Sage und schreibe

4,50 Stern(e) 6 Bewertungen
Petra, zunächst meinen Dank für den Opern-Link. Nach einem Video mit Gesamtaufführung hatte ich früher schon erfolglos gesucht und bin sehr glücklich über den Tipp. Werde in den nächsten Tagen alles in Sequenzen gern anhören.

Ja, den Unterschied im Bewusstsein der beiden Briefvernichterinnen habe ich mir bisher nicht genügend klar gemacht. Das sehe ich jetzt auch so.

Bei den frühesten Erinnerungen kann man den Akzent so oder so setzen, entweder auf das rein subjektive (ichbezogene) Erleben des kleinen Menschen oder auf die soziale Bedeutung, die es für ihn annimmt. Vielleicht gehört zu Letzterem doch schon ein klein wenig (Früh-)Reife.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Vielleicht gehört zu Letzterem doch schon ein klein wenig (Früh-)Reife.
Das sind Erklärungen, die sich der Erwachsene 'hinterher' gibt, aber das Gefühl entstand damals - dieses Eindringen der anderen in die eigene Wahrnehmung. Ich glaube, dass ich deshalb auch so gerne alleine bin, weil ich da wirklich 'ich' sein kann. In Gesellschaft wird bei mir immer ein Motor angeschmissen, der die Wahrnehmung streut ...
LG Petra
 

petrasmiles

Mitglied
XXXII. Von Haupt- und Nebensachen I Die menschliche Gattung hat offenbar das Bedürfnis, ein kollektives Archiv ihrer Erfahrungen anzulegen. Nur in diesem allgemeinen Zusammenhang erkenne ich Sinn im Schreiben.
Lieber Arno,

ich bin mir nicht sicher, dass ich Dir da zustimmen kann ... wobei ich Dir auch nicht widersprechen möchte.
Und doch sehe ich es anders.
Zum einen glaube ich nicht, dass das kollektive 'Wissen' dem absichtsvollen Archivieren entspringt. Sondern umgekehrt wird ein Schuh draus: Der Aufnehmende kann weitergeben, aber der Weitergeber hat bedeutend weniger EInfluss auf die Kette als der Aufnehmer. (Klingt jetzt ein bisschen nach Henne/Ei, aber vielleicht verstehst Du, was ich sagen will.)
Zum anderen sehe ich als einzige Quelle des Schreibens - und damit auch den Sinn darin - den Drang zum Selbstausdruck. Ich sehe bei den Menschen die unterschiedlichsten Eigenschaften in den unterschiedlichsten Ausprägungen, aber nur dieser Gestaltungswille wird dazu führen, dass wir etwas erschaffen oder dokumentieren. Ich kenne viele, viele Menschen, die im Leben nicht auf die Idee kämen, Tagebuch zu schreiben, oder überhaupt sich hinzusetzen und über etwas zu reflektieren - und sei es ein Artikel aus der Tageszeitung. Sie sind nicht dümmere oder schlechtere Menschen, aber sie spüren diesen Drang einfach nicht. Und mit zunehmender Uninteressiertheit an größeren Zusammenhängen - wie ich es den unter 40jährigen unterstelle - wird die Zahl der 'Wissenwoller' immer kleiner. Ich fürchte, genau zu dem Zeitpunkt, an dem nie so viel Bildungsmöglichkeit war, beginnt die Degeneration, der Überdruss, die Umkehr ins Blöde - weil man ja nur wissen muss, wo's steht. Ich sehe da keinen Drang der Gattung, sondern immer nur Einzelner.
Aber: Hauptsache, es passiert!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
XXXIV. Von Haupt- und Nebensachen III
(7) Manche wollen Liebe überhaupt für eine Illusion erklären. So weit gehe ich nicht. Ich frage mich nur: Handelt der Liebende tatsächlich jemals gegen seine eigenen Interessen? Ist Liebe wirklich kein Geschäft? Das Charakteristische dieser Liebe-an-sich-Diskussion ist, dass in ihr Liebe zu einem abstrakten Begriff wird, losgelöst von den Umgebungen, in denen sie auftritt. Dabei ist dieser Zusammenhang das Entscheidende: Sie tritt gar nicht rein auf, sondern immer in einer Legierung, in ständig wechselnden Mischungsverhältnissen mit einer Vielzahl anderer Motive, z.B. körperliches Bedürfnis, ästhetisches Vergnügen, Herrschsucht, soziales Geltungsbedürfnis, Versorgungsstreben usw. Wenn Liebe jedoch nie für sich allein existiert, sondern als ein Gefühlszustand definiert werden kann, der sich in den unterschiedlichsten Situationen auf nicht restlos aufzuklärende Weise einstellt, dann frage ich mich: Welchen Wert haben Aussagen über die „Macht der Liebe“?
Lieber Arno,
Du sprichst hier nicht von Liebe, sondern von Beziehung, und wenn ein Mensch zwischen seinen Gefühlen und seinen übrigen Motiven nicht unterscheiden kann, dann liebt er (in dem Moment) nicht, weil Liebe Reife verlangt: Eben nicht nach dem begehrenswertesten, unterwürfigsten, reichsten oder den Partner mit dem meisten Sozialprestige zu streben. Da ist man nur bei sich. Der einzige Grund, warum man neben dem eigenen Drang den eines anderen gelten lässt, und ihn nicht nur gelten, sondern auch 'den Vortritt' lässt, ist die Liebe. Wir spalten uns auf in ein 'Wir'-Ich und ein 'Ich'-Ich, und das eine kann ohne das andere nicht mehr gedacht werden. Die Macken des anderen sind dann ebenso ok, wie die eigenen und die Stärken kommen beiden zugute. Das ist die Grundlage. Und auch, wenn man über alles mögliche und Unwichtige streitet und der Alltag piesackt, und die Zahnpastatube ... das ändert nichts an der Grundlage, dass die Belange des anderen mindestens so wichtig sind, wie die eigenen. Das ist die eigentliche Macht der Liebe: Der freiwillige Verzicht auf das Durchsetzen der eigenen Belange aus Wertschätzung für die des anderen. Wie es dazu kommt, ist eine andere Geschichte.
LG Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Das Thema mit der Liebe hat mich nicht losgelassen - ich glaube, die Urform der Liebe ist die Mutterliebe. Mit ihr kam die Liebe in die Welt. Aber wie der Mensch so ist, aus allem wird unter dem Zivilisationsdruck ein Ideal, eine Regel, etwas, was so zu sein hat - und sich damit in sein Gegenteil verkehren kann. Das Ideal ist aber nicht der Ursprung, sondern die aktive 'Selbstlosigkeit' in Bezug auf das Leben, das man geschaffen hat. Und mit der erfahrenen Liebe kann man diese Fackel weiter in die Welt tragen, die noch nie ein guter Ort für Selbstlosigkeit war, sondern schon immer den Rücksichtslosen belohnt hat.
Aber auch die Mutterliebe ist Schwankungen unterworfen, nicht in allem 'selbstlos' - weil sie eben von einem komplexen Menschen gelebt wird. Vielleicht ist es nicht viel mehr als dieser Impuls, dieses hilflose Wesen, das aus einem weiblichen Bauch schlupfte, als etwas zu begreifen, das zu mir gehört, für das ich Verantwortung trage, mit dem ich meine Ressourcen teile.
Und vielleicht ist es auch nur dieser Funken, der die Menschenliebe erzeugt und an viele Objekte und Subjekte sich erneut entzünden kann - die Liebe zur Kunst, zur Natur, die Freundesliebe. Und vielleicht muss man diesen Funken erfahren haben, damit uns diese Fähigkeit aufgeschlossen wird.
Aber das ist ein weites Feld mit vielen, vielen Faktoren - es eignet sich nicht zur Analyse oder Sinnsuche, nur zum SInnieren. Ich halte es mit Nena: 'Liebe ist'.
Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra, danke für so viele Anregungen und Einwürfe. Ich kann nur punktuell darauf eingehen.

