrem Wesen nach hermetisch, also verschwiegen. Manchmal wird der Versuch unternommen, dem abzuhelfen, indem ein mehr oder weniger passendes Zitat auf den Grabstein eingemeißelt wird. Das führt zwangsläufig zu stark verengtem Blickwinkel auf den Verstorbenen.

Liebe Grüße aus Berlin
Arno Abendschön
 
XL. Aufzeichungen aus dem Spreewald (April 2023)

1.

Gestern erster großer Tagesausflug nach Brandenburg für dieses Jahr. 15 km gewandert und viele neue Eindrücke. Ich fuhr bis Vetschau und ging dann in großem Bogen – unterwegs viele Spezialkulturen unter Folie, so auch massenhaft Erdbeeren - nach Suschow. Dass ich dort falsch abbog, war sogar von Vorteil – ich kam so zum Wiesenteich, dessen Größe, Ruhe und reiche Vogelwelt imponierend sind. Das gilt auch für die Stradower Teiche. Am Anfang von Burg Kolonie Picknick auf einer Bank. Bald darauf ein Storchenpaar auf seinem Masthorst an der Straße aus größter Nähe gesehen. Dann zum Kurfürstendamm und den Südumfluter entlang. Noch einmal Pause auf einer Bank vor Burg Dorf mit Blick auf den Ort. So herrlich die parkartige Landschaft ist, so wenig ansprechend die meisten alten Bauerngehöfte. Sie lassen nur ausnahmsweise eigenen regionalen Stil erkennen, sind meist stilloses Gemisch aus unterschiedlichsten Materialien und Bauformen. Es wurde immer wieder saniert oder erweitert, wie man es gerade hinbekam, ohne Gespür für ästhetische Wirkung. Es mag auch an mangelnder Ertragskraft der Gehöfte liegen. Im Sommergrün verschwinden die meisten Gebäudeteile ohnehin weitgehend für den Vorbeifahrenden oder -gehenden.

Burgs Hauptstraße und Zentrum sind unangenehm verkehrsreich und laut. Ich nahm den Bus nach Cottbus, staunte unterwegs über den Bau der Universitätsbibliothek und hatte rasch Anschluss nach Berlin, ging hier gleich im Ring Center essen. Ich will jetzt öfter in die Lausitz.


2.

Trotz sehr kühlen Wetters gestern nach Lübben gefahren, dann weiter mit dem Bus bis Straupitz und von dort quer durch den Spreewald: Burg-Kauper, Leipe, Raddusch (18 km). Es war noch viel ergiebiger als die Tour vor zwei Wochen. Die Straupitzer Kirche ist so bombastisch wie schön. Die vielen Wasserläufe, die man überquert ... Man sieht so viel mehr, wenn man nordsüdlich unterwegs ist im Vergleich zu west-östlich. Meine Mittagsrast hielt ich am Burg-Lübbener Kanal (Waldschlösschenschleuse). Diesmal waren mehr alte Gebäude zu sehen. Unübersehbar auch die zahlreichen großen Rinderherden auf den Weiden mit zum Teil markerschütterndem Gebrüll einzelner Tier, sich immer wiederholend. In den vermoorten Flächen stand das Wasser nun sehr hoch. Ein Rind war beim Abfressen der Grasbüschel tief mit allen vier Beinen eingesunken. Noch nie so viele Kälber gesehen wie gestern. Und sie sind fast immer neugierig auf den vorbeigehenden Menschen. Erwachsene Kühe schauen einen nur ausnahmsweise an, dann aber oft mit großer Ausdauer. Man kann sich von ihnen hypnotisiert fühlen. Die Radduscher Buschmühle, noch so ein originelles und schönes altes Bauwerk. Auf ihrem Grund steht eine uralte Magnolie dicht am Kanal (Südumfluter), die gerade reich blüht.

Es mag sein, dass mir bei noch besserem Wetter, zumal in den Sommermonaten, der Andrang der Ausflügler und Urlauber zu groß sein würde. Gestern fand ich es gut erträglich.
 

petrasmiles

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Lieber Arno,

ich liebe Reiselitatur und Deine Aufzeichnungen sind für mich so wertvoll wie Expeditionsberichte aus dem Dschungel.
Bitte mehr davon.

Liebe Grüße
Petra
 
Deine Aufzeichnungen sind für mich so wertvoll wie Expeditionsberichte aus dem Dschungel.
Und dabei sind die Aufwendungen dafür bedeutend geringer, Petra ... Das vergangene Jahr war das erste seit gut fünfzig Jahren, in dem ich ohne Ausnahme jede Nacht daheim war. Das wäre mir früher eine Horrorvorstellung gewesen, nun fand ich es ganz angenehm.

Danke für deine Reaktion und eine Gute Nacht
Arno Abendschön
 
LI. Beim Stöbern in alten Papieren

(Vorangegangener Eintrag # 155 irrtümlich mit XL bezeichnet, korrekt L)

Tagebucheintrag 1997

Heute Vormittag die Abstellkammer gesäubert. Dort liegen die alten Tagebücher, ich las dann mehrere Stunden in ihnen. Dieser Blick in die Vergangenheit ruft bei mir vor allem eines hervor: Trauer, die beinahe zur Verzweiflung wird. Welche Massen von Material: wozu? Wie selten die Augenblicke glücklich gesteigerten Lebensgefühls waren. Es gab also Momente reinen Glücks? Nur sie können eine Ahnung rechtfertigen, dass die Vergangenheit nicht vollkommen vergeblich war und etwas geblieben ist. Ich sollte die Aufzeichnungen systematisch durchgehen und noch mehr solche Bruchstücke aufspüren. Worin sie bestanden, weiß ich doch schon: Harmonie, Versöhnung. Ja, in all dem Schutt stecken Fragmente, die mich anhaltend trösten werden, solange die eigene Existenz fortdauert. Aber der Rest, der Rest! Mit wie vielen Menschen hatte ich Umgang! Und an wie viele denke ich mit Freude und Dankbarkeit? Was mich auch tröstet: dass das Gefühl für den Unterschied zwischen dem Wertlosen und dem Beglückenden so eindeutig und klar war und noch ist. Vielleicht ist das ein Hinweis auf ein insgeheim intaktes Wertesystem – dem ich so oft nicht gefolgt bin. Dabei häufen sich in den Aufzeichnungen mit den Jahren die Zeugnisse klarer Selbsterkenntnis und die Versprechen auf Besserung. Ich nehme Neurasthenie und Leidenschaftlichkeit wahr – eine problematische Kombination.


