Sage und schreibe

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XXXI. Was mir zu Putin einfällt


Karl Kraus 1933: „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“ Über Putin mache ich mir schon Gedanken, doch habe ich Skrupel, sie zu formulieren, zu veröffentlichen. Während der Invasion fliehen Menschen, sterben Menschen – und ich lasse mich davon literarisch, publizistisch inspirieren? Peinliche Vorstellung. Andererseits: Ganz stumm zu bleiben, würde einen Missverständnissen aussetzen. Nun, es gibt Ärgeres. Dennoch zaghafter Versuch für alle Fälle ...

Ginge es auf der Welt vernünftig und gerecht zu, müsste Putin sich vor dem Haager Tribunal verantworten. Dass es nie geschehen wird, legt Schlüsse nahe: über die Beschaffenheit der Welt, in der wir leben. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zum Zynismus. Ist es nicht auch Realpolitik, wenn Selenskyi in höchster Not Verhandlung darüber anbietet, was er vor der Invasion klar abgelehnt hat: Neutralität? Soll ich mich an meinem Schreibtisch radikaler, idealistischer gebärden als der Präsident jetzt im Bunker?

Die Parallele zwischen dem September 1939 und dem Februar 2022 ist augenfällig. Eine Handlungsanleitung folgt daraus nicht. Die Welt damals war eine ganz andere, noch ohne Massenvernichtungsmittel und nicht mit der engen internationalen ökonomischen Verflechtung von heute. Soweit es nicht um Selbstverteidigung geht, verbietet sich der Einsatz atomarer Waffen – er käme Selbstmord gleich. Bleiben Wirtschaftssanktionen und harsche Verurteilung, vielfacher Ausschluss. Das muss man versuchen und es wird an Grenzen des Machbaren, Vertretbaren stoßen.

Ehrliches Fazit: Wenig fällt mir ein zu Russlands Krieg gegen die Ukraine. Bin nur Zuschauer in einem Drama, das uns doch alle direkt angeht, bin es ungern, desillusioniert.
 
XXXII. Von Haupt- und Nebensachen I


(1) Mein, dein, sein Werdegang? Werde-Gang ist schon mal irreführend - eher sind wir wie Läufer auf der Aschenbahn des Lebens, die zeitversetzt ihre einsamen Runden drehen und sich manchmal begegnen.

(2) Bin ich Schriftsteller? Im engeren Sinn wohl nicht. Ist das zu bedauern? Finde ich nicht (sagte der alte Fuchs, dem die Trauben zu süß waren). Es gibt eine spezielle Seite im Netz für Autoren wie mich, da siehst du halb- und dreiviertelprofessionelle Schriftsteller, die sich fürchterlich abstrampeln, Vollprofis zu werden. Für einen Absatz von hundert Buchexemplaren würden manche auch ihre Oma verkaufen. Oder ihren Hund öffentlich verbrennen. Schon die Themenauswahl erfolgt meist nur unter dem Gesichtspunkt: Was ist marktfähig? Und wenn es noch kein Buch über Dampfbügeleisen gibt, dann schreibt man eins und bringt die Propagandawalze in Schwung. Ach, nein, lieber nicht.

(3) Mich ziehen solche Stoffe an, die ich bald unbedingt schriftlich gestalten will. Oder gestalten muss. Ich bin also Textproduzent und verbreite meine Sachen unsystematisch, auf ähnliche Weise wie ein Schmetterling seine Eiablage, vielleicht mit weniger sicherem Instinkt. Warum beschäftigt man sich als Literat überhaupt mit der Nachwelt? Es ist eine Illusion, sie gezielt beeinflussen zu können. Wir sind dann nicht mehr und können diese Zukunft nicht einmal in Umrissen erahnen. Ich glaube nicht an Genie und Originalität, die sich irgendwann durchsetzen oder es wenigstens verdienen. Ich wünsche auch nicht, persönlich ein kleines Stück Weiterleben via Literatur zu ergattern. Warum also dennoch kein Verzicht auf Schreiben und Weitergabe? Ich denke, es sind Zwangshandlungen, die ihren Grund im kulturellen Prozess selbst haben. Wir sind Teil von ihm. Es ist so natürlich wie Einatmen und Ausatmen. Die menschliche Gattung hat offenbar das Bedürfnis, ein kollektives Archiv ihrer Erfahrungen anzulegen. Nur in diesem allgemeinen Zusammenhang erkenne ich Sinn im Schreiben.
 
XXXIII. Von Haupt- und Nebensachen II


(4) Eine Rolle spielen - genau das liegt mir nicht, nirgendwo. Ich bin ziemlich ungesellig, mit Isolation und Einsamkeit wohlvertraut. Ich mache in den Literaturforen, wozu ich gerade Lust habe. Die Leserschaft ist für mich insgesamt eine anonyme Masse, der ich meine Texte zur Verfügung stelle, nichts weiter. Ich betrachte mich nur als Partikel in einem umfassenden kulturellen Prozess. Auf meinen Namen und dessen Geltung kommt es gar nicht an. Wenn aus dieser Masse dann einzelne Gesichter auftauchen, die ich mir merken kann und auch gern merken will, ist mir das natürlich willkommen.

(5) Zum Thema Sprachkunst. Gewiss bleibt ohne sie die Produktion tief unbefriedigend, aber sie ist nicht alles. Man kann sich etwa bei Rilke, Stefan George oder Verlaine noch heute am rein Sprachlichen berauschen, an Melodie, Rhythmus, reichem Ausdruck. Aber kann sich unsere Rezeption allein darauf beschränken? Nur das auf mich wirken zu lassen, empfinde ich bald als schales Vergnügen. Warum fällt mir jetzt gerade Thomas Bernhard ein? Da haben wir vor uns die artistische Routine eines Mannes, der besessen schien von sehr wenigen Themen. Mir sind es zu wenige, und wenn er am Ende nicht ganz so besessen war, wie seine Sprachkunst es erscheinen lässt?

