Sage und schreibe

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XVII. Das Leben ein Purgatorium - Briefe aus 50 Jahren

Die drei Ordner stehen in seinem Aktenschrank ganz unten. Sie enthalten mehr als tausend Briefe aus einem halben Jahrhundert. Von den rund fünfzig Verfassern ist ein Großteil inzwischen tot. Alle Briefe – ein Riesenarchiv von Zeugnissen früheren Lebens - würden gut zweitausend Buchseiten füllen, wäre ans Veröffentlichen überhaupt zu denken.

Der Empfänger dieser Briefe erfasst sie seit längerem elektronisch, speichert sie mehrfach ab. Nach und nach drängte sich ihm als vorherrschender Eindruck die Vereinzelung der Briefschreiber auf. Zwischen ihnen gab es kaum Verbindungslinien, ihr gemeinsamer Bezugspunkt war er, der Adressat der Briefe. Frühere Klassenkameraden entfremdeten sich nach dem Abitur einander rasch. Selbst Angehörige derselben Familie verstanden sich nicht. Die meisten Absender begegneten einander nicht einmal. Und alle schrieben über ihr gegenwärtiges Leben, vor allem über ihre Nöte. Dem Hüter der Briefe wurde allmählich bewusst, worin dann doch das Gemeinsame in der Korrespondenz zu erkennen ist – es ist die Dominanz von Leid, Scheitern, nicht gelebtem Leben.

Mit sechzehn begann er, Briefe aufzubewahren und chronologisch abzuheften. Nr. 1 bis 10 sind lange Episteln einer Gleichaltrigen aus weit entfernter Gegend. Es folgten noch viele weitere von ihr. Die Schülerin sollte diejenige Frau in seinem Leben werden, mit der er den intensivsten Gedankenaustausch hatte. Sie, die sich aus der Ferne gut kennenlernten, sahen sich nie. Wurde die Möglichkeit einer Begegnung auch nur einmal erwogen? Dann verwarfen beide sie rasch in Gedanken. Die Brieffreundin ging vor ihm ihre Möglichkeiten der Berufswahl durch und es blieb nur das Lehramt übrig. Während des Studiums gestand sie ihm, von Anfang an gewusst zu haben, dass diese Entscheidung falsch sei. Sie freute sich über den Auszug aus dem Elternhaus, registrierte die Entfremdung, verspürte Schuldgefühle und beichtete sie ihm. Lange nach Ende der Korrespondenz erfuhr er auf andere Weise, dass sie auf Dauer in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war, früher für sie unvorstellbar gewesen.

Nach dem Abitur kamen jahrelang Briefe von früheren Schulkameraden. Einige schrieben über Langeweile und totzuschlagende Zeit bei der Bundeswehr. Einer wollte Studienrat werden und erkannte nach sechs, sieben Semestern, dass er nicht zum Pädagogen taugte. Er machte trotzdem mit dem Studium weiter. Ein anderer blieb zum Schein immatrikuliert, sah sich aber inzwischen als Berufsrevolutionär. Als der Sozialistische Deutsche Studentenbund sich auflöste, fand er Anschluss bei Trotzkisten und stieg dort in den Führungszirkel auf. Bei ihm klang stets alles hochgemut und zugleich falsch. Der Adressat der Briefe kannte ihn zu gut.

Die Mutter des Briefesammlers ließ nur gelegentlich durchblicken, dass sie seinen Weggang nicht verwinden konnte. Lieber beschrieb sie, die Bäuerin, ihre große Arbeitsbelastung. In einer Woche hatte sie fünfzig Hühner geschlachtet, nun schmerzten ihr die Arme. Erbangelegenheiten verbitterten sie später und dazu musste sie sich um ihre eigene, ungeliebte Mutter kümmern. Deren Briefe an den fernen, einzigen Enkel waren allmählich immer schmerzlicher zu lesen. War ihr Hauptinhalt früher Sparen und Vermögensbildung gewesen, so ging es später nur um Krankheit, Einsamkeit und Enttäuschung. Die Nachkommen führten ein so ganz anderes Leben, als sie es für sie erhofft hatte.