Das Archivieren als Ausdruck kollektiven Bestrebens sehe ich sozusagen phylogenetisch begründet. Wenn dieses Verhalten zwar in unterschiedlichen Formen, doch in allen Hochkulturen auch unabhängig voneinander nachzuweisen ist, scheint mir da eine Grundlage vorhanden, die über den "Drang zum Selbstausdruck" einzelner Individuen hinausweist. Der von mir verwendete Begriff "kollektives Archiv ihrer Erfahrungen" bezog sich nicht nur aufs Schreiben, sondern auf jede Form von Überlieferung.

In deinen Überlegungen zum Begriff Liebe sehe ich eine ähnliche Tendenz zum Herauslösen eines Phänomens aus seinem Zusammenhang. Mir scheint, da wird ein Begriff erst verabsolutiert und als Gegensatz zu anderen aufgefasst (z.B. zu Beziehung), um ihn danach als etwas wesentlich Anderes und letztlich Übergeordnetes zu betrachten. Im folgenden Kommentar gehst du dann auf dieser Straße noch einen Schritt weiter, indem du Mutterliebe als etwas Ureigenes, ganz Ursprüngliches erklärst, von dem dann sich so vieles herleitet.

Wir werden und sollen uns hierüber nicht einigen, daher fasse ich mich auch kurz. Mir scheint, da wird ein grundlegender Unterschied im Denken sichtbar. Was mich betrifft, so frage ich eher nach Querverbindungen als nach Ursprüngen und Ableitungen. Als Agnostiker untersuche ich am liebsten assoziativ, reihend und erfahre die Welt als etwas in allem Zusammenhängendes, ohne mir eine Hierarchie aufbauen zu wollen.

Diese speziellen Tagebuchnotizen hier sind bearbeitete Stellen aus Briefen von mir. Zu den Ausfällen gegen die "Macht der Liebe" veranlasste mich die häufige unreflektierte Berufung eines Briefpartners darauf. Ich möchte dieser Formel etwas anderes entgegenstellen, den Begriff "Allsympathie", verwendet von Thomas Mann in "Felix Krull". Gerade eben stieß ich in einem Text des Berliner Ensembles über jenen Roman auf ein Mann-Zitat: War das zentrale Thema im frühen Krull die „Psychologie der unwirklich-scheinhaften Existenzform“ in Gestalt einer parodistischen „Wendung des Kunst- und Künstlermotivs“, ist in der Spätphase die „Grundidee des Romans nichts Geringeres als die Liebe in ihrer sinnlichen Übersinnlichkeit“, wie Thomas Mann in seinem Tagebuch 1951 festhielt. So weit gespannt lasse ich mir den Begriff gefallen.