(6) Sex und Liebe als Stoff? Über Sex zu reden, kann einen bis zu Wittgensteinscher Resignation führen. Jede bestimmte Aussage darüber ist zugleich richtig und falsch. Sprache und sexuelle Handlungen erscheinen mir derart verschiedenen Sphären anzugehören, dass sie kaum kompatibel sind. Die Begriffe, die wir insoweit anwenden, die schon bereitliegen, sie decken sich kaum einmal mit der individuellen Wahrheit des jeweiligen Erlebens. Und mit Liebe tue ich mich noch schwerer … In Jahnns „Fluss ohne Ufer“ erzählt Horn seinem Gefährten Tutein gegen Ende ihrer gemeinsamen Zeit seine bittersüßen Jugenderinnerungen, und Tutein stellt sachlich fest: „Du warst schwach in der Liebe.“ Das könnte ich auch von mir sagen und es wäre zugleich vollkommen falsch. Ich finde den Begriff unbrauchbar, ich meide ihn.
 
XXXIV. Von Haupt- und Nebensachen III


(7) Manche wollen Liebe überhaupt für eine Illusion erklären. So weit gehe ich nicht. Ich frage mich nur: Handelt der Liebende tatsächlich jemals gegen seine eigenen Interessen? Ist Liebe wirklich kein Geschäft? Das Charakteristische dieser Liebe-an-sich-Diskussion ist, dass in ihr Liebe zu einem abstrakten Begriff wird, losgelöst von den Umgebungen, in denen sie auftritt. Dabei ist dieser Zusammenhang das Entscheidende: Sie tritt gar nicht rein auf, sondern immer in einer Legierung, in ständig wechselnden Mischungsverhältnissen mit einer Vielzahl anderer Motive, z.B. körperliches Bedürfnis, ästhetisches Vergnügen, Herrschsucht, soziales Geltungsbedürfnis, Versorgungsstreben usw. Wenn Liebe jedoch nie für sich allein existiert, sondern als ein Gefühlszustand definiert werden kann, der sich in den unterschiedlichsten Situationen auf nicht restlos aufzuklärende Weise einstellt, dann frage ich mich: Welchen Wert haben Aussagen über die „Macht der Liebe“? Vielleicht ist sie gar keine Macht, sondern nur ein Nebenprodukt innerhalb unseres emotionalen Stoffwechsels? Auffallend ist, dass Liebe sich in sowohl zeitlicher wie räumlicher Distanz zum Liebesobjekt entwickeln kann, dann manchmal sogar besonders gut. Liebe ist außerdem synthetisch herstellbar. Das zeigen gewisse Produkte der Unterhaltungsindustrie, z.B. Liebesgroschenromane. Ihre Verfasser wissen, wie sie es anstellen müssen, dass eine Leserin sich mit der Heldin vollkommen identifiziert, mit dem Ergebnis, dass sie vorübergehend fühlt wie diese. Ich sehe keinen Grund, den Begriff Liebe zu verklären, sie als einzigartige, auf irgendeine Weise erhabene Grenzerfahrung anzusehen. Dergleichen kennt auch die Religion. Ist unsere moderne Auffassung von Liebe vielleicht nichts anderes als säkularisierter religiöser Inhalt oder gar Wahn?

(8) Lange erschien es mir fragwürdig, dass ich überwiegend Bücher von Autoren lese, die schon lange tot sind. Ich rechtfertigte diese einseitige Auswahl meiner Lektüre vor mir selbst damit, dass sich die Werkbiografien toter Schriftsteller besser überschauen und abschließend beurteilen ließen. Unter dem Gesichtspunkt der Zeitökonomie wollte ich mir Fehlinvestitionen von Lebenszeit in die Lektüre von Werken ersparen, die sich aus guten Gründen nicht durchsetzen würden. Ich weigerte mich also, auf irgendeine Weise an der Kanonbildung zu meinen Lebzeiten mitzuwirken, und machte mir zugleich das Sichten und Einordnen durch Generationen früherer Leser zunutze. Inzwischen habe ich schon so lange gelebt, dass sich abzeichnen müsste, wer in den letzten fünfzig Jahren, ob noch lebendig oder auch schon gestorben, in den Kanon bleibender Namen neu aufgenommen worden ist. Da bieten sich nur sehr wenige an und gerade sie entsprechen zumeist nicht meinem Geschmack, meinen Bedürfnissen. Es kann nicht an einem Mangel an Autoren und Texten liegen, eher im Gegenteil. Der Literaturmarkt ist zu breit, zu vielfältig und geradezu unüberschaubar geworden. Das ist nicht nur eine Frage der Quantität – je differenzierter die Gesellschaft wird und je mehr die Autoren mit ihren Stoffen und deren Gestaltung den Interessen jeweils einzelner Gruppen entsprechen, umso geringer ihre Strahlkraft auf den Großteil der Leserschaft insgesamt. Was jedoch geblieben ist: das Bedürfnis nach einem Kanon mit einer insgesamt doch begrenzten Zahl großer Namen. Also greift man wieder zu den Werken aus jenen alten Zeiten. Virginia Woolf mit „Mrs. Dalloway“, das wird bleiben, aber die Vielzahl von neuen Namen und Werken, die uns etwa der Deutschlandfunk allnachmittäglich präsentiert? Kaum besprochen, schon verweht.
 
XXXV. Von Haupt- und Nebensachen IV


(9) Jahrelang viele Notizen gemacht für einen Roman über die Schwulenszene der 70er Jahre in Berlin und anderswo. Die Konzeption war schon ausgefeilt, aber ich schreibe den Roman nicht. Der Arbeitsaufwand steht in keinem Verhältnis zum absehbaren Echo. Und der Stoff kommt mir jetzt auch schon allzu historisch vor. Das „Sixty years ago“ hat mich vorzeitig ereilt.