Viel vitaler wirkten dagegen die Briefe seiner auswärtigen, oft auch ausländischen schwulen Freunde und Liebhaber. Sie reisten sehr viel, wenn sie nicht gerade an einer Infektionskrankheit litten. Sie zogen oft um, innerhalb ihrer Gemeinde, von einer Stadt zur anderen, über Landesgrenzen und sogar von einem Kontinent zum anderen. Es schien ihnen immer, das Leben wäre woanders befriedigender zu führen. Einer fing nach seinem Studium als Erzieher an einer Korrektionsanstalt an und ließ sich von den Insassen drangsalieren. Politische Karrieren endeten, kaum dass sie begonnen hatten. Kurzgefasste Todesnachrichten häuften sich. Oder man brach miteinander und ein letzter Brief blieb unbeantwortet.

Der Sammler so vieler Briefe will sie nicht mit sich untergehen lassen. Sie gehören, denkt er, in ein Archiv. Andere vermachen der Wissenschaft ihren toten Körper, er möchte ihr zur Erforschung dieses Herbarium voll von Zeichen erstorbenen Lebens überlassen. Und wie vorher mit all dem Material umgehen? Fordert es nicht zur Gestaltung heraus? Wenn er selbst es, darüber schreibend, verwendet, macht man ihm oft den Vorwurf fehlenden Mitgefühls und allzu großer Glätte. Als ob mangelndes Formbewusstsein ein Beweis tiefen, echten Gefühls wäre. Ist nicht im Gegenteil harte Arbeit an der Form letzter noch möglicher Liebesdienst? Oder hätte er es mit buddhistischer Einstellung versuchen sollen?
 

John Wein

Mitglied
Hallo Arno,

Das ist ein Thema für jeden, der den größten Teil seines Lebens hinter sich gelassen hat: Briefe, Zeitungsauschnitte und Fotos. Du hast dem einen schönen Rahmen gegeben und dabei eine gewisse Wehmut anklingen lassen. Ich sehe viele Parallelen. Es ist unsere persönliche Historie mit ihren Erinnerungen im Kontext mit der großen und kleinen Weltgeschichte und ein Fenster durch das der Blick zurück plötzlich eine ganz andere Dimension bekommt. Unser Leben rückwärts beleuchtet kennt nämlich unser Schicksal und die Wirklichkeit des Weltenlaufs.

Ich habe zufälligerweise am Wochenende einen ganzen Karton mit alten Familienfotos bekommen, einige z.T. über hundert Jahre alt, die ich nach dem Durchforsten erst einmal weggeschlossen habe. Eine Fleißaufgabe, alles zu sortieren. Ich denke mit den Briefen geht es dir ähnlich. Wir habe das von unseren Eltern/Schwiegereltern und deren Vorfahren übernommen und wenn wir das nicht aussortieren (man hängt doch dran) auch oder irgendwie geordnet archivieren, überlassen wir diese Fleißaufgabe auch noch unseren Kindern. Wie schrecklich!

Gruß, John
 

ArneSjoeberg

Mitglied
Hallo Arno,

gewöhnlich lese ich keine Tagebücher. Trotzdem hatte ich mir heute vorgenommen, deines zu lesen, weil ... Naja, du weißt schon ... der Mensch hat mich interessiert.
Was bleibt? Ein Gefühl von entspannter Eile und ruhiger Atemlosigkeit. Als würde ich in einem Intercity sitzen und die vorbeifliegende Landschaft genießen. Da ist kein Ruckeln, kein Holpern. Ein beständiger Fluss, der mitnimmt. Bin beeindruckt.

Liebe Grüße
 
Großen Dank an meine beiden heute kommentierenden Leser. Lasst mich auf zwei Details eingehen.

Unser Leben rückwärts beleuchtet kennt nämlich unser Schicksal und die Wirklichkeit des Weltenlaufs.
Ja, John, großes Kino. Aber ich weiß nicht so genau, wer der Filmemacher war. Ich eher nicht.

Als würde ich in einem Intercity sitzen und die vorbeifliegende Landschaft genießen.
Ich sitze auch da drin! Und ich will gern noch ein- oder zweimal umsteigen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
XVIII. E-Mail an eine TV-Redaktion - und die Antwort des Senders

a) meine E-Mail vom 15.3.21 an den RBB:

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit zwölf Jahren bin ich Stamm-Zuschauer der „Abendschau“ und habe in dieser langen Zeit nur wenige Sendungen verpasst. Das Magazin hat mir als Informationsquelle durchaus zugesagt. Ich werde die Sendung in Zukunft aufgrund der stark veränderten Sprache meiden.

