XLVI. Fern - unfern von Berlin
Die Bushaltestelle liegt mitten im Wald und heißt Deponie. Ich lasse diesen künstlichen Berg links liegen und biege rechts ein, um einen richtigen zu überschreiten. Schon nach zweihundert Metern seine größte Attraktion: eine gefasste Quelle und davor ein rundes Becken mit Goldfischen. Die Fische werden nervös, als ich am Rand erscheine, teilen sich in zwei Haufen, beruhigen sich und kommen wieder zusammen. Der einsame Pfad führt dann steil hinauf. Auf ihm kommt mir eine junge Frau entgegen, deren Begleiter, ein angeleinter Jagdhund, sich vor meinem Anblick so fürchtet, dass er nicht weiter will. Wir lösen das Problem, indem ich mich an den Rand stelle und sie ihr widerstrebendes Tier vorbeizerrt. Von oben habe ich einen Ausblick über eine kleine Ebene und zwei weitere Höhenzüge. Man könnte sich beinahe in einem deutschen Mittelgebirge wähnen.
Steil auch wieder hinab und durch ein kleines Dorf mit sehr altem Kirchturm aus Feldsteinen; das viel jüngere Schiff harmoniert nicht mit ihm in Material oder Gestalt. Ich streiche den Aufstieg auf den nächsten Hügel, da der dorfnahe Weg, den die Karte noch zeigt, unter einem Acker verschwunden ist. Im nächsten Ort könnte man mich auf einer Bank am kleinen See sitzend den Mittagsimbiss halten sehen. Man schenkt mir jedoch keine Beachtung, der Straßenverkehr rauscht vorbei, zweimal unterbrochen von Martinshornklang.
Der nächste Aufstieg ist länger. Es geht nur durch Wald und es gibt keine Begegnungen; verlassen der neue stählerne Aussichtsturm. Auch ich will nicht hinauf, ich scheue diese Konstruktionen, wo man auf Außentreppen durch Drahtgitter in die Tiefe blicken muss. Es kommen am Weg dann zwei Riesenfindlinge. Ihre Benennung verwirrt zunächst. Der kleinere von ihnen ist der Große Stein und der größere der Kleine Stein. Letzterem wurde vor zwei Jahrhunderten so viel Substanz entnommen, wie nötig war, um daraus eine hübsche Schale für ein Berliner Museum zu formen. Ich raste kurz, trinke aus meiner Wasserflasche und plane das Weitere. Auf in den formidablen Kurort da unten! Auf dem noch längeren und dafür sanfteren Weg abwärts bekomme ich selten Menschen zu Gesicht, Wanderer in die Höhe, und ein Radler klingelt mich von hinten zur Seite.
Je öfter ich Bad Neureichenhausen besuche, umso mehr fremdele ich mit ihm. Dort riecht es ein bisschen nach Hautevolee, nach viel Geld, nach Spekulation. Es herrscht der schlechte gute Geschmack und so ertrinken allmählich die Villen der ersten Generation, detailreich und landschaftsbezogen, unter dem Ansturm von massiertem Bauhaus-Weiß. Am Ende des sehr großen Sees dräut, auch ganz in Weiß, als anachronistisches Zwillingspaar ein Luxushotel. Nivellierend-entstellend saniert ist der Altbau, verbunden durch eine tiefer gelegte Kauleiste mit dem Prachtkerl von Neubau daneben. Ich denke an die Auslage eines Zahnlabors und gehe rasch tiefer in den Kurpark hinein. Er ist bevölkert von Menschen wie ich - Zaungästen. Ich suche mir die hinterste Bank und knuspere wieder etwas aus dem Rucksack.
Diesmal wandere ich weiter hinaus in den Vorort, den ich noch nicht kenne. Unterwegs denke ich über ein Phänomen nach: In den kleinen Städten Ostdeutschlands sind oft gerade die bürgerlich-wohlhabendsten Straßen nach historischen Größen des Marxismus benannt: Rosa Luxemburg, Karl Marx, Ernst Thälmann … Seltsam. Die Straße hier parallel zum See ist sehr lang und gerade, der Baubestand so heterogen wie seine Gesamtwirkung monoton. Einige Male sind am sonst privatisierten Strand kleine Grünflächen am Wasser ausgespart zur öffentlichen Nutzung. Das sieht nach Notbehelf aus oder nach Alibi, ich gehe gleich weiter. Entgegen kommt mir unternehmenden Schrittes eine Greisin in Weiß und Hellrosa, eine Kombination von Strand- und Abendkleid für zwei Uhr nachmittags, der Saum gefährlich nahe dem Boden – auf dem ich immer wieder Stolpersteine zum Gedenken an die ersten Bewohner der Villenkolonie entdecke.
Endlich draußen am wirklichen Stadtrand. Gewöhnliche Wohnblocks, ein Discounter, noch ein paar kleine Geschäfte. Hier wird nicht repräsentiert, ich atme auf. Vor dem Bahnhof – Endstation der kleinen Seitenbahn - flattert ein später Admiral, seltener Anblick in diesem Kriegs- und Katastrophenjahr. Noch zwanzig Minuten, bis der Zug kommt. Ich habe von meiner Sitzbank einen exquisiten Blick ins Grün neben dem Gleis, auf prachtvolle Bäume, eine einzelne sehr alte und mächtige Kiefer, eine Wand aus vier hohen, breiten Zitterpappeln mit Tausenden von Blättern, die synchron erzittern, eine fremdländische Fichte mit sehr dicht gewirktem Zweig- und Nadelwerk. Eine Katze jenseits des Bahnkörpers fängt seelenruhig an sich zu putzen.
Nächstes Mal fahre ich gleich hierher und dringe tiefer ins Hinterland vor.