Sage und schreibe

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John Wein

Mitglied
Lieber Arno,
Eine Wanderung durch die „Mark Brandenburg“. Schön sprachlich bebildert. Ich hab’s gern gelesen.
LG John, (der Wanderer)
:cool:
 
Danke, John Wein. Wer weiß, vielleicht hast du mich sogar bei der Verarbeitung des Materials ein wenig beeinflusst ... Ist dann aber nicht bewusst geschehen. Man nimmt so viele Eindrücke auf.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
Danke, Petra. Schön, dass du wieder da bist. Was ich bei der Niederschrift vergessen habe und in den Wäldern dort gerade immer wieder in den Blick gerät: sehr ausgedehnte Maiglöckchenteppiche, zumeist noch in Blüte (vorige Woche).

Liebe Grüße
Arno
 
Fehlereingeständnis: In #120 müsste es in Zeile 3 statt "Asphaltdunst" natürlich "Teerdunst" heißen. Der Unterschied war mir schon klar, vielleicht hat mich eine Assoziation oder das Bemühen um Wechsel im Ausdruck zu der Fehlformulierung verführt.

Also: Damals wurde Teer in Erkner in industriellem Maßstab gewonnen und die Stadt suchte sich ein zweites Standbein zu verschaffen, indem sie sich aufgrund angeblich gesundheitlich positiver Wirkungen des Teerdunstes als Kurort empfahl. Das mag für Gerhart Hauptmann bei der Wahl eines Wohnorts außerhalb von Berlin auch eine Rolle gespielt haben.
 
XLIV. Außen schrill, innen bieder

Vor langen Jahren verwunderte sich im Gespräch mit mir ein Freund aus München: „Da ist doch diese Maria, die Transe – was ich nicht verstehe: Privat ist sie äußerst spießig, mit einer kitschigen Muttergottes im Schlafzimmer. Seltsam.“ Ich äußerte mich dazu nicht. Weder kannte ich Maria näher noch hatte ich eine allgemeine Erklärung des Phänomens anzubieten.

Heute, viele Jahre und Begegnungen später, sehe ich klarer. Maria ist nicht die eine große Ausnahme, vielmehr verkörpert sie einen nicht so selten vorkommenden Typus. Menschen wie sie erschöpfen all ihre Widerständigkeit bei nur einer Frage: ihrer persönlichen Unterordnung unter eine abweichende Kleidernorm. Was für andere eine Sache der Oberfläche, der Fassade, des Experiments oder bloß ein Jux sein würde, also eine sekundäre Geschmacksfrage, das hat für Maria existenzielle Bedeutung. Das hat Folgen: Die Kleiderfrage wird beherrschend, weist allen anderen Aspekten der Lebensführung eine bloß dienende Rolle zu. Maria definiert sich über ihr Outfit. Die Konflikte, die sich aus einem solchen Selbstbild ergeben, werden mit Unerbittlichkeit durchgestanden. Wenn Maria nicht mehr ganz jung ist, erscheint sie so: rigide, verhärtet, überempfindlich gegen Kritik und maßlos in eigener Selbstüberschätzung. Die Opferrolle lässt sie sich selbst als große Tragödin und unvergleichliche Heroine empfinden. Und wehe, andere sehen das anders!

Persönlichkeiten wie Maria sind erfahrungsgemäß in allen Fragen, die nicht mit sexueller Identität und vor allem deren Zurschaustellung zusammenhängen, mehr als angepasst, sie sind an jede gesellschaftlich herrschende Norm überangepasst. Mittiger als sie kann keiner sein. Es fehlt schon das Interesse, sich mit den großen Themen der Zeit wirklich auseinandersetzen. Maria weiß daher wenig über sie und akzeptiert gewöhnlich das allgemein am meisten Verbreitete. Die Münchner Maria von damals mag in den Fünfigerjahren in tiefer bayerischer Provinz sozialisiert worden sein. Ein oder zwei Generationen weiter verinnerlicht eine Maria von heute ganz andere Glaubensinhalte. Wahrscheinlich wird sie sich hoch erhaben über diejenigen ihrer Vorgängerin dünken und übersieht dabei vollkommen die strukturelle Nähe. Beide, die ältere wie die jüngere Maria, sind Randexistenzen, die sie nur unter Aufbietung aller Kräfte und auf Kosten jeder individuellen persönlichen Entwicklung aufrechterhalten. Gerade in Letzterem besteht ihre gemeinsame viel größere Opferrolle, größer als die, die sie uns permanent vorführen.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