(10) Mit mir über Musik ernsthaft sprechen zu wollen, kann frustrierend sein. Ich habe zwar Vorlieben und vermutlich keinen vollkommen schlechten Geschmack, bin aber unfähig, über Strukturen mitzureden. Die gesamte Rock-/Pop- usw. Produktion ist vollständig an mir vorbeigegangen. Das alles habe ich nur als meist angenehmes Hintergrundgeräusch in Bars wahrgenommen. Debussy habe ich daheim oft und gern gehört, "Le martyre de Saint Sébastien", "Jeux", "Nuages", "Khamma" vor allem. Heute bevorzuge ich Minimal Music: John Adams, Philip Glass und Steve Reich. Über Filmmusik zu "Happy Together" entdeckte ich Astor Piazzolla für mich. Merkwürdig, obwohl ich all das nicht analysieren kann, stelle ich fest, dass Anhören produktiv anregend wirkt, Ideen erzeugend und sie bereits im Kopf sortierend. Man setzt sich Qualität aus, nimmt sie als solche unscharf wahr und ihr Einfluss erstreckt sich weit über sie hinaus. Ich höre „Octet“ von Steve Reich und auf einmal ist da der Nucleus eine Erinnerung, an den sich rasch weiteres Material anlagert, zur Stofffülle wird. Die Musik ist zu Ende und mir steht der Text vor Augen, den ich schreiben werde.

(11) Auf heutigen US-Amerikanern lastet oft ein für uns schwer nachvollziehbares Quantum rigider Sittlichkeit und Religiosität. Sie sehen vielleicht aus wie wir Menschen aus Nordwesteuropa, denken, fühlen, reagieren jedoch nicht selten anders. Ein Münchner Freund brachte einmal seinen Lover aus North Carolina mit zu mir. Ich ließ sie Rimski-Korsakows Orchesterstück „Russische Ostern“ anhören. Der junge Amerikaner war darüber ernsthaft verstimmt, nicht aus Gründen, die mit Musik oder Ästhetik zusammenhingen – er fand es an sich „frivol“. Auch E-Musik darf so etwas nicht: ein christliches Fest darstellen und sich dabei der Mittel sakraler Musik bedienen, meinte er. In diesem Fall waren es auch die Glocken, die seine Ablehnung hervorriefen.
 
XXXVI. Von Haupt- und Nebensachen V


(12) Neoliberalismus gibt es natürlich auch im Kopf. Wer seine Sozialisation nach 1980 gehabt hat, ist meist davon geprägt. Das macht die Verständigung mit diesen Leuten so schwierig, wenn man älter als sie ist. Es wurden gewissermaßen Bewusstseinsinhalte privatisiert, d.h. Komplexe, die man vorher in unauflöslichem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Vorgängen sah, werden nun primär durch die individualpsychologische Brille betrachtet. Daher die Renaissance moralischer Werte und Tugenden. Obwohl die ökonomische Grundlage des Neoimperialismus heute stark schwankt, ist das von ihm geprägte Denken noch wenig erschüttert.

(13) Bisexuelle habe ich sexuell meist als normal schwul erlebt. Die Ergebnisse jener bekannten kanadischen Studie haben mich nicht überrascht. Gewiss gibt es zahlreiche bisexuelle Biographien, doch originäre, anlagemäßige Bisexualität halte ich für ziemlich selten. Was mich an Bisexuellen reizte, war durchaus nicht der Sex, sondern die pikante soziale Situation. Etwa, wenn einer auf die Frage: Und wenn die Gattin dich jetzt ertappen würde? antwortet: Sie ist in Miami! und das so hocherfreut und ein bisschen hämisch herauskommt, dass man spürt: Zwischen denen ist ein spezieller Atlantikgraben. Außerdem schien mir, dass sie bei ihren seltenen Ausflügen in die andere Welt ein ungeheures Behagen verspüren und auch selbst verströmen. Wie viel Innigkeit! Geht man jedoch zu sehr auf sie und ihre unerfüllbaren Wunschvorstellungen ein, können sie in Panik geraten. Alles in allem sehr interessante Charaktere.

(14) Robert Musil ist für mich ein seltener Glücksfall innerhalb deutscher Literatur. Er untersucht Tieferliegendes mit einer Art romanischer Klarheit, war Offizier, Ingenieur und Philosoph, dann Erzähler mit hoch entwickeltem Formbewusstsein; satirisch veranlagt und zugleich auf der Suche nach zeitgemäßer Mystik; jedes Werk und Kapitel ein Experiment mit spezieller Versuchsanordnung. Ich habe den Mann o. E. erstmals mit siebzehn gelesen und dann tagelang in den Schulstunden versucht, mich durch Autosuggestion in den von Musil beschworenen „anderen Zustand“ zu versetzen. Einmal ist es mir für einen ganzen Tag gelungen. (Agathe ersetzte ich durch meinen Banknachbarn.) Wo Musil Zeitkritik übt, kommt er mir oft merkwürdig aktuell vor. Sein Werk hat auch eine Nachtseite. Sie wird sichtbar, wenn in der bekannten Schulgeschichte der junge Törless fasziniert und zugleich angewidert beobachtet, wie Reiting Basini zum Objekt sadistischer Bedürfnisse macht. Noch deutlicher wird es in „Der Vorstadtgasthof“. Formal ist das: Kleist meets Thomas Bernhard. Eine Ehebrecherin trifft sich dort erstmals mit einem Fremden, der ihr im Liebesspiel die Zunge abbeißt, alles elegant und kraftvoll erzählt inklusive des viehischen Endes. In Musils Nachlass fand sich etwas über Menschenfresserei, gar nicht brutal, sondern harmonisch, geschmackvoll. Im Mann o. E. vertritt der irre Sexualmörder Moosbrugger diese Seite. - Musils Frauengeschichten und Theaterstücken konnte ich nicht viel abgewinnen.
 
