Arno Abendschön
Mitglied
XVII. Das Leben ein Purgatorium - Briefe aus 50 Jahren
Die drei Ordner stehen in seinem Aktenschrank ganz unten. Sie enthalten mehr als tausend Briefe aus einem halben Jahrhundert. Von den rund fünfzig Verfassern ist ein Großteil inzwischen tot. Alle Briefe – ein Riesenarchiv von Zeugnissen früheren Lebens - würden gut zweitausend Buchseiten füllen, wäre ans Veröffentlichen überhaupt zu denken.
Der Empfänger dieser Briefe erfasst sie seit längerem elektronisch, speichert sie mehrfach ab. Nach und nach drängte sich ihm als vorherrschender Eindruck die Vereinzelung der Briefschreiber auf. Zwischen ihnen gab es kaum Verbindungslinien, ihr gemeinsamer Bezugspunkt war er, der Adressat der Briefe. Frühere Klassenkameraden entfremdeten sich nach dem Abitur einander rasch. Selbst Angehörige derselben Familie verstanden sich nicht. Die meisten Absender begegneten einander nicht einmal. Und alle schrieben über ihr gegenwärtiges Leben, vor allem über ihre Nöte. Dem Hüter der Briefe wurde allmählich bewusst, worin dann doch das Gemeinsame in der Korrespondenz zu erkennen ist – es ist die Dominanz von Leid, Scheitern, nicht gelebtem Leben.
Mit sechzehn begann er, Briefe aufzubewahren und chronologisch abzuheften. Nr. 1 bis 10 sind lange Episteln einer Gleichaltrigen aus weit entfernter Gegend. Es folgten noch viele weitere von ihr. Die Schülerin sollte diejenige Frau in seinem Leben werden, mit der er den intensivsten Gedankenaustausch hatte. Sie, die sich aus der Ferne gut kennenlernten, sahen sich nie. Wurde die Möglichkeit einer Begegnung auch nur einmal erwogen? Dann verwarfen beide sie rasch in Gedanken. Die Brieffreundin ging vor ihm ihre Möglichkeiten der Berufswahl durch und es blieb nur das Lehramt übrig. Während des Studiums gestand sie ihm, von Anfang an gewusst zu haben, dass diese Entscheidung falsch sei. Sie freute sich über den Auszug aus dem Elternhaus, registrierte die Entfremdung, verspürte Schuldgefühle und beichtete sie ihm. Lange nach Ende der Korrespondenz erfuhr er auf andere Weise, dass sie auf Dauer in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war, früher für sie unvorstellbar gewesen.
Nach dem Abitur kamen jahrelang Briefe von früheren Schulkameraden. Einige schrieben über Langeweile und totzuschlagende Zeit bei der Bundeswehr. Einer wollte Studienrat werden und erkannte nach sechs, sieben Semestern, dass er nicht zum Pädagogen taugte. Er machte trotzdem mit dem Studium weiter. Ein anderer blieb zum Schein immatrikuliert, sah sich aber inzwischen als Berufsrevolutionär. Als der Sozialistische Deutsche Studentenbund sich auflöste, fand er Anschluss bei Trotzkisten und stieg dort in den Führungszirkel auf. Bei ihm klang stets alles hochgemut und zugleich falsch. Der Adressat der Briefe kannte ihn zu gut.
Die Mutter des Briefesammlers ließ nur gelegentlich durchblicken, dass sie seinen Weggang nicht verwinden konnte. Lieber beschrieb sie, die Bäuerin, ihre große Arbeitsbelastung. In einer Woche hatte sie fünfzig Hühner geschlachtet, nun schmerzten ihr die Arme. Erbangelegenheiten verbitterten sie später und dazu musste sie sich um ihre eigene, ungeliebte Mutter kümmern. Deren Briefe an den fernen, einzigen Enkel waren allmählich immer schmerzlicher zu lesen. War ihr Hauptinhalt früher Sparen und Vermögensbildung gewesen, so ging es später nur um Krankheit, Einsamkeit und Enttäuschung. Die Nachkommen führten ein so ganz anderes Leben, als sie es für sie erhofft hatte.
Viel vitaler wirkten dagegen die Briefe seiner auswärtigen, oft auch ausländischen schwulen Freunde und Liebhaber. Sie reisten sehr viel, wenn sie nicht gerade an einer Infektionskrankheit litten. Sie zogen oft um, innerhalb ihrer Gemeinde, von einer Stadt zur anderen, über Landesgrenzen und sogar von einem Kontinent zum anderen. Es schien ihnen immer, das Leben wäre woanders befriedigender zu führen. Einer fing nach seinem Studium als Erzieher an einer Korrektionsanstalt an und ließ sich von den Insassen drangsalieren. Politische Karrieren endeten, kaum dass sie begonnen hatten. Kurzgefasste Todesnachrichten häuften sich. Oder man brach miteinander und ein letzter Brief blieb unbeantwortet.
Der Sammler so vieler Briefe will sie nicht mit sich untergehen lassen. Sie gehören, denkt er, in ein Archiv. Andere vermachen der Wissenschaft ihren toten Körper, er möchte ihr zur Erforschung dieses Herbarium voll von Zeichen erstorbenen Lebens überlassen. Und wie vorher mit all dem Material umgehen? Fordert es nicht zur Gestaltung heraus? Wenn er selbst es, darüber schreibend, verwendet, macht man ihm oft den Vorwurf fehlenden Mitgefühls und allzu großer Glätte. Als ob mangelndes Formbewusstsein ein Beweis tiefen, echten Gefühls wäre. Ist nicht im Gegenteil harte Arbeit an der Form letzter noch möglicher Liebesdienst? Oder hätte er es mit buddhistischer Einstellung versuchen sollen?