Schöne Abendgrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

da scheinen wir uns tatsächlich manchmal auf anderen Planeten zu befinden. Ich hätte jetzt nicht gedacht, dass ich - zumindest eher als Du - begrifflich Hierarchien aufbaue, aber ich kann nachvollziehen, wie Du zu dem Schluss kommst. Das würde tatsächlich den Rahmen sprengen, wollten wir das hier vertiefen.

Gute Nacht und liebe Grüße
Petra
 
XL. Von Haupt- und Nebensachen X

(22) Wenn es um lokale und regionale Identität geht, nehme ich viel Nicht-Exaktes und oft auch Ahistorisches wahr. Je länger die alten Zeiten her sind, umso weniger Kenntnisse haben die dort Beheimateten von den früheren tatsächlichen Abgrenzungen und Einwirkungen. Die Begriffe verschwimmen und wandeln sich, werden willkürlich oder schlicht falsch gebraucht. Im Internet hat mal eine junge Frau einen sehr dürftigen Text über „Saarländisch“ veröffentlicht, gemeint war der Dialekt, für sie eine genau bestimmte einheitliche Sprache. Da bin ich ihr in die Parade gefahren, Saarländisch gebe es gar nicht, dafür Rheinfränkisch (bei uns zu Hause) und Moselfränkisch und beide unterschieden sich beträchtlich. Die Antwort war nur beleidigtes Schweigen. Noch ein Beispiel: Die Tourismuswerbung hat es geschafft, der „saarländischen“ Küche starke französische Einflüsse aus der Geschichte anzudichten – aber keine Spur! Herkömmlich ist eine eher bescheidene Arme-Leute-Kost ohne Raffinesse. Nur die sehr gehobene Gastronomie kennt heute französische Küche, wie fast überall in Deutschland.

Das sind alles Versatzstücke einer Pseudoidentität, so ähnlich wie die Sachen, die man in den Bau- und Gartenmärkten für drinnen oder draußen kaufen kann: rustikal, mediterran usw. Wir leben in einer Zeit des Neohistorismus, das hat mit der Postmoderne angefangen. Käufliche Stilmasken, die mit echter Identitätsbildung wenig zu tun haben. Interessant ist auch zu sehen, wie die Medien so etwas prägen. Besonders deutlich ist es an den 3. Fernsehprogrammen. Sie haben alle ein Bild von der jeweiligen regionalen Identität, die sie aber zum großen Teil erst selbst schaffen. Die Moderatoren wie die Reporter werden danach ausgewählt, ob sie in Sprache und Gemütsausdruck diesem Klischee entsprechen. Die in Berlin sind immer wendig, voller Sprachwitz, bohrend, unbestechlich und grundehrlich – die Hamburger reserviert, etwas dröge und vor allem überaus seriös. Ganz schlimm, was sie mit den Niedersachsen im Programm ganz allgemein machen: alles Dorfdeppen, aber mit goldenem Herz, und sie neigen zu kindischen Späßen. Das Üble ist, dass diese Muster sich allmählich tatsächlich ausbreiten. Die Fiktion, ursprünglich bestenfalls stark verzerrte Teilrealität, wird zur realen Normalität. Wer die 789. Aufzeichnung aus dem Ohnsorg-Theater gesehen hat, reagiert ganz automatisch so wie diese Schießbudenfiguren. Der Mensch ist nicht nur, was er isst, er ist auch, was er im Fernsehen immer wieder gesehen hat.

Manche glauben, dass sich nur an der Oberfläche alles angeglichen habe und in den tieferen Schichten die Traditionen dennoch weiterlebten und sich im Verhalten Ausdruck verschafften. Ich denke, dass die Zusammenhänge komplizierter sind, dass die Identität der Person sich heute vor allem aus dem sozialen und materiellen Status sowie der individuellen Bildung ergibt und dass die Gruppenidentität überwiegend eher kulturell vermittelt als noch ursprünglich vorhanden ist. Gerade weil die realen Lebensverhältnisse innerhalb einer Schicht sich landesweit und noch darüber hinaus so stark angeglichen haben, gibt es ein sekundäres Bedürfnis nach kultureller Differenzierung. Der Konsument will nicht bloß Konsument, die Arbeitskraft nicht bloß Arbeitskraft sein, und aus diesem Gefühl des Unbefriedigtseins erwächst das Bedürfnis, mehr zu sein – und dann geht die Suche los im Warenhaus der Identitäten und Mentalitäten. Die einen werden Esoteriker, die anderen Traditionalisten. All das hat etwas Zufälliges und Willkürliches. Sein Spiegelbild hat es im Äußeren der Eigenheimsiedlungen der letzten dreißig Jahre. Was für eine groteske Mischung der Stile und Bauformen, ein kategorischer Individualismus aus der Fabrik - grauslich.