XXXVII. Von Haupt- und Nebensachen VI


(15) Die Bilder von Stefan Hoenerloh sind weniger düster phantastisch als vielmehr eine künstlerische Weiterentwicklung und Interpretation durchaus real vorkommender urbaner Szenerien. Dieser gigantomanische schwere Neoklassizismus hat vor und nach 1900 in der Architektur vor allem der USA eine große Rolle gespielt. Das sind dann diese scheinbar für die Ewigkeit gebauten gutbürgerlichen und später zu Slums verkommenen Stadtviertel in den Zentren z.B. von Philadelphia, Boston usw. Hoenerlohs Thema ist diese Diskrepanz zwischen ideal gedachten und entworfenen Städten und ihrem späteren Verfall. Ist das nicht das Hauptthema moderner Stadtentwicklung überhaupt: dass man seit 200 Jahren mit immer größerem (auch materiell größerem) Aufwand immer Perfekteres baut und den späteren Verfall, die urbane Abnutzung nach wie vor nicht aufhalten kann? In den letzten Jahrzehnten gibt es als Antwort auf diese Problematik eine teilweise Rückkehr zum Kleinteiligen, aber das ist ein untauglicher Versuch, wie sich auch schon zeigt. Mir fällt jetzt als Beispiel Nürnberg-Langwasser ein. Der jüngste Bauabschnitt, kleinteiliger, detaillierter und schon eine Vorahnung der Postmoderne, machte auf mich einen bereits stärker heruntergekommenen Eindruck als die älteren, schlichteren, rein funktionalistischen Teile. Heruntergekommen waren auch die meisten historischen deutschen Altstadtviertel, die im 2. Weltkrieg den Bomben zum Opfer fielen. Materie verbraucht sich, und je größer der materielle Aufwand beim Aufbau, desto bestürzender der Eindruck des späteren Verfalls - den ich ästhetisch sehr reizvoll finde.

(16) Hamburg hätte ich mir als meinen späterhin jahrzehntelangen Wohnort ursprünglich nicht vorstellen können, dann bin wegen meines Partners dahin gezogen. Die Umstellung von Berlin auf die andere (verschlossenere nordwestdeutsche) Mentalität fiel mir schwer. Draußen im Land herrschen oft falsche Vorstellungen von der Stadt. Die Leute haben dann nur die Schauseite im Blick, die ich bürgerlich-steif und insgesamt wenig geschmackvoll finde. Sie spiegelt noch immer das Repräsentationsbedürfnis einer reichen Kaufmannsaristokratie wider: Man ist es sich schuldig. Dafür treibt man gern unangemessenen Aufwand. Andererseits wird auch gespart, und zwar am Notwendigen. Das hat lange Tradition. Der Patrizier denkt ökonomisch, er spart am Gesinde und gönnt sich selbst hin und wieder etwas Besonderes. Also immer ein wenig protzig, aber nie wirklich großartig. Die Kehrseite: Keine zweite große deutsche Stadt hat so ausgedehnte trübselige Wohnviertel für die unteren und mittleren Schichten. Eine monotone, deprimierende Schäbigkeit überall. Verrottete Fassaden, aus Gelbklinker wurde Grauklinker. Zu schmale Straßen und Gehwege. Ein unterentwickeltes öffentliches Verkehrsnetz. Was das Geistige angeht: Der Ruf, prinzipiell liberal und fortschrittlich zu sein, ist unverdient. Die Hamburger Eliten passen sich dem Zeitgeist jeweils nur an. Thomas Freeman, der Biograph von Jahnn – hanseatischer Hamburg-Hasser, schrieb vom „Gestank ihrer Hauptbücher“ – sah das nach vielen langen Aufenthalten in der Stadt so: Maßgebend sei ein in sich geschlossenes konservatives mittleres Bürgertum, das Neuem wenig geneigt sei. Im 20. Jahrhundert gab es zweimal längere Gegenbewegungen, ausgehend von Krisensituationen: vor und nach dem 1. Weltkrieg, dann in der letzten Nachkriegszeit. In diesen Perioden herrschte ein Geist, der mehr an der allgemeinen Wohlfahrt orientiert war, echten Gemeinsinn aufwies (siehe die Architektur von Fritz Schumacher). Um 1910 war es auch eine Reaktion auf die katastrophalen Zustände in den Gängevierteln. Robert Koch sah sich nach der großen Choleraepidemie 1892 dort um und befand, Hamburg habe entschieden die fürchterlichsten Elendsquartiere in ganz Mitteleuropa. Spätestens mit Ole von Beust ist die Stadt wieder zu ihren Traditionen zurückgekehrt, die Elbphilharmonie der gebaute Ausdruck davon. – Die Presse? Die wöchentlich erscheinende ist beachtlich, ist fürs ganze Land und hat sich nach dem Krieg angesiedelt, da Berlin als Zentrum ausgefallen war. Aber es gibt bei 1,8 Millionen Einwohnern nur eine einzige nennenswerte Tageszeitung, das „Hamburger Abendblatt“, deprimierend spießbürgerlich, langweilig und paradoxerweise nicht immer vollkommen seriös. Man vergleiche den Markt für Tageszeitungen in Frankfurt, München und Berlin.
 

petrasmiles

Mitglied
Schön, dass Du hier fortgeschrieben hast und mir so 'Sage und Schreibe' aufgefallen ist - ich lese sehr gerne, was und wie Du schreibst, und werde bald mal ganz von vorne anfagen.
Liebe Grüße
Petra
 