Tagebucheintrag 2023, nach einem Vierteljahrhundert des Textspeicherns und -verarbeitens

Es ist jetzt so vieles belastend. Das gilt selbst für die letzten Korrekturen am Dokument Briefe. Es war weniger bedrückend, mehr als tausend Briefe im Lauf von Jahren einzugeben, als jetzt in einer halben oder ganzen Stunde einige Dutzend von ihnen zu überfliegen. Wie viel Leid und Vergeblichkeit dabei im Zeitraffer an einem vorbeirasen! Schwer auszuhalten als ein Kondensat der Jahrzehnte. Mein spezielles Arbeitsethos dabei und bei so vielen anderen Tätigkeiten war immer die Zukunftsperspektive. Mir war wichtig, an etwas zu Bewahrendem mitzuarbeiten oder etwas der Kultur hinzuzufügen. Ich ging von deren Fortbestand und allmählicher Hebung aus, das war die Grundvoraussetzung von Leben und Arbeit nach meinem Verständnis. Und gerade dieser Ansatz - soll man ihn progressiv oder humanistisch nennen? - ist in der Krise der Gegenwart schon tief erschüttert worden.







 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

trotz der 'Verzweiflung', die Du 1997 erwähnst, atmet dieser Eintrag doch so etwas wie Pläne voranbringen.

Demgegenüber scheint 2023 wirklich sehr betrübt und als würde ein Vorrat an Hoffnung zur Neige gehen.
Aber das sollte eigentlich nicht so sein.
Ich habe einen älteren Bruder (Jg. 1955), der sich sehr an diesen Idealtypen orientierte, wie der Mensch zu sein hat, wie er Regeln einzuhalten hat, und war immer erstaunt - und auch verletzt - wenn diese nicht so agierten. Nicht nur im näheren Umfeld, sondern auch in Politk und Kultur und was nicht alles. Vielleicht war er mein abschreckendes Beispiel, dass man das eigene Wohl und Wehe nur aus sich selbst heraus entwickeln kann und nicht brauchen darf, dass die Welt so handelt, wie sie sollte. Vielleicht habe ich dadurch Übung darin, im Zweifelsfalle den Dingen, die mir wichtig sind, meinen eigenen Wert beizumessen - auch, wenn ich als Kind tatsächlich glaubte, der Mensch sei da, um sich weiter zu entwickeln, immer mehr wissen, immer besser verstehen - und im Grunde auch besser sein. Ich habe dann dieses Streben in mir selbst verankert.

Jeder schöpferische Mensch hat in den reifen Jahren zumindest Gedanken daran, was bleibt, für wen und wofür.
Aber im Grunde tun wir das alles für uns selbst, indem wir unseren Überzeugungen folgen - auch der Vater, der Firma, Haus oder Hof regeln will, möchte einen Widerhall in die Zukunft setzen. Ob dieser Widerhall tatsächlich entsteht, kann und darf den Vater nicht bekümmern, sondern der Akt selbst ist es, der die Sinnhaftigkeit hervorbringt.

Ich hoffe sehr, dass dieser Eintrag von 2023 eine Art Zwischentief war, denn wir leben definitiv in hysterischen Zeiten, aber auch das wird sich ändern und vielleicht erleben wir das sogar noch. Was wir tun - und warum wir es tun - muss darunter nicht leiden.
Wie heißt es so schön: Es ist erst vorbei, wenn die dicke Frau aufsteht und singt (- und das habe ich endlich mal gegoogelt und herausgefunden, dass es wohl eine britische Redensart ist und sich auf Wagners Brünnhilde bezieht, die am Ende der 16-stündigen Oper ein 10-Minuten-Solo hat ...)

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, liebe Petra, für die Hilfestellung bei meinem Wiederaufrichten oder Wahren des Gleichgewichts. Das Folgende würde ich in normalen Zeiten zunächst auch so sehen können:

sondern der Akt selbst ist es, der die Sinnhaftigkeit hervorbringt.
Nur dass eben ein solcher Akt und sein Ergebnis nicht aus dem Nichts entstehen, sondern in einem Ursachenzusammenhang, der über den Urheber hinausweist, und dass sie danach ein Schicksal haben können, das wiederum auch in einem Gesamtzusammenhang steht. Dieser Verlauf kann z.B. im Extremfall dazu führen, dass die Krise der Zeit eine Sinnhaftigkeit zunichte macht. Die Befürchtung, dass es so kommen könnte, bekümmert jetzt doch gerade viele Zeitgenossen. Daher die Modewörter Zeitenwende und Resilienz.

Ich denke schon, dass wir alle an einem Punkt stehen, an dem die bewährten Rezepte der Selbstmotivation sich als illusionär und entwertet herausstellen könnten. Übrigens sind das nur Gedanken und Gefühle, die unsereins in seinem privaten Tagebuch notiert. Wie und aus welchen Motiven man weiterhin handelt, steht auf einem anderen Blatt.

Gute Nacht
Arno
 



 
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