Das Thema könnte mich endlos beschäftigen. Dabei weiß ich, dass ein Einzelner es nicht objektiv zu Ende bringen kann, da er immer an den ablaufenden Prozessen beteiligt ist. Es ist nur natürlich, dass ich diese Einschätzungen so vornehme – schließlich habe ich in meinen jungen Jahren einige radikale Brüche vollzogen. Meine Eltern haben es nie akzeptiert, dass ich weggegangen bin, und meine Mutter hat mir noch am Schluss (bevor wir endgültig auseinanderkamen) vorgeworfen: Du hast keine Heimat! Womit sie nicht so falsch lag. Heimat hat es für mich immer nur im eigenen Kopf gegeben, und es bezeichnet für mich bloß ein Mosaik diverser positiver Bilder, die man sich hier und da verschafft hat und bei sich aufbewahrt. Lassen wir es damit bewenden. Nur zum Abschluss noch ein Wikipedia-Zitat über Stuttgart: Der Ausländeranteil lag 2016 bei 25,2%. 44% der Einwohner Stuttgarts hatten einen Migrationshintergrund. (Ohne die auch zugezogenen Nord- und Ostdeutschen!) Wie traditionell kann da Mentalität überhaupt noch sein?
 
XLI. Verteilte Rollen – Von Rezensenten und Followern

Es gibt Autoren, die unter Pseudonym Bücher veröffentlichen und sich unter ihrem bürgerlichen Namen auf Internet-Plattformen glänzende Rezensionen schreiben. Noch weiter verbreitet das Gegenteil: Buchveröffentlichung unter Klarnamen und Lobeshymne unter Pseudonym, beides aus einer Hand. Davon ein besonders krasser Fall, vor Jahren von mir entdeckt: Buchautor X installiert im Lauf der Jahre an einer Vielzahl von Stellen im Netz einen gewissen Y (den es gar nicht gibt). Y bleibt die meiste Zeit im Sparmodus, ab und zu mal ein kurzer Kommentar ohne viel Substanz, keine eigenen Sachen, bis auf Buchrezensionen von X. Zur Hochform läuft Y nämlich auf, wenn X mal wieder ein neues Buch veröffentlicht hat. Das geht bis in die Onlineausgaben großer Zeitungen. X ist in der Literaturszene gut vernetzt und staubt auch schon mal Preise ab. So kommt man zu was … Ich war misstrauisch geworden, gab bei Google beide Namen zusammen ein und nach längerer Suche fand ich in einem kleinen, wenig bekannten Blog ein Gespräch von X mit Z publiziert. Dort ist es ihm rausgerutscht: Als sein eigener fiktiver Pressesprecher Y habe er, X, dies und das getan … Der Kerl ist auf diese Manipulationen sogar stolz. Ich habe überlegt, was ich nun mache. Ergebnis: gar nichts. Skandal! zu rufen, würde ihm nur zusätzliche Reklame bringen. Nur Finger weg von solchen Figuren.

Ein anders gelagerter Fall aus der obskuren Szene: Ich glaubte einmal N.N. dabei erwischt zu haben, wie er mich plagiierte. Unter seinem Namen schien er von einer meiner Buchrezensionen eine Kurzfassung in verschiedenen Blogs veröffentlicht zu haben, ohne jeden eigenen Gedanken. Es war dieselbe Abfolge der Details und es waren zum Teil sogar identische Formulierungen nicht ganz alltäglicher Art. Da stellte sich mir die Frage, ob er das Buch überhaupt selbst gelesen hatte. Ich recherchierte im Netz und siehe da – der Gedanke, dass er unmöglich alles, was er kurz und oberflächlich bespricht, selbst gelesen haben kann, kam auch anderen. Einer sprach von Tausenden von Werken, die er auf nur einer Plattform innerhalb weniger Jahre rezensiert hatte. Er müsse also, wurde boshaft vorgerechnet, pro Tag drei bis vier Bücher und pro Stunde ca. 300 Buchseiten bewältigt haben. All das amüsierte mich nur, es war mir auch kein Schaden entstanden. Inzwischen sind dort ein paar Tausend weitere Besprechungen von ihm zu lesen. Und sein Profil weist Follower auf, die im derzeitigen deutschen Geistesleben sehr hoch angesiedelt sind. Kaum zu glauben ...
 

John Wein

Mitglied
mies! ganz mies!
Nun verlasse ich mich beim Bücherkauf nicht auf Rezensionen, die sind heutzutage meistens so aussagekräftig, wenn man zwischen und hinter den Zeilen liest. wie 5sternige Lobeshymnen im Hotel und Gaststättengewerbe.
Ich verlasse mich entweder auf persönliche Ratgeber oder auf meine Erfahrung.
Gruß, John
 
Richtig, John. Die beiden Fälle an sich sind wohl symptomatisch. Auch bei Produkten anderer Art (Technik, Hausgeräte) wird viel geschummelt. Es gibt sogar Agenturen, die gegen Geld günstige Bewertung vermitteln. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland hat das neulich mal anhand eines durchgeführten Probelaufs aufgedeckt. Zu bedenken sind natürlich auch absichtlich geschäftsschädigende Negativrezensionen und -bewertungen, z.B. bei Restaurants und Geschäften.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
XLII. Über Literaturforen