XXXVII. Von Haupt- und Nebensachen VII


(17) Bei mir war das familiäre Umfeld von beträchtlichen Spannungen und komplizierten Vorgeschichten erfüllt, die sich auch topographisch darstellten. Meine Eltern wohnten höchst romantisch in den zugewachsenen Steinbrüchen, aus denen während der Industrialisierung Material für den Bauboom gebrochen worden war. Der Vater meines Vaters, als Pfälzer bis 1918 Berufssoldat im königlich-bayerischen Heer, hatte sich nach seiner Ausmusterung dort als Landwirt ansiedeln lassen. Das war die Welt väterlicherseits: Bauern, Lehrer, Soldaten – alter rheinfränkisch-hugenottischer Mittelstand, der im Abstieg begriffen war. Dagegen waren die Vorfahren meiner Mutter zugewanderte „Proleten“, fortschrittlich, im damaligen Sinne, geistig aufgeschlossen und am materiellen Aufstieg stark interessiert; auch ein jüdischer Zweig dabei. Diese beiden Wurzeln des Familienstammbaums harmonierten nur schlecht. Meine Großeltern achteten ihren Schwiegersohn gering. Wenn ich hinter dem Elternhaus auf die am höchsten gelegene Wiese stieg, hatte ich die zwei Welten (wie die „zwei Wege“ bei Proust) sehr plastisch vor mir liegen: auf der einen Seite in einem Talkessel und an der Hälfte der Bergflanken die Schwerindustrie und die städtischen Wohn- und Geschäftsviertel, in der anderen Richtung dagegen die traditionelle Ländlichkeit eines Feld-, Wald- und Wiesenhügellandes – und ich genau auf der Kante. Diese prekäre Situation hat mich geprägt und noch in Berlin sagte mir einer auf den Kopf zu, ich sei zugleich „in und out“. Meine Wunschstadt ist also eher groß als klein, eher modern als altertümlich, muss aber rundherum sehr viel Platz und Ruhe haben. Hamburg und Berlin erfüllen diese Voraussetzungen. Warum bin ich mit sechsundvierzig in eine kleine Kurstadt auf dem Land gezogen? Wahrscheinlich aus der gleichen Lust am Kontrast, ich war ja weiter viel in Hamburg. Damals hatte ich das Gefühl, die andere Seite sei zu kurz gekommen. Als ich nicht mehr arbeitete und überwiegend auf dem Land war, verdross mich eine Beschaulichkeit, die zum guten Teil aus Vergreisung und ländlicher Idiotie bestand, immer mehr und ich zog noch einmal um, wieder nach Berlin.

(18) Wie authentisch im Sinne von unverfälscht sind wohl unsere jeweiligen aktuellen Stimmen, so wie sie erklingen? Da habe ich meine Zweifel, da ist sehr viel bewusst oder unbewusst der Situation Angepasstes. Ich habe hier als CD eine Thomas Mann-Aufnahme mit seiner Schiller-Schmonzette „Schwere Stunde“. Der Dichter liest selbst, bräsig hochkulturell. Ganz anders dagegen seine Darbietung aus dem „Felix Krull“, die habe ich mal im Radio gehört: leichtfertig dahintänzelnd. Man hört: Ironie, Travestie und dass er weder Stoff noch Zuhörer noch sich selbst gerade vollkommen ernst nahm. Oder Wowereit: normalerweise sonor staatstragend, selbst bei seinen Späßchen für die breite Öffentlichkeit. Aber der Wowereit bei der Verleihung des schwulen Filmpreises „Felix“ (ohne Krull), der hörte sich sehr verschieden davon an, baute immer wieder Kiekser ein, die man sonst nicht von ihm hörte. Wer von uns kennt schon seine eigene Stimme wirklich, sozusagen im Naturzustand? Aber gibt es den überhaupt? Als ich Anfang zwanzig war, schnitt ich mal im Büro unabsichtlich mein Gespräch mit einer Kollegin mit, das Band lief, ohne dass ich es wusste. Ich fand meine Stimme nachher mir unvertraut, ein bisschen wie ein schneller Schleiertanz. Wir sind immer kulturelle Wesen mit einem Rest Naturausstattung. Oder umgekehrt. Jedenfalls ein Mischmasch.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

ich bin ja der Überzeugung, dass es diese Panoramen sind, die uns zum Wachsen bringen. Gerade eine solche Duplizität der Erlebniswelten mit ihren Brüchen und Ausschlüssen fordert uns ständig heraus - mindestens Position zu beziehen, wenn nicht gar, sich entscheiden zu müssen. Meine Mutter stammte aus Sachsen-Anhalt (Mitteldeutschland! Darauf bestand sie!) und ihr Weg führte sie ins Rheinland, wo sie meinen Vater traf. Ich dachte lange, im Osten würden die besseren Menschen leben, weil meine Mutter mehr 'mitbrachte' aus Kindersicht - und man die Schatten nicht sah.
Ich habe mal meine Stimme auf unserem Anrufbeantworter gehört - und dachte, das bin ich gar nicht. Aber es wirklich verquer - bin ich die Stimme, die andere hören, oder 'meine'?

Wieder sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, Petra, für die freundliche Aufnahme meiner jüngsten Bekenntnisse. In deinen Anmerkungen finde ich gleich noch zwei Anknüpfungspunkte:

Ich habe mal meine Stimme auf unserem Anrufbeantworter gehört - und dachte, das bin ich gar nicht. Aber es wirklich verquer - bin ich die Stimme, die andere hören, oder 'meine'?
Es beruhigt mich, dass es anderen auch so gehen kann. Man kann das Thema übrigens bis zum Wahnsinn vertiefen: Vielleicht hört sich die jeweilige Stimme, abhängig vom individuell verschiedenen Gehör, nie für zwei jeweils gleich an? Und ist es nicht beim Geschmack ähnlich? Empfinden nicht zwei Menschen den Geschmack einer Frucht nie vollkommen gleich, da ihre Ausstattung mit Geschmacksnerven ja gar nicht vollständig identisch sein kann? Ähnlich beim Sehvermögen und die durch dieses im Gehirn erzeugten visuellen Eindrücke. Wie gelb ist die Zitrone, die ich vor mir sehe, für den Menschen neben mir? So gesehen wird auch meine eigene Stimme, die mich auf der Sprachbox irritiert, vielleicht für keine zweite Person genauso klingen wie für mich. Ist das nicht auch zum Verzweifeln und Verstummen à la Wittgenstein?

Meine Mutter stammte aus Sachsen-Anhalt
In der Oberschule war mein langjähriger bester Klassenkamerad und Freund frisch aus Sachsen-Anhalt zugezogen (Flüchtlingsfamilie). Die Kommunikation mit ihm hat mich stark geprägt. Zwar nahm ich nie an, im Osten lebten die besseren Menschen, aber er hat mich mit seiner Sprache und Mentalität auf mein eigenes späteres Leben im Osten Deutschlands vorbereitet. Das war dann so etwas wie ein dritter Weg jenseits der beiden divergierenden meiner Eltern und Großeltern.