das ist sehr hart, aber ich halte es für möglich, dass Du recht hast.
Ich überlege nur, ob man wirklich von 'Randexistenzen' sprechen kann. Ich glaube, diese 'Rolle' ist eine selbst auferlegte - und betrifft natürlich jegliche Form des Tabubruchs - wobei das Tabu ja wieder ein 'eigenes' ist bzw. die Stelle im Wesen meint, in der man unbewusst mit der Meinung der Gesellschaft übereinstimmt. Dann passt das auch wieder, dass man all seine Kraft auf diesen 'erhebenden Makel' konzentriert:
Die Kleiderfrage wird beherrschend, weist allen anderen Aspekten der Lebensführung eine bloß dienende Rolle zu. Maria definiert sich über ihr Outfit. Die Konflikte, die sich aus einem solchen Selbstbild ergeben, werden mit Unerbittlichkeit durchgestanden.
und der einzige Sieg ist der, daran festgehalten zu haben.
Ich habe in den 80ern mal eine ältere Frau gekannt, die sich zum Einkaufen nett mit einem schwarzen Popelinemantel gekleidet hatte und an der Tür feststellte, sie sähe ja aus als sei sie in Trauer - und zog sich wieder um. Mich hat dieses vorweggenommene Urteil einer Gesellschaft in einer Großstadt, die dies nie ausgesprochen hätte, sehr irritiert. Es ist diese bis in die Knochen eingedrungene Frage danach, was die Leute sagen, die in der von Dir genannten Person nur an einer Stelle aufbrechen konnte, ohne die gesamte Persönlichkeit zu verändern.
Ich glaube, es wäre schon viel gewonnen, wenn man zu der Einsicht gelangen könnte, dass es ein Schattenboxen mit dem eigenen Selbst ist, aber dazu gehört auch eine Distanz zu sich selbst, die nicht jedem gegeben ist.

Wieder was zum Nachdenken :)

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, Petra, für deine Gedanken dazu. Wir können ja immer nur versuchen, uns in diese seltsame Stresssituation und ihre Folgen hineinzuversetzen. Es gibt noch eine ähnlich gelagerte Problematik: Exhibitionismus. Nacktheit an sich ist ja kein so großes Problem, nicht nur zu Hause nicht, man kann seit Generationen auch splitternackte Geselligkeit finden, wenn man will. Ich denke, eine sexuelle Erregung spielt bei der üblichen Konfrontation der eigenen Nacktheit mit den damit Provozierten gar keine so große Rolle, der Thrill besteht vor allem in dem Erregen von Schrecken und dem Aushalten von Druck. Ich konnte früher gelegentlich das Auftreten eines Exhibitionisten in meinem Stammlokal studieren. Nacktheit war dort weder üblich noch erwünscht, wurde stark abgelehnt - und eben das war für den Mann eine unwiderstehliche Verlockung. Ich sprach öfter mit ihm darüber und erfuhr, dass er sich auf diese Weise auch an anderen unpassenden Orten von Osnabrück, wo er lebte, auf diese Weise auf- und vordrängte. In der Hauptsituation war er fürchterlich angespannt. Jetzt bin ich wieder ins Erzählen von Geschichten geraten, aber ich will früher als sonst ins Bett.