Für mich ist dieses neue Phänomen, dass Hunderttausende bienenfleißig Literatur produzieren und sie im Internet kostenlos lesen lassen, zunächst einmal eine Sache der Massenkultur von heute. Da ist etwas zwischen Hoch- und Alltagskultur entstanden, dessen weitere Entwicklung noch nicht einzuschätzen ist. Irgendwann werden Soziologie und Literaturwissenschaft das näher untersuchen, einordnen und bewerten. Bis dahin hüte ich mich, mir aus meinen nicht seltenen Frustrationen (als Leser wie Autor) ein negatives Gesamturteil zu bilden. Ich erkläre mich selbst für befangen, habe nicht genügend Übersicht und sehe doch manches Positive an der Entwicklung. Sie bedeutet auch mehr Teilhabe, individuelle Selbstverwirklichung usw. Sie hat nicht nur die neuen technischen Möglichkeiten zur Basis, sondern auch ein allgemein gestiegenes Bildungsniveau. Und: Offenbar haben heute genügend Leute genügend Zeit dafür übrig. Diese Literaturinflation und Entprofessionalisierung scheinen mir Aspekte eines größeren Zusammenhangs zu sein. Es läuft im Kern auf die Frage hinaus, die man einem von der Piraten-Partei einmal entweder in den Mund gelegt oder die er wirklich so formuliert hat: Warum soll der Künstler von seiner Kunst leben? Und der Autor vom Schreiben und der Artikelverfasser vom Veröffentlichen? Journalisten und Berufsschriftsteller sehen das gern sehr verkürzt. Tatsächlich ist historisch gesehen der Zusammenhang zwischen Produktion und Bestreiten des Lebensunterhaltes nie so eng gewesen. Wer sich durchsetzte, tat dies um 1800 häufig auf der Basis von Mäzenatentum oder sonstiger Protektion (Pfründe, Ämter - z.B. Lessing, Sterne, Moritz). Um 1900 finden wir aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten materiellen Entwicklung auffallend viele schreibende reiche Erben (z. B. Proust, Gide, Karl Kraus).

Es scheint mir überhaupt problematisch, die Gegenwart an der Vergangenheit zu messen. Wir alle haben einen Kanon im Kopf, der sich erst nachträglich herausgebildet hat und der die Breite von damals nicht widerspiegelt. Mag sein, dass Gegenwart und Zukunft zum Kanon nichts mehr beitragen, da die Verhältnisse sich grundlegend geändert haben. Wäre das denn ein Unglück für die Gesellschaft, für die Kultur? Davon bin ich nicht überzeugt. Und es kann nicht ausschlaggebend sein, dass der Einzelne in einer solchen Massenkultur noch viel weniger Aussicht auf Ruhm oder Nachruhm hat. Man kann die obige Frage umformulieren: Warum soll ein Künstler (Autor, Filmemacher usw.) bekannt / berühmt / erfolgreich werden? Hat die Gesellschaft was davon oder wenigstens er selbst? Letztere Frage zu bejahen, erscheint allzu selbstverständlich. Man sollte stattdessen die Möglichkeit eines gerade ablaufenden größeren kulturellen Umbruchs in Erwägung ziehen. Ich kann mir recht gut eine Zivilisation vorstellen, in der fast alle auf irgendeine Weise kreativ sind und damit auch öffentlich werden, in der es aber keine individuelle Größe und Bedeutung mehr gibt. Das Selbstverständnis der meisten heute Kreativen (oder ihre Wunschvorstellung) ist ein bisschen anachronistisch. Es bezieht sich auf eine Situation, die es kaum noch gibt: herausragende Stellung aufgrund überragender Leistung. Sollen sie doch zufrieden sein, zu ihrer Lebenszeit an einem kulturellen Prozess beteiligt gewesen zu sein. Natürlich gibt es noch immer den kommerziellen Erfolg, im Wechselspiel von Marketing und glücklichen Zufällen. Nun, wer damit glücklich wird, falls er Glück gehabt hat ... Bloß mal ein Beispiel für das, was ich meine: Neulich ein Video entdeckt: „Katze löst Druckerproblem“ – das ist so komisch wie Loriot und viel witziger als alles vom ollen Heinz Ehrhardt, es kostet aber gar nichts und Hunderttausende haben es sich angesehen und der Macher ist weder berühmt noch reich geworden.

Wenn man aber schon Vergleiche zieht, so fallen sie nicht nur zugunsten der Zustände von früher aus. Auch die Professionalität von damals hat ungeheure Mengen an Minderwertigem hervorgebracht. Ich weiß noch, wie enttäuscht ich immer war, wenn am Beginn eines Schuljahrs für Deutsch ein neues Lesebuch angeschafft wurde. Und war denn die Trivialliteratur von früher, die die Leser käuflich erwarben, wirklich besser als die Gratisprodukte heute im Internet – ich glaube nicht. Man kann sich über unendlich Vieles in der Gratiskultur ärgern oder lustig machen, sie bietet uns jedoch auch Zugang zu vielem durchaus Bereicherndem. Wie immer bin ich fürs Differenzieren. Wer sie sucht, findet auch im Internet mitunter hohe Qualität, eingestreut in und vermischt mit Mittelmaß und Trash. Außerdem unterscheiden sich die einzelnen Literaturforen und –blogs stark voneinander.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