Freundliche Grüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Ist das nicht auch zum Verzweifeln und Verstummen à la Wittgenstein?
Ich kenne die Anspielung auf Wittgenstein nicht, aber ich sehe keinen Grund zur Verzweiflung. Wenn man die Grundannahme einmal akzeptiert hat, dass es so viele 'Welten' gibt wie Menschen, dass ein gesprochener Satz von jedem Menschen mit anderen Assoziationen bedacht werden und jede Widergabe des Gesagten anders lauten kann, dann ist diese Mehrdeutigkeit doch ein Klacks. Verzweifeln kann man nur, wenn man annimmt, dass es eine Grundordnung, oder ein Basis-So-Sein gäbe (dieses 'an und für sich) - weil man dann (vergeblich) die Nadel im Heuhaufen sucht. Ich persönlich gehe von der permanenten Vieldeutigkeit aus - und insbesondere in der Kommunikation achte ich sehr darauf, bei Wichtigem noch einmal nachzufassen, dass auch jeder Beteiligte von dem Besprochenen die Gleiche Vorstellung hat. Am besten noch schriftlich fixieren, um die Ambiguität wenigstens einzudämmen.
Übrigens habe ich entschieden, dass 'meine Stimme', die ich höre, die Richtige ist. Auf das, was andere an mir wahrnehmen, habe ich sowieso keinen Einfluss.
Zwar nahm ich nie an, im Osten lebten die besseren Menschen,
Das war natürlich ein kindliches Empfinden, bedingt auch durch die Distanz. Es hatte aber auch mit dem kulturellen Gefälle zu tun - im Rheinland hat man das Geld eher in die Kneipe getragen und zu Hause mit 'Apfelsinenkisten' gelebt, während man bei meiner Mutter ein Wohnzimmer für den Alltag und die gute Stube für den Besuch und sonntags hatte. Der fröhliche Rheinländer hat einen Preis für seine Fröhlichkeit gezahlt - und der biedere MItteldeutsche für seine Biederkeit.
Aber abgesehen von dieser moralischen 'Fehleinschätzung' habe ich von Anfang an in Ostdeutschen unverstellte Charaktere erlebt. Der Kontrast war riesig, weil wir im Westen schon gar nicht mehr spürten, wie verbogen wir durch dieses 'mehr Schein als Sein' geworden sind, dieser Wert, der darauf gelegt wurde, was man sich leisten kann, der verinnerlichte Wettbewerbsgedanke. Auch wir haben einen hohen Preis gezahlt für das Wirtschaftswunder. Und es kommt auch nicht von ungefähr, dass ich mit einem Ostdeutschen verheiratet bin - der nie im Leben etwas anderes sein wollte, als er ist. Auf etwas anderem Aufbauen zu wollen, ist vollkommen sinnlos, aber oft genug begnügt man sich mit einem Bild.
(Natürlich führ die Unverstelltheit auch dazu, dass man Arschlöcher leichter erkennt ;) aber das ist hier ja nicht das Thema ...)

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra, vorhin habe ich bloß halb scherzhaft Wittgensteins lebenslanges Bemühen um die Funktion menschlicher Sprache sowie seine daraus resultierende Tendenz zur Sprachverweigerung einmal auf den Gesamtkomplex menschlicher Sinneseindrücke zu übertragen versucht.

Was du schreibst, liest sich sehr vernünftig. Fragt sich nur, ob diese Mehrdeutigkeit wirklich nur ein Klacks ist. Wenn es so wäre, warum sollte man dann derart viel Mühe darauf verwenden, unter Beteiligten die Vieldeutigkeit in eine jeweils gleiche Vorstellung vom Besprochenen zu verwandeln? Zeigt die Mühe nicht vielmehr an, dass es gerade kein Klacks ist und die gleiche Vorstellung eine Utopie? Bekanntlich können sich Menschen darauf verständigen, dass sie sich in einer Sache nicht einigen können - und ich denke, dieses Nichtübereinstimmen erstreckt sich nicht selten auch darauf, worüber man denn im Kern nicht übereinstimmt, also um die Definition schon des Themas, um das es geht. Wir stoßen permanent an Grenzen der Kommunikation, die wir nicht übersteigen können.

Ja, das mit den vergleichsweise unverstellten Charakteren habe ich bei vielen Aufenthalten in Mitteldeutschland (Thüringen, Sachsen) ab 1991 ganz ähnlich erlebt. Das ist aber ein schwieriges Thema, man sollte sich vor monokausalen Erklärungen hüten. Die Differenz könnte im Einzelnen noch ganz andere Ursachen haben, die weiter in die Vergangenheit zurückreichen als nur ein paar Jahrzehnte. Ich habe den Verdacht, dass z.B. auch die Prägung durch vorherrschende Religion (Konfession) hier eine Rolle spielen könnte. Dafür spricht, dass Mentalität wie Auftreten im Alltag auch im Westen Deutschlands große regionale Unterschiede aufweisen, auch bei dem, das du hier angesprochen hast. Es gibt eine Vielzahl von Masken, die wir tragen und hinter denen wir uns selbst verbergen können - wer sagt denn, dass das anscheinend (oder scheinbar?) Unverstellte nicht auch eine Art kollektiver Maske ist?

Für heute eine Gute Nacht
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
seine daraus resultierende Tendenz zur Sprachverweigerung
Das erinnert mich sehr stark an meine Scheu, Germanistik zu studieren, um mir nicht die Literatur verderben zu lassen :)
Fragt sich nur, ob diese Mehrdeutigkeit wirklich nur ein Klacks ist. Wenn es so wäre, warum sollte man dann derart viel Mühe darauf verwenden, unter Beteiligten die Vieldeutigkeit in eine jeweils gleiche Vorstellung vom Besprochenen zu verwandeln?
Ich meinte natürlich im Vergleich zu dem Bemühen, eine Gleichartigkeit des Seins zu erkennen. Ich denke, bei Deinem übrigen 'Einwand' zur Kommunikation sollte man den akademischen vom praktischen Teil unterscheiden - und natürlich spielt der Gegenstand der Kommunkation eine Rolle. Und eigentlich gehört auch noch die Unterscheidung der Involviertheit des Egos dazu. Mit 'akademisch' meine ich den Versuch einer Kommunikation über einen Gegenstand bzw. auf ihn zu. Mit 'praktisch' meine ich, dass sich alle Beteiligten einig sind - z.B. bei einer Projektbesprechung - dass man sich ausgetauscht hat, um ein Projekt voran zu bringen und daher das Bemühen, eine Homogenität herzustellen, einfacher ist. Um so mehr sich jemand mit seiner Aussage identifiziert, desto schwieriger ist die Überwindung der Vieldeutigkeit auf allen Ebenen - und wenn Identitäten berührt werden, ist sie nahezu unmöglich.