Die drei Ordner stehen in seinem Aktenschrank ganz unten. Sie enthalten mehr als tausend Briefe aus einem halben Jahrhundert. Von den rund fünfzig Verfassern ist ein Großteil inzwischen tot. Alle Briefe – ein Riesenarchiv von Zeugnissen früheren Lebens - würden gut zweitausend Buchseiten füllen, wäre ans Veröffentlichen überhaupt zu denken.
Der Empfänger dieser Briefe erfasst sie seit längerem elektronisch, speichert sie mehrfach ab. Nach und nach drängte sich ihm als vorherrschender Eindruck die Vereinzelung der Briefschreiber auf. Zwischen ihnen gab es kaum Verbindungslinien, ihr gemeinsamer Bezugspunkt war er, der Adressat der Briefe. Frühere Klassenkameraden entfremdeten sich nach dem Abitur einander rasch. Selbst Angehörige derselben Familie verstanden sich nicht. Die meisten Absender begegneten einander nicht einmal. Und alle schrieben über ihr gegenwärtiges Leben, vor allem über ihre Nöte. Dem Hüter der Briefe wurde allmählich bewusst, worin dann doch das Gemeinsame in der Korrespondenz zu erkennen ist – es ist die Dominanz von Leid, Scheitern, nicht gelebtem Leben.
Mit sechzehn begann er, Briefe aufzubewahren und chronologisch abzuheften. Nr. 1 bis 10 sind lange Episteln einer Gleichaltrigen aus weit entfernter Gegend. Es folgten noch viele weitere von ihr. Die Schülerin sollte diejenige Frau in seinem Leben werden, mit der er den intensivsten Gedankenaustausch hatte. Sie, die sich aus der Ferne gut kennenlernten, sahen sich nie. Wurde die Möglichkeit einer Begegnung auch nur einmal erwogen? Dann verwarfen beide sie rasch in Gedanken. Die Brieffreundin ging vor ihm ihre Möglichkeiten der Berufswahl durch und es blieb nur das Lehramt übrig. Während des Studiums gestand sie ihm, von Anfang an gewusst zu haben, dass diese Entscheidung falsch sei. Sie freute sich über den Auszug aus dem Elternhaus, registrierte die Entfremdung, verspürte Schuldgefühle und beichtete sie ihm. Lange nach Ende der Korrespondenz erfuhr er auf andere Weise, dass sie auf Dauer in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war, früher für sie unvorstellbar gewesen.
Nach dem Abitur kamen jahrelang Briefe von früheren Schulkameraden. Einige schrieben über Langeweile und totzuschlagende Zeit bei der Bundeswehr. Einer wollte Studienrat werden und erkannte nach sechs, sieben Semestern, dass er nicht zum Pädagogen taugte. Er machte trotzdem mit dem Studium weiter. Ein anderer blieb zum Schein immatrikuliert, sah sich aber inzwischen als Berufsrevolutionär. Als der Sozialistische Deutsche Studentenbund sich auflöste, fand er Anschluss bei Trotzkisten und stieg dort in den Führungszirkel auf. Bei ihm klang stets alles hochgemut und zugleich falsch. Der Adressat der Briefe kannte ihn zu gut.
Die Mutter des Briefesammlers ließ nur gelegentlich durchblicken, dass sie seinen Weggang nicht verwinden konnte. Lieber beschrieb sie, die Bäuerin, ihre große Arbeitsbelastung. In einer Woche hatte sie fünfzig Hühner geschlachtet, nun schmerzten ihr die Arme. Erbangelegenheiten verbitterten sie später und dazu musste sie sich um ihre eigene, ungeliebte Mutter kümmern. Deren Briefe an den fernen, einzigen Enkel waren allmählich immer schmerzlicher zu lesen. War ihr Hauptinhalt früher Sparen und Vermögensbildung gewesen, so ging es später nur um Krankheit, Einsamkeit und Enttäuschung. Die Nachkommen führten ein so ganz anderes Leben, als sie es für sie erhofft hatte.
Viel vitaler wirkten dagegen die Briefe seiner auswärtigen, oft auch ausländischen schwulen Freunde und Liebhaber. Sie reisten sehr viel, wenn sie nicht gerade an einer Infektionskrankheit litten. Sie zogen oft um, innerhalb ihrer Gemeinde, von einer Stadt zur anderen, über Landesgrenzen und sogar von einem Kontinent zum anderen. Es schien ihnen immer, das Leben wäre woanders befriedigender zu führen. Einer fing nach seinem Studium als Erzieher an einer Korrektionsanstalt an und ließ sich von den Insassen drangsalieren. Politische Karrieren endeten, kaum dass sie begonnen hatten. Kurzgefasste Todesnachrichten häuften sich. Oder man brach miteinander und ein letzter Brief blieb unbeantwortet.
Der Sammler so vieler Briefe will sie nicht mit sich untergehen lassen. Sie gehören, denkt er, in ein Archiv. Andere vermachen der Wissenschaft ihren toten Körper, er möchte ihr zur Erforschung dieses Herbarium voll von Zeichen erstorbenen Lebens überlassen. Und wie vorher mit all dem Material umgehen? Fordert es nicht zur Gestaltung heraus? Wenn er selbst es, darüber schreibend, verwendet, macht man ihm oft den Vorwurf fehlenden Mitgefühls und allzu großer Glätte. Als ob mangelndes Formbewusstsein ein Beweis tiefen, echten Gefühls wäre. Ist nicht im Gegenteil harte Arbeit an der Form letzter noch möglicher Liebesdienst? Oder hätte er es mit buddhistischer Einstellung versuchen sollen?