das sind interessante Gedanken - und ich stimme Dir sehr zu.
Einerseits die Fragwürdigkeit, die Vergangenheit (romantisierend) zum Maßstab zu nehmen und auch die Gedanken zur Kostenlos-Mentalität.
Ich glaube, es hängt auch mit der Kommerzialisierung der Kunst zusammen und das Anspruchsdenken der in diesen Zusammenhängen Sozialisierten. Da mir Schreiben immer Selbstausdruck war und ich nie erwog, vom Schreiben zu leben (wenn ich auch ein wenig neidisch auf diejenigen blickte, die 'Erfolg' haben), ist mir ein Verdienst gleichgültig. Mir ist eher wichtig, Resonanz zu finden und ein bisschen auch, verstanden zu werden. In gewisser Weise sind wir hier alle Kulturschaffende und ja, das ist bestimmt interessant zu ergründen.
Kunst muss dann geschützt werden, wenn man erst einmal viel investieren muss, um sie zu schaffen wie z.B. bildnerische Kunst oder Filme, über die bloße Zeit hinaus, die man hineinsteckt.
Aber ich denke, mit der kostenlosen Variante geht ein anderes Lesebedürfnis einher. Wenn ich z.B. durch die Leselupe spaziere, gilt das Überraschungsmoment also die Neugier; ich suche nicht gezielt nach Vergnügen oder Erhellung, sondern genieße, was ich vorfinde und der Prozess steht im Vordergrund, was ein Text mit mir macht. Wenn ich aber ein bestimmtes Vergnügen, oder eine bestimmte Belehrung suche, dann bin ich auch bereit, dafür zu zahlen, weil ein bestimmter Autor mir dieses Vergnügen oder diese Erkenntnis verschafft.

Das mit dem Kanon ist so eine Sache. Ich finde es wichtig zu wissen, welchen Prozess Sprache, Gesellschaft, Literatur durchlaufen hat, wann sich Veränderungen ergaben und wie es sich auswirkte - und welche Wechselwirkungen bestanden. Man muss das alles nicht mehr lesen. Ich habe einen Band der Erzählungen Thomas Manns (*1875) gelesen und fand nur eine wirklich gut. Demgegenüber habe ich Romane von Hilde Spiel (*1911) gelesen und bin begeistert wie frisch sie sich liest. Gerade quäle ich mich mehr schlecht als recht durch die Erzählungen Hesses (*1877) ; ich bin im vierten Band angekommen und so langsam ist mal etwas Lesbares dabei. (Stichwort Kommerzialisierung: Ich wage die These, dass notfalls die Einkaufszettel eines arrivierten Literaten zwischen Buchdeckel gepresst wurden - oder eben die ersten misslungenen Versuche ...) Würde ich heute noch Fontanes Balladen kennen hätte ich sie nicht in der Schule gehabt? (Dabei erscheint mir Fontane (*1819) 'jünger' als Mann!)
Würde ich hier vielleicht einer Ballade begegnen, die alles Gelesene in den Schatten stellt?
Ein weites Feld :)

Liebe Grüße
Petra
 

Scal

Mitglied
Hallo Arno,

der Titel für Deine recht interessanten und mit einer gewissen Besonnenheit formulierten Betrachtungen lautet hier "Literaturforen". Sind es wirklich Hunderttausende, die sich kreativ darin tummeln? Ich bin nicht so im Bilde.
Deine Erwägungen sind sehr lesenswert!

Lieben Gruß
Scal
 

petrasmiles

Mitglied
Wie das manchmal so ist - ich ordne gerade Zeitungsausschnitte - ich kann mich schlecht trennen von Texten, die ich gut fand (als blieben sie bei mir, wenn ich sie greifen kann) - aber manchmal müssen sie auch aussortiert werden.
Und da fiel mir eine Rezension von Arno Widmann in die Finger über das Buch von Frank Berger: Das Geld der Dichter in Goethezeit und Romantik (Kramer, Wiesbaden 2020). Ich habe Arno Widmann* sehr verehrt und mich immer über seine Artikel gefreut - selbst, wenn der Gegenstand mich nicht interessierte, war seine Herangehensweise immer lesenwert. Ein wirklicher Könner des Feuilletons. Ich spreche in der Vergangenheitsform, weil er nicht mehr für die Berliner Zeitung schreibt und ich ihn nicht mehr 'täglich' lesen kann bzw. wenn, nur als Gastautor. Eigentlich gehört er zur Frankfurter Rundschau und schrieb über die DuMont Redaktionsgemeinschaft auch in der Berliner Zeitung. Wobei die Texte wohl gleichzeitig in Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau erschienen, aber das wusste ich damals nicht.

