Ich frage mich, ob K. es schaffen wird. Sie ist auf jeden Fall motiviert und weiss auch viel. Aber zum Lehrerberuf gehört eben mehr.
Man liefert sich aus. Man ist exponiert. Man gibt vieles von sich preis, ohne es zu wollen.
Ob sich K. dessen bewusst ist?
Ich habe sie beobachtet, wie sie sich während des Unterrichts gab.
Sie unterbrach die TeilnehmerInnen viel zu oft. Wollte ihr Ding durchziehen, statt die Leute ausreden zu lassen.
Da habe ich ein paar Fragezeichen, ob da genügend Änderungspotenzial ist. Im Bericht muss ich das diplomatisch formulieren. Ich möchte nicht, dass sie als Egomanin oder gar als Tyrannin rüberkommt, denn das ist sie definitiv nicht. Sie ist durchaus respektvoll, sagt Danke und Bitte und Guten Tag und Auf Wiedersehen. Alles sehr freundlich und korrekt.
Nur eben das andere. Die Unterrichtsdynamik. Die Leute ausreden lassen. Das Wesen des Unterrichts erfassen. Da hakt es noch.
Am Ende der Stunde meinte sie, sie könne nicht mehr. Sie sei ausgelaugt und wolle nicht weitermachen.
Kein Wunder, habe ich erwidert. Du standest unter grosser Anspannung, dein Programm unbedingt durchzubringen, so als wärst du eine Schauspielerin, die ihren Text einwandfrei aufsagen muss und ja kein Wort vergessen darf. Unterricht ist aber kein Theater.
K. sah mich ernst an. Ich weiss nicht, ob ich das kann, meinte sie. Ich dachte, das Unterrichten würde mich erfüllen, aber jetzt fühle ich mich so leer. Dabei haben wir so viel gemacht und besprochen. Warum fühle ich mich so? Und so traurig?
K. schien tatsächlich Tränen in den Augen zu haben.
Ich schwieg und überlegte, ob ich die Besprechung fortführen sollte. K. schien irgendwie mitgenommen und ich bezweifelte, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt war, um auf didaktische und methodische Fragen einzugehen und die nächste Praktikumstunde zu planen.
Wir waren an einen existenziellen Punkt angelangt, über den nachzudenken sich lohnte. Aber ich war nur die Betreuerin. Ob K. nicht vielleicht doch allein sein wollte, um den Dingen Raum zu geben, die gerade in ihr vorgingen?
Mir schien, das war eine Lebenswende, die sich gerade vor meinen Augen, jedoch im Verborgenen, nämlich in K.s Innerem, abspielte.
Sie hatte mich angeblickt, dann ihren Blick gesenkt. Jetzt blickte sie auf und schien verändert. Ihre Wangen waren gerötet, die Augen glänzend und die Körperhaltung, eben noch in sich zusammengesunken, jetzt irgendwie anmutig und aufrecht.
Ich pack' das nicht, kam es von ihr schliesslich, als hätte sie eine weltbewegende Erkenntnis gewonnen.
Warum nicht?, will ich wissen.
Zu viel Arbeit. Ich habe doch schon jahrelang studiert. Und jetzt noch dieses Praktikum. Und der Unterricht war so schlecht.
Na ja, erwidere ich. Selbstreflexion sollte nicht zu Selbstzerfleischung ausarten. Darum geht es nicht. Wir ziehen alle am selben Strick. Wir wollen die gute Schule errichten. Das kann keine Lehrperson alleine. Das können wir, wenn schon, nur gemeinsam. Als Team. Als Kollektiv oder Gemeinschaft. Sie solle es nennen, wie sie wolle.
K. schweigt. Sie lässt sich in die Stuhllehne zurückfallen, wie ein trotziges Kind, das nicht aufessen will.
In diesem Augenblick bin ich wohl, obwohl es mir nicht bewusst ist, in der Mutterrolle, die man mir so oft schon angedichtet hat. Fürsorge gehört dazu, Wohlwollen und Anteilnahme ebenfalls.
Und das Wichtigste: Loslassen. Was K. eben auch noch bevorsteht. Sie muss lernen, von sich abzusehen und den Weg, den der Unterricht nimmt, mitzugehen, auch wenn er ihre Unterrichtsvorbereitung über Bord wirft.
Die Freiheit des anderen zu begrüssen, auch wenn sie mich vernichtet. Ob das die höchste Form der Liebe ist?
Möglicherweise.
Ich muss da auch reinwachsen. Immer wieder. Drei Schritte vor und einen zurück.
Ja, unterrichten, auch in der Erwachsenenbildung, hat was von einer Eltern-Kind-Beziehung, für die es kein Handbuch gibt.
Kein Rezept? Keine Richtschnur? K. schaut ungläubig drein.
Wofür habe ich dann studiert? Dann hätte ich doch gleich Pi mal Handgelenkt anfangen können zu unterrichten und irgendwas schwurbeln.
K. hat erwartet, dass ich ihr das Geheimnis ins Ohr flüstere, um nie mehr zu scheitern. Das Geheimnis, das jeder Erwachsene doch zwangsläufig kennen muss und das er einem Kind, sobald es alt genug ist, um es zu verkraften, verraten wird. Früher oder später.
Jetzt dämmert meiner Praktikantin, dass es ein solches Geheimnis nicht gibt.
Ich habe keine Enthüllung, nur das Angebot, ihr beizustehen, sie zu begleiten, im Guten wie im Schlechten.
Mehr habe ich nicht zu bieten.
Schlechte Bezahlung und hoher Workload sind sicher gewichtige Gründe, warum viele den Lehrerberuf scheuen.
Doch im Grunde geht es auch um die Erwartung, eine Technik anwenden zu können, die fliessbandartig das gewünschte Ergebnis herbeiführt.
Soziale Berufe funktionieren so nicht. Da geht es nicht um Technik, sondern um Beziehung, Empathie, Zuhören, Präsenz, Zuwendung. Der Dozent ist als ganzer Mensch gefordert und doch muss er eine saubere Trennung von Beruflichem und Privatem hinkriegen.
Das ist alles nicht leicht.
Was mache ich, wenn mich privat etwas belastet, wenn mich etwas stört, wenn mir ein Schüler unsympathisch ist? Wie gehe ich mit diesen Dingen um, die man nunmal nicht ausblenden kann, gerade weil wir als Menschen keine Aussenstehenden, sondern Beteiligte sind.
Was machen wir mit alledem?
Ich spüre, dass K. noch nicht bereit ist, sich diesen Fragen zu stellen.
Auch ich bin es nicht immer. Und doch ist das lebensnotwendig, wenn wir Menschen bleiben und nicht zu Maschinen werden wollen.