Das Gendern überlagert mehr und mehr den Informationsgehalt der Beiträge. Addiert man allein die inflationär angehängten weiblichen Endungen mit entsprechender Wiederholung („Bürger und Bürgerinnen, Wähler und Wählerinnen“ usw.), kommt man pro Sendung gewiss auf zwei verlorene Sendeminuten. Als Zuschauer ertappe ich mich oft dabei, statt auf die Sachinformation auf die Sprachform zu achten. Das Gendern kann ja aus Gründen der Praktikabilität nicht konsequent durchgehalten werden und so ist es aufschlussreich, wann darauf verzichtet wird: in der Regel bei eher negativ besetzten Begriffen, z.B. bei „Täter“ oder bei „Steuerzahler“. So interessant solche Beobachtungen sind, sie lenken regelmäßig von der Sache ab.

Ihre Interviews verkommen inzwischen oft zu schlechtem Kabarett. Häufig verschlucken die Interviewten die weibliche Endung, deuten sie nur an. Dann hört man, auch aus Senatoren- oder Bürgermeistermund: „Bürger- und Bürger, Wähler- und Wähler“ usw. Noch fataler ist der Eindruck, wenn der Gesprächspartner sich übergewissenhaft und sehr verkrampft bemüht, nur nichts falsch zu machen. Dann rattert dieselbe Formel (z.B. „Schülerinnen und Schüler“) nicht selten fünfmal in weniger als sechzig Sekunden herunter - ermüdend. Mein Fazit dann: Hier wird überwiegend leeres Stroh gedroschen.

Vollkommen unverzeihlich finde ich es, wenn professionelle Journalisten beim Gendern bewusst grammatisch falsches Deutsch verwenden. Wie oft gebrauchen Ihre Redakteure das substantivierte Partizip II entgegen seiner klaren Bestimmung. Die deutsche Sprache unterscheidet nicht zufällig und willkürlich zwischen Mitarbeitern und Mitarbeitenden usw. Diesen Bedeutungsunterschied einzuebnen, heißt: aktiv Sprachverarmung zu betreiben.

Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Sie verärgern gegenwärtig viele Ihrer treuesten Zuschauer und vertreiben nicht wenige von ihnen. Ich werde zukünftig lokale Informationen allein aus der Presse beziehen. Über Gedrucktes lässt sich leichter hinweglesen und ein einzelner Artikel im Internet lässt sich bei Missfallen schneller wegklicken als ein TV-Programm wechseln.

Mit freundlichen Grüßen


b) Antwort des Senders vom 19.3.21:

Sehr geehrter Herr ***,

vielen Dank für Ihre E-Mail und Ihre kritischen Zeilen zur Umsetzung gendergerechter Sprache.

Der Diskurs um gendergerechte Sprache findet selbstverständlich auch bei uns im rbb statt.
Aus Sicht des rbb - und damit sendungsübergreifend - kann ich Ihnen mitteilen, dass sich der rbb viele Gedanken zur geschlechtergerechten Sprache macht. In den Nachrichten sprechen wir das Gender-Sternchen bei unserm Hörfunksender "Fritz" seit dem 1. September 2020 und auch bei "radioeins" können Sie hin und wieder "Hörer*innen" hören.
Es gibt im rbb ein breites Bewusstsein für das Thema, aber absichtlich keine senderweite Leitlinie. Denn wir machen Programm für ganz unterschiedliche Zielgruppen, die naturgemäß auch unterschiedliche Zugänge zu diesem Thema haben. Einzelne Redaktionen nutzen das Gender-Sternchen, das sogenannte Binnen-I sehr wohl, auch im geschriebenen Wort, bei anderen ist dann eher von „Hörerinnen und Hörern“ oder „Zuschauerinnen und Zuschauer“ die Rede. Je nach Redaktion wird dies unterschiedlich umgesetzt. Insgesamt lässt sich im rbb eine grundsätzliche Bewegung hin zu geschlechtergerechter Sprache feststellen.
Sprache ist im Wandel und so ist es nur folgerichtig, dass sich auch der rbb dieser Diskussion nicht verwehrt. Dabei steht bei uns an erster und oberster Stelle, dass unser Publikum uns versteht. Das bedeutet, dass wir immer wieder über die leserfreundlichste und akustisch am besten verständlichste Art diskutieren.
Insbesondere in den vergangenen Wochen haben wir uns vermehrt in unserem Programm mit dem Thema der gendergerechten Sprache befasst und den Diskurs sowohl im Fernsehen, als auch im Hörfunk abgebildet. Insbesondere in den sozialen Medien sind daraus sehr intensive und vielfältige Diskussionen entstanden.
Wir scheuen keinesfalls den Austausch mit unserem Publikum. Alle Publikumsrückmeldungen – so auch Ihre – werden von uns gelesen und intern ausgewertet und besprochen.