Wenn man sich klar macht, dass erst 1837 ein Urheberrecht in Preußen und im Norddeutschen Bund entstand - auf Betreiben der Verlage! - dann kann man leicht nachvollziehen, dass man mit der Autorenschaft allein nicht reich werden konnte, sondern man Gönner brauchte, in Staatsdienst seinen Lebensunterhalt verdiente oder im Dienst der Kirche: "Das Fazit von Frank Bergers Untersuchung der Autorenhonorare um 1800 ist sehr schnell gezogen: Schreiben war vor der Durchsetzung des Urheberrechts kein Erwerbszweig. Hatte man Glück, machte man sich dadurch einen Namen, der einen zu Ämtern und Würden verhalf. Die wiederum ermöglichten den so Beschenkten das Schreiben. Das war das Lebensmodell der Klassiker. (...) Die aktuellen Versuche, am Urheberrecht vorbei jedem jeden 'content' zur Verfügung zu stellen, mögen der Highway in die digitale Zukunft sein, sie sind aber auch der in die Abschaffung des freien Autorentums. (...) Erst mit der Figur des freien Autors hat die öffentliche freie Meinungsäußerung eine eigene Institution gefunden."** Was natürlich zahlende Leser voraussetzt. Und er zitiert den Journalisten Paul Sethe (1901-1967): "Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten." MIttlerweile seien es deutlich weniger Leute. Und am Ende zieht er sein Fazit, dass diese Institution gerade radikal umgeworfen würde: "Dabei geht nicht nur der freie Autor über Bord. Wir werden Ausschau halten müssen nach Stellen, wo er wieder auftauchen könnte."***


*"Geboren 1946 in Frankfurt am Main, war 1979 bei der Gründung der taz dabei, dann stellvertretender Chefredakteur der deutschen Vogue, Chefredakteur der taz, Feuilletonchef der Zeit, Chef der Meinungsseite der Berliner Zeitung, Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau und Mitglied der DuMont Redaktionsgemeinschaft. Jetzt arbeitet er als Autor." (https://www.fr.de/autoren/9334/)
** Berliner Zeitung 09/10. Mai 2020 Seite 9.
*** Ebd.
 
Meinen Dank für die zwischenzeitlichen Wortmeldungen. Petras Hinweis auf die zum Teil erheblichen Investitionen in Medienproduktion bzw. in die eines Kunstwerks lässt mich einsehen, dass tatsächlich auch heute nicht alles gratis sein kann. Gerade die Filmherstellung ist ein gutes Beispiel mit ihrem Material- und Personalaufwand.

Scals Bedenken gegen die von mir genannte Größenordnung ("Hunderttausende") erscheinen auch berechtigt. Allerdings: Legt man den ganzen Zeitraum seit Eröffnung der ersten Literaturforen zugrunde, dürften schon sehr ansehnliche Autorenzahlen zusammenkommen. Ich rechne mal so: Wir haben an die 100 Millionen deutsche Muttersprachler und diese Möglichkeit der Publikation gibt es seit gut 25 Jahren. Es müsste also jeder Tausendste im Verlauf dieses Vierteljahrhunderts einen oder mehrere Texte online publiziert haben, dann hätten wir schon 100.000 beisammen. Und es kommen ja laufend neue Gratis-Autoren dazu ...

Zu Arno Widmanns Befund. Er stellt das Historische richtig dar, scheint mir allerdings den Begriff "freies Autorentum" etwas unkritisch zu verwenden. Wie frei war denn der bezahlte Autor im späteren 19. und im 20 Jahrhundert? Zumindest die zahlenmäßig größere Gruppe der Journalisten war ganz überwiegend im Angestelltenstatus ökonomisch abhängig. Und die freien Autoren konnten es sich sehr oft auch nicht leisten, es mit den zahlenden Abnehmern ihrer Produkte zu verderben. Widmann scheint mir wieder einmal ein wenig in der Materie herumzurudern. (Diesen Eindruck hatte ich im Lauf der Jahre zunehmend.) Er entwirft ein negatives Zukunftsszenario und unterfüttert es mit einem Sethe-Zitat, das sich auf die Vergangenheit bezieht und die Pressekonzentration zum Thema hat, die aber nur mittelbar Einfluss auf den Grad von Freiheit eines Textproduzenten hat. Den letzten zitierten Widmann-Satz unterschreibe ich dann wieder. Ja, halten wir Ausschau nach diesen Stellen ... Wir werden sie dort finden, wo das Ökonomische von der Produktion radikal entkoppelt ist.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

Du bist ein bisschen streng mit Arno Widmann. Natürlich hat er diese relative Unfreiheit des 'freien Autoren' thematisiert - ich kann ja nicht alles wiedergeben was er schrieb und der Aspekt schien mir sehr offensichtlich. Aber er bleibt im Ungefähren und Abstrakten und verteidigt den Begriff, das theoretische Konstrukt des freien Autors - und da sehe ich eine Parallele zu meinem Denken: Es jongliert sich leichter im Abstrakten und das Gedachte anhand von Fakten zu verifizieren, ist 'uns' zu mühselig - vielleicht verstehe ich ihn deshalb so gut - und das ist das, was Dich stört :)
Ja, halten wir Ausschau nach diesen Stellen ... Wir werden sie dort finden, wo das Ökonomische von der Produktion radikal entkoppelt ist.
Da wären wir wieder bei den Literaturforen. Ich finde z.B. Fees Gedichte großartig und könnte sie mir gut vorstellen als gedruckte Lyrikerin, aber es sind die ökonomischen Prozesse - um nicht zu sagen Hürden - die dies verhindern. So gesehen gibt es nur eine Art freier Autoren, nämlich die, die unabhängig von ihrer Bezahlung produzieren.
Und einen Aspekt haben wir noch gar nicht betrachtet: Dass man auch anders zahlen kann als mit Geld, nämlich mit Daten bzw. Beeinflussbarkeit, da erscheint 'kostenlos' ganz schön eingeschränkt. Und die letztlich auch staatliche Durchdringung des digitalen Raums mit dem Zwang zur Selbstentblößung fängt gerade erst an. Ich sehe schon wieder Männer und Frauen in großen Mänteln heimlich ihre Pamphlete an Straßenecken anpreisen 'Psst, willst'n Gedicht?' :)

Liebe Grüße
Petra
 

Scal

Mitglied
frei .....unabhängig von ...