Gute Nacht
Arno
 
XLV. Grausliche Wörter und Begriffe

Fangen wir mit „Kulturschaffende“ an. Der neuerdings wieder beliebte Ausdruck hat im 20. Jahrhundert eine Karriere hinter sich, die einen schon Distanz wahren lassen müsste. Dann gibt es wieder das bekannte Problem mit dem Partizip Präsens: Ein Maler in einer Schaffenskrise oder ein Schriftsteller mit Schreibblockade ist gerade kein Kulturschaffender mehr – momentan schafft, d.h. erzeugt er gar nichts. Er kann sich aber immer noch Maler oder Schriftsteller nennen, da er Werke dieser Art schon produziert hat und zumeist auch weiterhin hervorzubringen hofft. Und was hat es mit „Kultur“ auf sich? Das ist ein Sammel- und Oberbegriff, dessen mögliche Inhalte so vieles umfassen können: das Blockflöte spielende Mädchen auf einem Schulfest wie den Entwerfer eines Bühnenbildes, den Verfasser eines Gedichtes, das es nie in auch nur eine Anthologie schaffen wird, und die Arbeit einer Videokünstlerin, die auf der Biennale in Venedig vertreten ist. Kulturen „schafft“ selbst ein Laborant, der solche zum Nachweis oder Ausschluss einer gefährlichen Krankheit anlegt. Es gibt Hefekulturen, Zellkulturen … Wir kennen den Kulturbeutel und Firmen rühmen sich einer Unternehmenskultur. Bannen wir das Wort „Kulturschaffende“. Es ist so hochtrabend wie nichtssagend, passend zu einer Zeit, der auch mal einer prophezeit haben könnte, sie werde eine Kultur sein, aber keine mehr haben.

Apropos Firmen - sie tönen gern so: Die Philosophie unseres Unternehmens lautet … Womit wir bei einem Fall von sprachlicher Hochstapelei sind. Kaum eine Firma dürfte sich tatsächlich mit Philosophie beschäftigen, sondern mit: Produktion, Marketing, dem Erzielen von Gewinnen. Soll das überhöht oder verschleiert werden? Fabrikanten, Betriebswirte, bleibt beim Produzieren und beim Werben für eure Produkte, aber Letzteres bitte nicht mit lächerlich hochtrabender, verfälschender Diktion. Zwar will ein Bonmot wissen, Philosophie sei ein eigens zum Zweck des Missbrauchs erfundenes Vokabularium, aber eben eines nur für Philosophen, nicht für Geschäftsleute.

Weiter … Zu lesen und zu hören war von "Impfdurchbrechern". Gemeint sind Menschen, die trotz kompletter Schutzimpfung an Covid 19 erkranken. Tatsächlich durchbricht das Virus den Impfschutz und der geimpfte Patient ist, anders als der Sprachgebrauch suggeriert, das passive Objekt dieses Vorgangs. Leser und Zuhörer werden schon verstehen, wie es gemeint ist? Möglicherweise, doch der Eindruck mangelnden Bewusstseins für exakte Sprache ist fatal. Merke: In Deutschland kann auch ein Staatssekretär öffentlich falsches Deutsch reden und fast niemand stört sich daran.

(Kann fortgesetzt werden.)
 

John Wein

Mitglied
Hallo Arno,

Eine interessante Anregung im Zusammenhang mit Kunst, Kultur und Sprache, wobei Letzteres im Grunde genommen ein Teil von beiden ist. Wesen der Sprache ist die kognitive Verständigung im jeweiligen Kontext. Damit sind wir auch schon bei der Crux, es gibt eigentlich keine korrekte Sprache. Dichtung, Werbung, Erziehung, Erklärung usw., haben unterschiedliche Intensionen und sind gewissermaßen das Propagieren von Absichten und Interessen. Philosophie, Aufklärung, Propaganda, Agitation, Manipulation, Indoktrination, Gehirnwäsche, Aufwieglung sind einige der Ausprägungen von Sprachabsichten.

Du hast hier einige muntere Beispiele in der Röhre. Ich füge hinzu den Begriff Wissenschaft hinzu Dieser Begriff, der in den vergangenen Jahren mehr und mehr verludert ist, zwingt mich, wenn es nicht gar zu plump daherkommt, alles Verlautbarte zu hinterfragen und zu recherchieren. Das heißt per se, nichts was als wissenschaftlich überhöht propagiert ist, zu glauben. Wissenschaft, das Wort sagt es, schafft Wissen und dieser Prozess ist ein fortwährender Abgleich des Wissens mit Infrage stellen und neu Bewertung. Der Sprech: „wissenschaftlich erwiesen oder dieser oder jener Wissenschaftler“, macht mich äußerst misstrauisch, zumal er seit ein paar Jahren so inflationär im Gebrauch unters Volk „gejubelt“ wird. Der Beispiele um Corona, Klima, Rassismus usw., ich erzähle dir sicherhier nichts Neues, gibt es zuhauf.