Freundliche Grüße

Ria Neidenbach
Service-Redaktion


Mein Fazit: Auf meine konkreten Kritikpunkte wird nicht eingegangen, stattdessen nur ein wortreich vernebelnder Standardtext übermittelt.
 
XIX. Es menschelt, auch bei Kramp-Karrenbauer

Eine Grundregel guten Schreibens wie Redens ist die, den jeweiligen Sachverhalt so genau wie möglich auszudrücken. Bieten sich mehrere Begriffe an, liegt es nahe, den treffendsten zu verwenden. Es erscheint zunächst paradox, dass die Gendersprache sich gerade hier versündigt, sie, die doch angeblich der Vielfalt zu ihrem Recht verhelfen will. Um jedoch die von ihr erst geschaffenen Probleme zu bewältigen, neigt sie zunehmend dazu, konkrete Bezeichnungen für Gruppen von Individuen durch allgemeine Sammelbegriffe zu ersetzen. Man achte mal darauf, wie oft jetzt in deutschen Texten und Reden von „Menschen“ die Rede ist. Bürger? Einwohner? Passanten? Um sich die lästige Verdoppelung mit –innen zu ersparen, wird die Sprache radikal vereinfacht: Wir sind alle nur noch Menschen.

Ein anschauliches Beispiel dafür lieferte gerade die Verteidigungsministerin, heute dienstlich in Sachsen unterwegs. Es ging um die militärische Nachnutzung eines Tagebaus in der Lausitz. Kramp-Karrenbauer dazu: „Es kommen tausend Menschen nach Boxberg.“ Gemeint sind allerdings Soldaten, und da diese häufig Familienangehörige mitbringen, werden es am Ende weit mehr als eintausend sein. Gut für die Lausitz, schlecht für die Sprache. Und wir haben eine Verteidigungsministerin, die in der Öffentlichkeit das Wort Soldaten lieber vermeidet.

In den MDR-Fernsehnachrichten um 19.30 Uhr war korrekt von Soldaten die Rede. In der Online-Version wird daraus dann „1000 Angehörige der Bundeswehr“. Das ist holprige Sprache und sachlich wiederum ungenau. Denn zu dem Truppenverband von eintausend Soldaten dürften noch zivile Kräfte kommen, nicht nur aus der Region.

Die Gendersprache opfert hier die Möglichkeiten exakter, differenzierender Bezeichnung. So kommt sie allerdings aus ihrer Sackgasse nicht heraus.
 

John Wein

Mitglied
Lieber Arno,

Hier vorübergehend eine Beruhigungspille.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat in einem Zwischenbericht vom 26. März 2021 (etwas mehr) Klarheit geschaffen und gesagt: Bis auf Weiteres wird der Genderstern nicht in das amtliche Regelwerk der deutschen Sprache aufgenommen. Der „Rat“ orientiert sich an der Lesbarkeit und Verständlichkeit von Texten und denkt dabei auch an die rund 6 Millionen Erwachsenen mit Schwierigkeiten, Wörter, Sätze oder einfache zusammenhängende Texte zu lesen oder zu schreiben.

Er hat aber auch den ganzen anderen Mist wie Zusätze: mwd, Partizip Formen: Lesende, Studierende ect. Bildung inkorrekter männlicher oder weiblicher Formen mit Auswirkungen auf den grammatischen Kontext: eine(n) Technische*n Sachbearbeiter*in Kunde/in, Datenschutzbeauftragt*innen, eine(n) Technische*n Sachbearbeiter* ect.