Um bei der Stimme zu bleiben: Akademisch betrachtet ist es unerheblich, ob eine Stimme ein 'an und für sich hat', es also eine rationale Bezügsgröße gäbe, die klären hilft, ob eine Stimme die 'echte' ist, die andere hören, oder man selbst. Hier steht die Wahrnehmung im Vordergrund. (Gab es da nicht einmal den physikalischen Nachweis, dass die Beobachtung selbst das beobachtete Objekt beeinflusst?) Ich glaube, dass in dem Moment, wo im nichtprofessionellen Umfeld die Wahrnehmung eine Rolle spielt, alle Versuche, Vieldeutigkeit zu vermeiden, müßig sind und man sich auf das Abenteuer einlassen muss.
man sollte sich vor monokausalen Erklärungen hüten
Da gebe ich Dir vollkommen recht! Auch, was die viel länger wirksamen Traditionen der Religion bewirken! (Da kann ich aus eigener Anschauung Zeugnis ablegen: Obwohl ich bekennende Atheistin bin, kann ich mir einen Ort ohne Kirche nicht vorstellen, will auch, dass sie die Stunden läuten und mag die katholische Pracht viel lieber, als die reformierte Kargheit. - Und genau diese Vieldeutigkeit hätte ich meinen Kindern vorgelebt, wenn ich welche bekommen hätte, und sie weiter geprägt - und so fort).
wer sagt denn, dass das anscheinend (oder scheinbar?) Unverstellte nicht auch eine Art kollektiver Maske ist?
Ich bin sicher, dass es diese kollektiven Masken gab - und dass ich sie sehr wahrscheinlich nicht (er)kenne. Eine ist sicher das Gegenteil zur westlichen Prägung, sich nicht in den Vordergrund zu spielen, sondern dass das Kollektiv zählt. Da die Menschen hüben wie drüben keine anderen waren, kann es nur ein erwünschtes Verhalten gewesen sein, das entsprechend sanktioniert wurde und ein typischer Vertreter einer Maske ist. Und denen es am schwersten fiel, dem zu entsprechen, waren wahrscheinlich die strengsten Ahnder dieses Fehlverhaltens bei anderen. Aber ich glaube nicht, dass die Unverstelltheit dazu gehört; ich sehe keinen 'erwünschten Effekt' darin - zumal im Alltag eine Art Verstellung natürlich dazu gehörte - aber die bezog sich auf abstrakte Werte, nicht das Menschsein.

Glücklicherweise werde ich sehr bald Gelegenheit haben, viel Zeit mit Nachdenken verbringen zu können - noch einmal arbeiten und Samstag geht es in den Urlaub. Und da wir dort kein Internet haben und ich nur ab und zu E-Mails checken kann, werde ich mich dann ein bisschen rar machen.
Aber ich komme wieder :cool:

Gute Nacht und liebe Grüße
Petra
 
Hier sind zwei laufende Nummern versehentlich doppelt belegt worden: Nr. XXV und XXXVII. Leider kann ich den Fehler nicht mehr korrigieren und fahre jetzt fort mit:

XXXVIII. Von Haupt- und Nebensachen VIII

(19) Einmal gab ich bei Google den Namen eines Mannes ein, mit dem ich um 1990 locker befreundet gewesen war. Der Kontakt riss ab, als ich die Bars und Cafés nicht mehr besuchte. Wir hatten uns auch zu Hause getroffen, aber mein freiwilliger „gesellschaftlicher Tod“ schuf eine unüberbrückbare Distanz zwischen uns … Und nun las ich, er sei seit fünfzehn Jahren tot, mit Ende dreißig schon gestorben. So stand es auf dem Vorblatt eines neuen Buches über einen großen Philosophen, das dem Andenken meines Freundes gewidmet war. Ich konnte die Nachricht nur schwer verarbeiten, hatte ich doch in der Zwischenzeit schon in einem Roman aus ihm eine Hauptnebenfigur gemacht. Er spielt darin die Rolle eines ziemlich anspruchslosen Snobisten. So war er tatsächlich: schrieb am Neujahrstag Briefe aus dem Café Kranzler und fühlte sich dort auf der Höhe der Epoche. Und die neue Ledermontur musste von „Amerikas erstem Lederschneider“ sein, der in Portland, Oregon war, und dann passte die persönlich in Oregon abgeholte Jacke nicht. Man musste seine Maße vorher schriftlich dorthin schicken. Ich hatte ihn dazu einen ganzen Abend lang vermessen und ich habe auch das im Roman verwendet. Ich habe beinahe eine Karikatur aus ihm gemacht und vielleicht ist die Figur sogar relativ gelungen. Aber er war mir mehr, einer, der gut zuhören konnte und ein Gespür für Zwischentöne hatte. Er ließ sich von mir anregen, Proust zu lesen und Italo Svevo. Mir empfahl er die Lektüre von Bulgakows „Der Meister und Margarita“. Dem kam ich nach und mit großem Vergnügen, aber erst, als er schon aus meinem Leben verschwunden war. So einer bin ich, einer, der sich von Freunden keine Bücher empfehlen lassen mag, und wenn sie tot sind, wird er ein bisschen sentimental. Woraus man vielleicht wieder einen Text machen könnte.