Misstrauen ist also, um es „wissenschaftlich“ zu untermauern, erste Bürgerpflicht! Vielleicht könnte man ja das Thema "wissenschaftlich erwiesen" hier mal ausführlicher diskutieren.

Habe die Ehre,

John
 
Was du über Funktion und Ausgestaltung von Sprache schreibst, John, sehe ich weitgehend auch so. Im zweiten Absatz hebst du dann mein Thema auf eine höhere Ebene. Mir ging es zunächst vor allem um privaten Missbrauch von Begriffen oder solchen, der sich auf das individuelle Leben beziehen, also die leicht zu durchschauende Praxis, sich selbst sprachlich aufzubrezeln (Beispiel 1 und 2). Gewiss kann man vergleichbaren Missbrauch von Begriffen auch auf sozusagen institutioneller Ebene feststellen und das Stichwort Wissenschaft ist dann ein gutes Beispiel. Es ist allerdings viel leichter, sich über einen Klopapierfabrikanten lustig zu machen, der von seiner Philosophie spricht, als kritischen Abstand zu halten, wenn sich offiziell oder offiziös auf Wissenschaft berufen wird. Das liegt an der Rolle und am Gewicht des allgegenwärtigen Spezialistentums. Seit es keine Universalgelehrten mehr gibt, ist der Empfänger von Nachrichten aus der Wissenschaft darauf angewiesen, zur Überprüfung Hilfsmittel heranzuziehen: a) eigene Erfahrung und eigenes Durchdenken, b) Vergleich mit weiteren Darlegungen zum selben Thema. Das kann im Einzelnen sehr aufwändig werden, so dass sich immer zwei Notausgänge anbieten: a) erst mal hinnehmen oder b) es einfach offen lassen. Ich denke, in hohem Maß läuft es darauf hinaus, mangels Kompetenz oder Zeit oder Lust. Da dies auf Dauer frustrierend sein kann, kommt es bei manchen im Lauf der Zeit zu einer sehr umfasssenden Skepsis. Diese Grundeinstellung ist dann selbst wieder allzu subjektiv und dient der eigenen weiteren Information eher nicht. Einer meiner Grundsätze: Misstraue auch deinem eigenen Misstrauen.

Hier noch drei zufällige Beispiele für Nachrichten aus der Wissenschaft, die mich dieser Tage beschäftigt haben, und für meinen Umgang damit. 1. Hoher Fenchelteekonsum soll bei bei Reizdarm schädlich sein. Ich trinke ihn selbst zeitweise - soll ich mich nun in das Thema gründlich einarbeiten? Ich denke an die Krankengeschichte meines Vaters, die jene These zu bestätigen scheint, verzichte auf weitere Recherche und konsumiere nur vorsichtig. - 2. Da steht bei mir ein Buch seit Jahrzehnten ungelesen, dessen Thema mich gerade interessiert. Die Autorin ist eine Schülerin des Philosophen Derrida, von dem ich nichts kenne. Vorsichtshalber lese ich einiges über Derrida nach und finde ihn bzw. seine wissenschaftliche Seriosität in Fachkreisen "umstritten" (auch so ein fürchterliches Wort). Um mir eine Meinung zu bilden, müsste ich selbst erst mit Derrida anfangen. Ergebnis: Das Buch, das ich seit dem Kauf damals mit Misstrauen angeschaut habe, bleibt weiter ungelesen, vorerst mal. - 3, Ich lese eine umfangreiche Abhandlung eines US-amerikanischen Professors über die Entwicklung des Kapitalismus weltweit seit 150 Jahren, mit Schwerpunkt auf der Gegenwart und der Bedeutung für die Politik seines Landes. Was er schreibt, ist mir sympathisch, ich würde es gern hier im FL verlinken. Aber halt - ich kann nicht so einfach darüber hinweglesen, dass in seiner Darstellung einige wesentliche Fakten gar nicht auftauchen. Wie seriös ist seine Wissenschaft? Also lieber nicht verlinken.