Könnte man jetzt unter „es gibt eh Wichtigeres“ abtun. Aber bei aktuell 220 Lehrstühlen für Gendergaga mit Tausenden von „wichtigen Leuten“ als Zuarbeitern und sonstigen Kostgängern im Hintergrund, die in diesem Quatsch ihre Lebensaufgabe und mehr noch Alimentierung (!) gefunden haben, sollte man die „Wichtigkeit“ dieses Themas keinesfalls unterschätzen.

Der Gendermüll ist tatsächlich schlecht lesbar und verschandelt jeden Satz. Merken die entgegen ihrem dauernden Geschwafel von Toleranz und Vielfalt nicht, wie sie als absolute Minderheit der Mehrheit ihr schräges Denken aufzwingen wollen und dazu alle Institutionen nutzen, in denen sie zu Unrecht sitzen.

Städte wie Hannover und Köln, Firmen wie Audi oder Boehinger und Co., die Claus Klebers, Petra Gersters und Anne Wills wird der „Rat“ vermutlich nicht beeindrucken. Denn was ein politisch korrektes, gegendertes Herz nicht will, lässt der Kopf nicht rein.

Hier noch ein kleines Bonmot, das ich mal im Internet gefunden und aufgehoben habe. (Ich hatte 2015 bereits mal für einen Opinio Beitrag dafür recherchiert)

„Die Banker eilten nach der Feier durch den Bahnhof. Einige der Frauen stolperten wegen der hohen Absätze.“ (angelehnt an Studien von Gygax et al.) Vielleicht ist die Sache mit dem generischen Maskulinum etwas komplizierter als manche annehmen.“

LG, John
 
Heißen Dank, John, für den Hinweis. Der Zwischenbericht war mir noch unbekannt und ist bei mir gleich auf fruchtbaren Boden gefallen. Ich werde ihn weiterempfehlen.

Wenn ich mir vor Augen halte, wie ruhig es um dieses Thema in der Leselupe ist, dann sage ich mir: Ach, nur gut, dass wir hier kein Literaturforum sind ...

Zum Aspekt Verpflichtung von Behördenmitarbeitern habe ich hier eine schöne Fundsache. Neulich erreichten mich in Kopie zwei E-Mails von Ende 2021, abgesandt vom Bauordnungsamt einer mittelgroßen südwestdeutschen Stadt. Eine Sachbearbeiterin Gaby *** formuliert:

"In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der jeweiliger Eigentümer bzw. der Eigentümer in der Pflicht steht, der bauaufsicht nachzuweisen, daß die bauvorhaben genehmigt sind und den aktuellen Vorschriften entsprechen."

Ein männlicher Kollege variiert ein wenig:

"In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der Eigentümer oder Eignetümerin in der Pflicht steht, der Bauaufsichtsbehörde nachzuweisen, dass Bauvorhaben genehmigt sind."

Alles, von mir getreulich mit allen Fehlern abgeschrieben, macht den Eindruck von Unwillen und Obstruktion und hat deprimierende Außenwirkung.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
das ganze hat für mich einen pausenlos dahinplätschernden ton der geschwätzigkeit
o gott dass ich hier meine knapp bemessene zeit verplempert habe ...

gun.
 
Mein Mitgefühl ist dir sicher, Gunnar. Und deine Diktion verrät wieder einmal einen berlinischen Typ, den ich über alles schätze: rau, aber nicht herzlich. So haben wir uns immer schon überall beliebt gemacht ...