Die gerne Schreibenden, Dichtenden haben - seit einigen Jahrzehnten - vermehrt die Möglichkeit, sich freier und unabhängiger dem Sich-mitteilen-Wollen zu widmen. Das Verlangen, sich im sogenannten allgemeinen "Literaturbetrieb" einhausen zu wollen, ist verständlich, aber geht zumeist auch mit allerlei "Nebenwirkungen" einher, die die innere Unabhängigkeit oft beschneiden. So mein persönlicher Eindruck (war befreundet mit einem inzwischen verstorbenen Schriftsteller, der (nach einigen Preisen) stets mit Einkommensnöten zu kämpfen hatte und sich deshalb - unfreiwillig - mancherlei Kompromissen unterwarf).
 
XLIII. Frühsommerwanderung


In Erkner ist der Anschlusszug weg, also gehe ich gleich los Richtung Wald, quer durch die Stadt. Sie lebte mal von der Teerdestillation und war so mit all den Gerüchen auch zum Kurort prädestiniert. Klingt wie ein Märchen aus alten Tagen, genauer: aus Gerhart Hauptmanns Zeiten. Kam Hauptmann mit seinem Bluthusten nach Erkner, um auch Asphaltdunst zu inhalieren? Er schrieb hier „Bahnwärter Thiel“ und „Vor Sonnenaufgang“. Ich passiere die Villa, in der er mit der kleinen, wachsenden Familie als Dauerpensionsgast vier Jahre lang lebte. Da ist jetzt das Gerhart-Hauptmann-Museum, das ich nachholen könnte, wenn es nicht für Jahre geschlossen wäre.
Dann bin ich im angenehm schattigen Wald, komme gut voran. Linkerhand ab und zu die Löcknitz. Der Maler Leistikow hat das Tal geliebt, es oft besucht und auch gemalt. Er war mit Hauptmann befreundet und brachte sich um, als die Syphilis ihm immer mehr zusetzte. Wie viel besser wir es heute haben, dank Fortschritt usw. Haben wir das?
Ich raste auf einer Bank an der Brücke von Klein Wall. Die Löcknitz gibt sich Mühe malerisch zu wirken, unterstützt von blauen und roten Libellen und schwarzen Schmetterlingen. Blickwechsel mit einer roten Libelle, die auf meiner Wanderkarte gelandet ist. Sie starrt aus Facettenknopfaugen herüber, bewegt sich dabei nicht. Weiter auf breitem Waldweg nach Hangelsberg …
Unterwegs überquere ich die endlich fertiggestellte zweite Ferngasleitung. Weit von Nordosten kommt sie her … Das war jahrelang Deutschlands längste Baustelle, wie oft hat sie mich beim Wandern zum Ausweichen gezwungen. Jetzt liegen die Rohre in der Erde, es wächst Gras drüber. Man versichert uns, eine andere als die ursprünglich gedachte Funktion sei gegeben oder werde sich finden. Kein Märchen aus unseren Tagen!
Zu früh in Hangelsberg, als dass ich schon nach Berlin zurückfahren möchte. Ich suche eine Bank am Spreeufer und vielleicht gibt es nur diese eine, die ich gefunden habe. Sie steht vereinsamt da und ich gebe sie für eine Stunde nicht mehr frei, so schön ist der grün gerahmte Blick in die Landschaft: zwischen Bäumen am Fluss die Felder drüben, ein Wald dahinter und ein Fischreiher fliegt ab und zu durch das Bild. Er bewegt sich, wie es scheint, immer nur wohl überlegt, verharrt in hoher Position, stößt dann in einer wie präzis berechneten Flugbahn hinab aufs Wasser, ruhig, zielsicher und punktgenau. Ich verscheuche eine Assoziation.
Die Bank steht leicht erhöht auf der Kante, die hier Hochufer zu nennen übertrieben wäre. Ich kann das Wasser von oben vorüberfließen sehen, in ihm losgerissene Pflanzenteile, Fragmente von Strünken, sogar ein treibendes Seerosenblatt. Sanfte Wellen werden nur sporadisch sichtbar. Ich sehe stattdessen einen Wasserkörper, der sich als Ganzes in mäßigem Tempo ungeteilt flussabwärts schiebt: Allegro moderato, auf Berlin und das Ende zu, die Mündung in die Havel. Die Spree hat hier in Hangelsberg die gerade richtige Wassermenge und Strömungsgeschwindigkeit, um im Betrachter kontemplatives Wohlgefühl auslösen zu können. Er will gar nicht mehr fortgehen.
Heute ist der 31. Mai, Omas 126. Geburtstag. Lebte Oma noch, wäre ich jetzt der einzige Enkel der ältesten Frau der Welt. Zeit, zum Bahnhof zu gehen.
 



 
Oben Unten