Einen schönen Abend
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Ich glaube es hat auch mit einer grassierenden Beliebigkeit zu tun - dieses anything goes das bei dem steigenden Verzicht auf jeglichen Kanon alles Gesagte, ja Gedachte ihr zum Opfer bringt. Konkret meine ich z.B. diese wokeness, die wegen der geforderten und gewährten Achtsamkeit - bei gleichzeitiger Ausblendung tradierter Regeln - neues Unrecht hervorbringt. Mir sind in meinem Umfeld zwei Fälle untergekommen, wo die mehrheitsfähige Achtsamkeit zu Verletzungen und Ungerechtigkeit geführt hat.
In meiner Sozialisation war Nichtwissen eine Vorstufe zum Wissenwollen und Wissen. Das war sozusagen der Pfad der Tugend. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass Unwissenheit in Verbindung mit woker Rücksichtnahme zu Dummdreistigkeit wird und Plenarsäle erobern könnte, von denen aus man mit viel Nicht-Wissen ein Land regieren und Karriere machen kann. (Mir wäre das nie als erstrebenswert in den Sinn gekommen)

So ähnlich ist es doch auch mit der Wissenschaft - und erst recht mit der Medizin. Es gibt da kein nicht absichtsvolles Kommunizieren, keinen wettbewerbsfreien Raum in der Öffentlichkeit, in dem das Fach um seiner selbst willen betrieben und vorangetrieben würde. Und es gibt keine Un- oder Überparteilichkeit.

Ich würde aber - bei allem gesunden MIsstrauen - nicht auch noch den Bezugsrahmen abklopfen. Zum einen verliert man die Übersicht und zum anderen vertreibt es die Freude am Denken - denn das ist es doch auch! Und es ist beglückend, wenn man aus einem Buch, auch, wenn es nicht vorher überprüft wurde, einen Gedanken findet, der vielleicht nur in meinem Kopf zündet und eine neue Erkenntnis bringt. Wenn dieser eine Baustein wahr war, kann dann das Buch schlecht sein? Muss jeder Gedanke gleich gehaltvoll sein, jede Perspektive berücksichtigt?
Ich meine nein, weil Denken und Wissen auf 'schematischem' Wissen beruhen mag, aber im Grunde ein kreativer Prozess ist, es entsteht ein unübersichtliches Netzwerk im Kopf, das sich auch noch mit unseren Erfahrungen, also Emotionen, verbindet. Es ist dieses Mysterium, das ich bei Heisenbergs Satz empfand, dass Bildung das ist, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat, was man gelernt hat. Es sind nicht nur die Fakten selbst, die eine Aussage als wahr oder falsch erkennen lassen.
Und außerdem: Jeder liest und denkt auf eigene Gefahr :D

Liebe Grüße
Petra
 
XLVI. Fern - unfern von Berlin


Die Bushaltestelle liegt mitten im Wald und heißt Deponie. Ich lasse diesen künstlichen Berg links liegen und biege rechts ein, um einen richtigen zu überschreiten. Schon nach zweihundert Metern seine größte Attraktion: eine gefasste Quelle und davor ein rundes Becken mit Goldfischen. Die Fische werden nervös, als ich am Rand erscheine, teilen sich in zwei Haufen, beruhigen sich und kommen wieder zusammen. Der einsame Pfad führt dann steil hinauf. Auf ihm kommt mir eine junge Frau entgegen, deren Begleiter, ein angeleinter Jagdhund, sich vor meinem Anblick so fürchtet, dass er nicht weiter will. Wir lösen das Problem, indem ich mich an den Rand stelle und sie ihr widerstrebendes Tier vorbeizerrt. Von oben habe ich einen Ausblick über eine kleine Ebene und zwei weitere Höhenzüge. Man könnte sich beinahe in einem deutschen Mittelgebirge wähnen.