(20) Heute Morgen auf dem Hamburger Friedhof Nienstedten das Grab von Hubert Fichte gesucht und gefunden. Es verströmt wie sein Werk diese Mischung aus hieratisch und verspielt: kurz gehaltene Buchsabdeckung und aus ihr hervorbrechend und gestutzt zwei Rosensträucher, mittelhoher schwarzer Stein mit unregelmäßig abgebrochenen Kanten, auf der oberen abgelegt zwei kleine graubräunliche Feldsteine. Die Inschrift: Vor- und Zuname in Großbuchstaben, dann Lebensdaten taggenau, darunter ein Empedokles-Zitat in altgriechischer Schrift und Sprache, übersetzt lautet es: „Denn ich war schon einmal ein Junge und ein Mädchen und ein Busch und ein Vogel und ein aus dem Meer springender wandernder Fisch.“ Ich machte es aber nicht wie Josef Winkler, der Erde vom Grab Jean Genets nahm, bloß um daraus wieder Literatur herzustellen. Vor Wochen sah ich schon das Haus des Fichte-Großvaters in Hamburg-Lokstedt. Straße und Haus haben inzwischen den Aufstieg vom Klein- ins Mittelbürgerliche geschafft. Eine Gedenktafel fehlt, kein Wunder angesichts bissiger Anmerkungen des Autors zu den Veränderungen am Haus nach dessen Verkauf. Bei Hans Henny Jahnn wurde sie erst angebracht, als sein Geburtshaus abgerissen und durch einen Standardneubau ersetzt war. (Tagebuchnotiz vom Januar 2012)
 
XXXIX. Von Haupt- und Nebensachen IX

(21) Ich habe jahrzehntelang die Strategie verfolgt, mich vor meinen Eltern nicht offen als Schwuler zu outen, ihnen den Sachverhalt jedoch durch Mitteilen vieler Details zur gefälligen Schlussfolgerung nahezulegen. Die Ergebnisse waren wenig überzeugend. Mein chronisch kranker Vater reagierte auf Erwähnung meines Freundes bis zum Schluss nervös-verunsichert. Ich sagte mir, dass ich ihn besser schonen, also einfach schweigen sollte, zumal ich ja weit weg lebte. Meine Mutter dagegen deutete währenddessen Jahr um Jahr Interesse und Sympathie für meinen ihr unbekannten Freund an. Ich ließ mich täuschen und glaubte, mit dem Tod meines Vaters kämen andere Zeiten und ich könnte dem, mit dem ich schon zwanzig Jahre zusammen war, mein Elternhaus doch noch zeigen. Aber meine Mutter gab mir nun zu verstehen, sie wünsche das nicht, und ich glaube, für sie stand im Vordergrund: Was würden die Leute sagen? Ihre Ablehnung war ein wesentlicher Grund dafür, dass ich nicht mehr hinfuhr. Dann kamen wir bei anderen Fragen über Kreuz und sie verlangte, dass ich sie ganz in Ruhe ließ. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die inzwischen uralte Frau noch immer allein in ihrem großen Haus in dem kleinen Wald lebt. Alle paar Jahre bestätigt mir das Einwohnermeldeamt, dass sie am Leben ist und noch dort wohnhaft. Das ist alles und es macht mir nichts aus. Eine sehr ausgeprägte Mutterbindung besaß ich nie. Ich war zwar Einzelkind, aber nur bei meiner Großmutter mütterlicherseits hatte ich den Eindruck, ich sei für sie ein Individuum mit dem Recht auf eine eigenständige Entwicklung. Für die anderen stand die Funktion innerhalb der Familie im Vordergrund, aber ich bin fortgegangen, habe das von ihnen Aufgebaute nicht übernommen und weitergeführt. Ich habe mich auch tatsächlich selbst enterbt, keine Redensart. - Unterm Strich: Ich hätte es schon früh klar und deutlich sagen sollen, wie die Filmfigur Cédric in „Nur eine Frage der Liebe“. Und dann am besten wegbleiben. Letzten Endes ist es ja doch gerade darauf hinausgelaufen.

(Geschrieben März 2012)
 

petrasmiles

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IX. Über "Nixon in China" - Oper von John Adams
(...)
Um ehrlich zu sein: Ich habe bisher weder eine Aufführung der Oper im Theater noch eine Aufzeichnung gesehen. Ich kenne nur den bei Nonesuch erschienenen Querschnitt (Dirigent: Edo de Waart, Orchestra of St. Luke’s). Er allein genügt schon, um die Qualität dieser hinreißenden Musik zu erkennen.
Die ganze Oper: https://www.youtube.com/watch?v=G72JjpMEdKs
XII. Im Frühlicht Warum gerade diese Erinnerung?
Ich glaube, wir erinnern 'sozial' - uns und unseren Platz in einer Gemeinschaft. Du hast Dich mit Deinem frühen Schönheitssinn herausgehoben und wurdest 'belohnt' - auf jeden Fall nicht negativ sanktioniert. Ich erinnere mich an eine ähnlich frühe Episode, in der ich nicht still sitzen wollte und vom Stuhl krabbelte - und mein Vater hat meine Mutter 'böse' aufgefordert, dafür zu sorgen, dass ich 'brav' bin. Dieser eheliche Konflikt ist tief in mich eingestürzt - nicht nur seinen eigenen Willen (und Drang) zu haben, sondern auch Gegenstand der Interessen anderer zu sein. Vielleicht war das sogar der Moment, wo ich aufgehört habe, nur ich selbst zu sein.
Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

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XV. Vernichtete Briefe Die Preisgabe von Briefen, die man lange wertgeschätzt und aufbewahrt hat, ist es nicht wie Bilderstürmerei?
Wenn es nicht zu intim ist: Die Vernichtung der Briefe in Deinem Leben - es hat etwas Passiv-Aggressives, getan, um zu verletzen, aus einem uneingestandenen Grund - sich selbst, erst recht anderen. Deine Ahnung täuscht Dich - glaube ich - nicht. Dem gegenüber sind die Briefe in Gides Leben eine bewusste, absichtliche Verletzung. Ist das ein Bildersturm? Oder eine Geschichte von zuwenig oder zuviel Liebe?
 



 
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