XL. Von Haupt- und Nebensachen X
(22) Wenn es um lokale und regionale Identität geht, nehme ich viel Nicht-Exaktes und oft auch Ahistorisches wahr. Je länger die alten Zeiten her sind, umso weniger Kenntnisse haben die dort Beheimateten von den früheren tatsächlichen Abgrenzungen und Einwirkungen. Die Begriffe verschwimmen und wandeln sich, werden willkürlich oder schlicht falsch gebraucht. Im Internet hat mal eine junge Frau einen sehr dürftigen Text über „Saarländisch“ veröffentlicht, gemeint war der Dialekt, für sie eine genau bestimmte einheitliche Sprache. Da bin ich ihr in die Parade gefahren, Saarländisch gebe es gar nicht, dafür Rheinfränkisch (bei uns zu Hause) und Moselfränkisch und beide unterschieden sich beträchtlich. Die Antwort war nur beleidigtes Schweigen. Noch ein Beispiel: Die Tourismuswerbung hat es geschafft, der „saarländischen“ Küche starke französische Einflüsse aus der Geschichte anzudichten – aber keine Spur! Herkömmlich ist eine eher bescheidene Arme-Leute-Kost ohne Raffinesse. Nur die sehr gehobene Gastronomie kennt heute französische Küche, wie fast überall in Deutschland.
Das sind alles Versatzstücke einer Pseudoidentität, so ähnlich wie die Sachen, die man in den Bau- und Gartenmärkten für drinnen oder draußen kaufen kann: rustikal, mediterran usw. Wir leben in einer Zeit des Neohistorismus, das hat mit der Postmoderne angefangen. Käufliche Stilmasken, die mit echter Identitätsbildung wenig zu tun haben. Interessant ist auch zu sehen, wie die Medien so etwas prägen. Besonders deutlich ist es an den 3. Fernsehprogrammen. Sie haben alle ein Bild von der jeweiligen regionalen Identität, die sie aber zum großen Teil erst selbst schaffen. Die Moderatoren wie die Reporter werden danach ausgewählt, ob sie in Sprache und Gemütsausdruck diesem Klischee entsprechen. Die in Berlin sind immer wendig, voller Sprachwitz, bohrend, unbestechlich und grundehrlich – die Hamburger reserviert, etwas dröge und vor allem überaus seriös. Ganz schlimm, was sie mit den Niedersachsen im Programm ganz allgemein machen: alles Dorfdeppen, aber mit goldenem Herz, und sie neigen zu kindischen Späßen. Das Üble ist, dass diese Muster sich allmählich tatsächlich ausbreiten. Die Fiktion, ursprünglich bestenfalls stark verzerrte Teilrealität, wird zur realen Normalität. Wer die 789. Aufzeichnung aus dem Ohnsorg-Theater gesehen hat, reagiert ganz automatisch so wie diese Schießbudenfiguren. Der Mensch ist nicht nur, was er isst, er ist auch, was er im Fernsehen immer wieder gesehen hat.
Manche glauben, dass sich nur an der Oberfläche alles angeglichen habe und in den tieferen Schichten die Traditionen dennoch weiterlebten und sich im Verhalten Ausdruck verschafften. Ich denke, dass die Zusammenhänge komplizierter sind, dass die Identität der Person sich heute vor allem aus dem sozialen und materiellen Status sowie der individuellen Bildung ergibt und dass die Gruppenidentität überwiegend eher kulturell vermittelt als noch ursprünglich vorhanden ist. Gerade weil die realen Lebensverhältnisse innerhalb einer Schicht sich landesweit und noch darüber hinaus so stark angeglichen haben, gibt es ein sekundäres Bedürfnis nach kultureller Differenzierung. Der Konsument will nicht bloß Konsument, die Arbeitskraft nicht bloß Arbeitskraft sein, und aus diesem Gefühl des Unbefriedigtseins erwächst das Bedürfnis, mehr zu sein – und dann geht die Suche los im Warenhaus der Identitäten und Mentalitäten. Die einen werden Esoteriker, die anderen Traditionalisten. All das hat etwas Zufälliges und Willkürliches. Sein Spiegelbild hat es im Äußeren der Eigenheimsiedlungen der letzten dreißig Jahre. Was für eine groteske Mischung der Stile und Bauformen, ein kategorischer Individualismus aus der Fabrik - grauslich.
Das Thema könnte mich endlos beschäftigen. Dabei weiß ich, dass ein Einzelner es nicht objektiv zu Ende bringen kann, da er immer an den ablaufenden Prozessen beteiligt ist. Es ist nur natürlich, dass ich diese Einschätzungen so vornehme – schließlich habe ich in meinen jungen Jahren einige radikale Brüche vollzogen. Meine Eltern haben es nie akzeptiert, dass ich weggegangen bin, und meine Mutter hat mir noch am Schluss (bevor wir endgültig auseinanderkamen) vorgeworfen: Du hast keine Heimat! Womit sie nicht so falsch lag. Heimat hat es für mich immer nur im eigenen Kopf gegeben, und es bezeichnet für mich bloß ein Mosaik diverser positiver Bilder, die man sich hier und da verschafft hat und bei sich aufbewahrt. Lassen wir es damit bewenden. Nur zum Abschluss noch ein Wikipedia-Zitat über Stuttgart: Der Ausländeranteil lag 2016 bei 25,2%. 44% der Einwohner Stuttgarts hatten einen Migrationshintergrund. (Ohne die auch zugezogenen Nord- und Ostdeutschen!) Wie traditionell kann da Mentalität überhaupt noch sein?