Steil auch wieder hinab und durch ein kleines Dorf mit sehr altem Kirchturm aus Feldsteinen; das viel jüngere Schiff harmoniert nicht mit ihm in Material oder Gestalt. Ich streiche den Aufstieg auf den nächsten Hügel, da der dorfnahe Weg, den die Karte noch zeigt, unter einem Acker verschwunden ist. Im nächsten Ort könnte man mich auf einer Bank am kleinen See sitzend den Mittagsimbiss halten sehen. Man schenkt mir jedoch keine Beachtung, der Straßenverkehr rauscht vorbei, zweimal unterbrochen von Martinshornklang.

Der nächste Aufstieg ist länger. Es geht nur durch Wald und es gibt keine Begegnungen; verlassen der neue stählerne Aussichtsturm. Auch ich will nicht hinauf, ich scheue diese Konstruktionen, wo man auf Außentreppen durch Drahtgitter in die Tiefe blicken muss. Es kommen am Weg dann zwei Riesenfindlinge. Ihre Benennung verwirrt zunächst. Der kleinere von ihnen ist der Große Stein und der größere der Kleine Stein. Letzterem wurde vor zwei Jahrhunderten so viel Substanz entnommen, wie nötig war, um daraus eine hübsche Schale für ein Berliner Museum zu formen. Ich raste kurz, trinke aus meiner Wasserflasche und plane das Weitere. Auf in den formidablen Kurort da unten! Auf dem noch längeren und dafür sanfteren Weg abwärts bekomme ich selten Menschen zu Gesicht, Wanderer in die Höhe, und ein Radler klingelt mich von hinten zur Seite.

Je öfter ich Bad Neureichenhausen besuche, umso mehr fremdele ich mit ihm. Dort riecht es ein bisschen nach Hautevolee, nach viel Geld, nach Spekulation. Es herrscht der schlechte gute Geschmack und so ertrinken allmählich die Villen der ersten Generation, detailreich und landschaftsbezogen, unter dem Ansturm von massiertem Bauhaus-Weiß. Am Ende des sehr großen Sees dräut, auch ganz in Weiß, als anachronistisches Zwillingspaar ein Luxushotel. Nivellierend-entstellend saniert ist der Altbau, verbunden durch eine tiefer gelegte Kauleiste mit dem Prachtkerl von Neubau daneben. Ich denke an die Auslage eines Zahnlabors und gehe rasch tiefer in den Kurpark hinein. Er ist bevölkert von Menschen wie ich - Zaungästen. Ich suche mir die hinterste Bank und knuspere wieder etwas aus dem Rucksack.

Diesmal wandere ich weiter hinaus in den Vorort, den ich noch nicht kenne. Unterwegs denke ich über ein Phänomen nach: In den kleinen Städten Ostdeutschlands sind oft gerade die bürgerlich-wohlhabendsten Straßen nach historischen Größen des Marxismus benannt: Rosa Luxemburg, Karl Marx, Ernst Thälmann … Seltsam. Die Straße hier parallel zum See ist sehr lang und gerade, der Baubestand so heterogen wie seine Gesamtwirkung monoton. Einige Male sind am sonst privatisierten Strand kleine Grünflächen am Wasser ausgespart zur öffentlichen Nutzung. Das sieht nach Notbehelf aus oder nach Alibi, ich gehe gleich weiter. Entgegen kommt mir unternehmenden Schrittes eine Greisin in Weiß und Hellrosa, eine Kombination von Strand- und Abendkleid für zwei Uhr nachmittags, der Saum gefährlich nahe dem Boden – auf dem ich immer wieder Stolpersteine zum Gedenken an die ersten Bewohner der Villenkolonie entdecke.