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
meine diktion ist es nicht, mich beliebt zu machen

ehrlichkeit
darum geht es
immer und überall

gun.
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
ich habe es so gemeint, und du wirst es so verstehen oder nicht

bei dir muss ich allerdings davon ausgehen ... oder nicht
 
Gunnar, gerade in einem Literaturforum solltest du dich nicht damit zufriedengeben, dass schon verstanden wird, was du gemeint hast. Außerdem bestand das Problem ja darin, dass dir die genaue Bedeutung von Diktion nicht klar war. Verzeih, aber in bestimmten Fällen erfordert es eine fast übermenschliche Anstrengung, nicht arrogant zu werden.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
da du nichts mehr zu sagen hast, mache ich schluss

das öde und nichtssagende von dir klatsche ich jetzt in die tonne

und tschüss
 
Gunnar, nur nicht schlappmachen. Sprich dich offen aus, wenn es dir dann besser geht. Erleichtere dich auf jede Weise. Man lernt sich so auch besser kennen, d.h. vor allem wir dich.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
vor allem wir dich

wer ist denn 'wir' ... du und deinesgleichen?
da kann doch nur geschwätz und saubermanngetue bei rauskommen
ich bleibe dabei
meine diktion ist es nicht, mich beliebt zu machen - so lange, bis du es kapiert hast

und nun ganz schnell zur etikettenpolizei


gun.
 
wer ist denn 'wir'
Jeder, Gunnar, der hier mitlesen kann. Die Verarbeitung ist dann jedes Einzelnen Sache.

du und deinesgleichen?
Interessant, dass du hier eine Trennlinie ziehst: die für mich / uns und die gegen mich / uns.

da kann doch nur geschwätz und saubermanngetue bei rauskommen
Diese Einstellung von dir zum Wesen von Diskussionen zeigt sich auch deutlich in deinen eigenen Beiträgen.

und nun ganz schnell zur etikettenpolizei
Du willst dahin? Mir passt es schon, wie du deine Offenherzigkeiten hier ausbreitest.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
XX. Schlag nach bei Pongs

Arglos war ich damals, als ich in einem Modernen Antiquariat für ein paar Mark sein „Lexikon der Weltliteratur“ erstand. Der Literaturwissenschaftler Hermann Pongs (1889 – 1979) war mir vorher kein Begriff gewesen. Ich besitze dieses „Handwörterbuch der Literatur von A – Z“ noch immer, schlage gelegentlich darin nach, weniger um mich zu informieren als vielmehr mich zu amüsieren. Ich spreche hier von der 1984 posthum im F. Englisch Verlag erschienen Neuausgabe, nicht von dem ursprünglichen „Kleinen Lexikon der Weltliteratur“ von 1954. Auf dieses hatte damals „Die Zeit“ mit liberal hüstelndem Wohlwollen reagiert: Es sei „natürlich etwas subjektiv geraten … Über manche Deutungen und Formulierungen lässt sich streiten, es sind nicht alle gleich gut geraten, einige komisch verzerrt … Trotzdem ist die Leistung sehr beachtlich und anregend, auch für solche nützlich, die die Literatur erst kennenlernen wollen …“

Ich will keinen Aufsatz über den Professor Pongs schreiben - ich zitiere ihn nur sehr gern. Vorher vergegenwärtige ich mir, dass ihm 1969 die Humboldt-Gesellschaft für seine Lebensleistung die Humboldt-Plakette als Ehrengabe verlieh. Kann sein, dass in Zukunft einmal über Koryphäen von heute ähnlich geschmunzelt oder auch die Stirn gerunzelt werden könnte …

Ich stelle mich also wieder mal dumm, wie einer, der „die Literatur erst kennenlernen“ will. Erfahre ich für mich Nützliches? Erster Versuch: Dostojewski. Pongs vermittelt mir tatsächlich aufregend Neues: „D.s Tochter führt die moralische Stärke D.s auf Einschuss uralten Normannenblutes im Litauererbe zurück.“ Und Joseph Roth hat einen „asphaltglatten Stil, der durch die naiven Impulse des ostgalizischen Ursprungs lebendig unterströmt wird.“ Blut oder Asphalt, bei Pongs scheint immer etwas zu fließen. Wedekind ist „ein Partner Freuds“. Und Freud dann Partner von Wedekind? Hermann Bang kam „aus überalterter Familie“. Was soll das heißen - degeneriert? Bei André Gide erkennt Pongs einen „pervertierten Trieb“, kreidet ihm „Verherrlichung der Homoerotik“ an und wirft diese mit „Knabenliebe“ in einen Topf. Besonders schlecht kommt Doderer weg: „Spiegel schlechthin unbewältigter Widersprüche, als ‚Universalität’ ausgegeben.“ Er wirft Doderer „die Poesie des Spießers“ vor, „österreichische Selbstverliebtheit“, „Verflachung der Theresianischen Kultur“ usw. usf. Prof. Pongs widmet Doderer auffallend viel Raum. Die Parallele wie Differenz zwischen beiden: Doderer, ab 1933 NSDAP-Mitglied, trat 1940 mit inzwischen erreichter Distanz zu den Nazis in die katholische Kirche ein, Pongs im selben Kriegsjahr erst in die NSDAP.