Endlich draußen am wirklichen Stadtrand. Gewöhnliche Wohnblocks, ein Discounter, noch ein paar kleine Geschäfte. Hier wird nicht repräsentiert, ich atme auf. Vor dem Bahnhof – Endstation der kleinen Seitenbahn - flattert ein später Admiral, seltener Anblick in diesem Kriegs- und Katastrophenjahr. Noch zwanzig Minuten, bis der Zug kommt. Ich habe von meiner Sitzbank einen exquisiten Blick ins Grün neben dem Gleis, auf prachtvolle Bäume, eine einzelne sehr alte und mächtige Kiefer, eine Wand aus vier hohen, breiten Zitterpappeln mit Tausenden von Blättern, die synchron erzittern, eine fremdländische Fichte mit sehr dicht gewirktem Zweig- und Nadelwerk. Eine Katze jenseits des Bahnkörpers fängt seelenruhig an sich zu putzen.

Nächstes Mal fahre ich gleich hierher und dringe tiefer ins Hinterland vor.
 

John Wein

Mitglied
Hallo werter Wanderer,
Warum in die Ferne schweifen....., es muss ja nicht gleich der Jakobsweg in Spanien sein!
Ein interessanter Streifzug in die Umgebung. Ich vermisse bei deinen Beschreibungen ein bisschen das gewisse Etwas, das mit deinen Gefühlen Unterwegs, bzw. den persönlichen Empfindungen dabei, zu tun hat. Es würde der reinen Beschreibung des Wegs und der Beobachtungen dabei, die menschliche Komponente hinzufügen und so deinem Ausflug nicht nur zum Wanderbericht sondern zur Wandergeschichte machen.
Meine Auffassung, ein anderer sieht es vielleicht anders.
Feiertagsgrüße,
John :cool:
 
Danke, John, für den Einwand, den ich gut verstehen kann - er ist ja auch direkt aus vielen Texten von mir ableitbar - und den ich dennoch zum größeren Teil unberücksichtigt lassen werde. Meine Ideale, nicht nur bezüglich eigener Produktion, sind seit langem: impartialité, impersonnalité, impassibilité .

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

das wäre mir doch fast entgangen.
Mir persönlich gefällt es sehr gut, wie Du Dich - bis auf nützliche Bewertungen - raushältst und den Leser mit auf die Reise nimmst, fast als könnte er selbst schauen.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, liebe Petra, für den Zuspruch. In der Tat habe ich schon oft den Einwand mangelnden Beteiligtseins zu lesen bekommen. Die Bedürfnisse sind halt verschieden, die Vorlieben bezüglich literarischer Gestaltung ebenfalls. Das ist einfach hinzunehmen.

Bei der Gelegenheit und da wir hier ja im Tagebuch sind: Vorige Woche bin ich erstmals in einem Lift steckengeblieben. Es war im Hauptbahnhof von Frankfurt (Oder). Da hatte ich etwa 20 Minuten lang Gelegenheit, die Reaktionen der anderen - es waren noch vier Personen - und meine eigenen zu studieren. Sie unterschieden sich im Einzelnen beträchtlich voneinander. Unangenehm war, dass es ca. 4 Minuten dauerte, bis eine erste Reaktion auf unsere Alarmmeldungen erfolgte. Erleichternd war, dass wir visuell nicht isoliert waren - im Gegenteil: Wir blickten direkt hinunter in den Tunnelgang und konnten gestikulierend mit den Passanten dort kommunizieren, die ihrerseits wieder sehr verschieden reagierten. Dann kam endlich die Feuerwehr und befreite uns ...

Liebe Grüße
Arno
 

John Wein

Mitglied
Ja Wertester,
Da haben wir doch demnächst eine interessante, persönliche Nachbetrachtung zu einer Nahtoderfahrung des Literaten zu erwarten. Ich bin gespannt!
JW, ;)
 
Nein, lieber John Wein, das ist nicht geplant. Es würde mir unangenehm sein, dabei mich selbst und meinen mich begleitenden Freund ins Rampenlicht zu stellen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Scal

Mitglied
Lieber Arno Abenschön,

Du "verlautbarst" die Wege Deines Bedenkens immer sehr stil- und gedankenvoll. Ein feines, abwägendes Beschreiben, Urteilen und "Befühlen" ist spürbar.
So gesehen: Es für mich es gar nicht so sehr maßgeblich, ob einzelne inhaltliche Äußerungen auch mit meiner "Meinung" immer übereinstimmen.

LG
Scal
 



 
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