Allmählich werde ich süchtig nach solchen Pongs-Zitaten, das muss mein „pervertierter Trieb“ sein. Also weiter auf Entdeckungsreise durch sein Lexikon, diesmal vom ABC geleitet. Was finden wir denn da?

À la recherche du temps perdu: „Das Laster hat sich schimmelpilzartig vermehrt …“

Bergson, Henri: „Bergsons letzte Wirkung bestimmt sich danach als explosiv, nicht als konstruktiv für eine neue Grundlegung vom Sein.“

Dauthendey, Max: „ … aus ursprünglich spanischem Geschlecht … Von Russland brachte er (Dauthendeys Vater, A.A.) sich die Frau mit, aus dem Kreis süddeutscher Kolonisten, eine herrnhutische Protestantin, auch von dunklem Typus.“

Éducation sentimentale: „Der Dichter zwielichtet selbst: sagt er Ja oder Nein zu solcher Liebe?“

Hofmannsthal, Hugo von: „Von der Großmutter ital. Blut, von der Mutter sudetendeutsches, vom Vater jüdisches …“

Huch, Ricarda: „ … von männlichem Geist.“

Kafka, Franz: „Kafka bedeutet nur erst ein Fragezeichen, gesetzt hinter alle Werte abendländischer Kultur.“

Pavese, Cesare: „ … durch die Selbstmarter seines ‚Tagebuchs’ und die Konsequenz seines Selbsttods berühmter geworden als durch seine zwiespältigen Werke.“

Strindberg, August: „ … von Geburt an in unselige Zwiespälte verstrickt, die sein Weltbild verwirren …“

Thoma, Ludwig: „Th. ist kein Bauer, sondern Studierter, doch aus altem Försterblut …“

Tschechow, Anton: „Menschenverachtung und eine Art schadenfroher Humor halten sich die Waage …“

Updike, John: „Updike gilt stilistisch als arriviert, im Gegensatz zur Wahl seiner Themen.“

Weiß, Konrad: „Meister des einfachen Worts in der Lyrik, aus katholischer Substanz, oft geistdurchdunkelt.“

Wien: „Als Grenzstadt der Ostmark (sic!) Brücke zwischen West und Ost, Europa und Asien. Das kaiserliche Wien strahlt deutsches Wesen in den Balkan aus …“

Genug für heute. Pongs befand sich aufgrund seiner Rolle als NS-naher Literaturprofessor ab 1945 in einem langjährigen Kampf um Stellung und Reputation. Das will ich jetzt nicht nachverfolgen. Es geht diesmal nur ums Lesen und Staunen: zu welch krassem Schwadronieren ein deutscher Hochschullehrer mal fähig war und dass er dafür erst ein Amt und später immer noch ein Publikum fand.

Aufschlussreich ist ferner, wie unbarmherzig er mit Hans Grimm („Volk ohne Raum“) abrechnet – es hat den Anschein, da wird ein mehr oder weniger weit entfernter Geistesverwandter stellvertretend geopfert. Auch seine starke Antipathie gegen Doderer mag sich aus für ihn ärgerlicher relativer geistiger Nähe erklären. Amüsant dann wieder, wenn er von Walt Whitman ein klar homoerotisches Zitat bringt, es ihm aber, anders als bei Gide, Proust und Platen, nicht ankreidet, sondern es in diesen Zusammenhang bringt: „Kameradschaft, Urzelle der Demokratie“. Also auch noch anpassungsfähig gewesen, der Herr Professor.
 

John Wein

Mitglied
Es sind die Schalmeien des jeweiligen Zeitgeistes, so muss man sie schließlich in ihren Worten einnorden. Interessant fände ich in Jahren, die ich nicht mehr erleben werde, wie man die Protagonisten heutiger Popliteratur Provenienz einnordet.
LG, John
 



 
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