Sage und schreibe

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Interessant fände ich in Jahren, die ich nicht mehr erleben werde, wie man die Protagonisten heutiger Popliteratur Provenienz einnordet.
LG, John
Geht mir auch so, John. Wer zuletzt lacht usw.? Ja, aber man darf auch nicht zu früh lachen.

Danke für die der Blütenlese gewidmete Aufmerksamkeit. Meine Favoriten in der kleinen Sammlung: "Försterblut" und "geistdurchdunkelt".

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
XXI. Mit reichhaltigem Frühstück

Ich verlasse den Bahnhof der kleinen Stadt und mache mich zu Fuß auf den Weg zum Hotel. Es liegt außerhalb der ummauerten Altstadt. Vor dem Neustädter Tor biege ich in eine Kastanienallee ein. In den schönen alten Villen wohnt kaum noch einer, sie werden überwiegend als Büros genutzt. Es ist schon Feierabend, die Büros sind verwaist und die Parkplätze unter den blühenden Bäumen großenteils leer. Ein Bild des Friedens! Die Firmenschilder glänzen in der Abendsonne. Ein Dentallabor hat ein Spitzbogenfenster mit Milchglas ausgefüllt, das finde ich weniger schön. Der Immobilienmakler daneben versichert: „Wir sind für Sie da seit 1910!“

Halt, denke ich, da stimmt sprachlich etwas nicht. Das ist vor unvordenklichen Zeiten gewesen, für mich hat er damals noch nicht gemakelt. Unvorsichtigerweise beginne ich nachzurechnen und muss bestürzt feststellen, dass mein Geburtsjahr näher am Gründungsjahr der Maklerfirma als an der Gegenwart liegt. Und ich mache mir klar, dass mit jedem Tag in der Zukunft der Abstand zwischen der eigenen Existenz und jenem nebelhaft fernen Jahr 1910 relativ an Bedeutung verlieren muss. Aber so geht es ja allen.

Das „Ascona garni“ dürfte auch aus jener Zeit zu stammen. Es ist in einer geschmackvollen Jugendstilvilla untergebracht. Ich durchquere den Garten, über dem schwerer Fliederduft hängt. Eine Löwenfratze als Türöffner – besser als ein Medusenhaupt. Ich gehe über den roten Läufer auf die Rezeption zu und verwandele mich aus einem Reisenden in einen Gast.

Herr Wechsler, der Direktor, scheint mich gerade jetzt erwartet zu haben. Zumindest behauptet er das, als er mir, noch sehr elastisch für sein Alter, im Foyer entgegeneilt. Dabei hat man sich bloß am Vorabend telefonisch und ohne genaue Zeitangabe angemeldet. Herr Wechsler verhält sich stets so, ohne Ansehen der Person, wie ich im Lauf der Zeit feststelle. Womöglich ist Herr Wechsler nicht nur der Direktor des Hotels, sondern auch dessen einziger Angestellter. Nur ihn bekommen die Gäste beim Empfang wie beim Frühstück zu Gesicht. Wahrscheinlich hat er für die Zimmer eine Hilfe – sie könnte übrigens gründlicher sein.

Der Direktor ist eine gepflegte Erscheinung, nur seine Munterkeit etwas verdächtig. Er redet gern und viel, geht auf Fragen nicht immer ein, stellt seinerseits Gegenfragen und nimmt die Antworten darauf oft nicht einmal zur Kenntnis. Falls er nicht schwerhörig ist – sollte er etwa trinken? Das würde auch den Tremor erklären. Es kann ferner vorkommen, dass er dem Gast einen falschen Zimmerschlüssel aushändigt. In diesem Fall geht man wieder hinunter und bekommt sogleich den richtigen. Während ich mir die nicht enden wollenden Entschuldigungen geduldig anhöre, kommt mir der Mund des übereifrigen Direktors allmählich näher und ich nehme nun auch den typischen Geruch wahr. Davon abgesehen ist das „Ascona garni“ ein mehr oder weniger adrettes Haus, durchaus zu empfehlen.

Das Frühstück ist für ein Haus dieser Größe ungewöhnlich reichhaltig. Da wird wirklich alles aufgeboten. Nicht nur dass Herr Wechsler Brötchen, Kaffee, frische Wurst und frischen Käse samt Butter und einem Ei auf den Tisch bringt – Konfitüre und Honig stehen auf ihm schon bereit -, er ermuntert mich noch, mich nach Belieben am Buffet zu bedienen. Es gibt also noch ein Frühstücksbuffet zusätzlich? Bei so wenigen Gästen? Dort drüben warten Säfte, Flocken, diverse Brotsorten, wohl frisch angemachte Salate, Frikadellen, sogar Rollmöpse, eingelegte Eier und noch vieles mehr. Es fällt mir schwer, mir einen Überblick zu verschaffen. Ich schenke mir ein Glas Saft ein, gieße Milch über das Müsli, meide instinktiv den leckeren Fleischsalat und nehme nur noch eine abgepackte Ecke Weichkäse mit.

Herr Wechsler kommt erneut zu mir, jetzt nur, um Gesellschaft zu leisten. Ein Einzelreisender erregt nun einmal leicht Mitleid. Der Direktor verkürzt mir die Mahlzeit, indem er seine berufliche Laufbahn schildert. Überall sei er schon gewesen, auf Sylt, in Bad Pyrmont, in Reichenhall … Die Gesellschaft schicke ihn überall hin, wo Betriebe zu sanieren und rote Zahlen zu beseitigen seien. Er ist sichtlich mit sich zufrieden und bläst den Rauch seiner Zigarette in meine Richtung, wo ich in einer Polsterecke wie gefangen sitze und nicht ausweichen kann. Herr Wechsler hat es sich schräg gegenüber bequem gemacht.

Plötzlich ekele ich mich. Der Weichkäse, den ich für lange haltbar angesehen habe, ist stark verschimmelt … Und ich habe, abgelenkt vom gut geölten Redefluss, schon die halbe Ecke verspeist! Der Ekel wird rasend schnell zum Brechreiz. Ich stoße im Aufspringen gegen den Tisch, dränge mich am Direktor vorbei, indem ich hinter der vorgehaltenen Hand ein leises „Pardon!“ hauche, und erreiche mit Mühe den Waschraum.
 
XXII. Die Toten werden jünger

Da hat einer Ausschnitte aus Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von 1971 ins Netz gestellt. Ich habe den Film nur einmal gesehen – 1972 – und bin jetzt neugierig, ob ich auf bekannte Gesichter stoße. Ich mache zwei Entdeckungen …

Da ist Henny, der Wirt der „S-Bahn-Quelle“ - ich weiß nicht, ob er es damals schon war; ich bin ihm erst in den folgenden Jahren begegnet. Die „Quelle“ lag in Charlottenburg, an einem stark verkommenen Durchgang zwischen dem Stadtbahnviadukt und hohen alten Häusern. Noch immer ist dort der Zugang zum S-Bahnhof Savignyplatz – doch die Ecke ist sehr verwandelt. Wo seinerzeit eine stimmungsvolle Szene für „Cabaret“ gedreht werden konnte, findet man jetzt nur eine langweilige Gasse zum Shoppen vor. Und ausgehen? Ja, wenn man braver Mittelschichtler und am besten auch noch Tourist ist.

Henny spielt sich selbst, d.h. er „tölt“, er macht sich schlangenhaft an diesen oder jenen ran, um im letzten Moment neckisch zurückzuweichen. Man weiß nie, über wen er sich mehr amüsiert, über sich selbst oder sein jeweiliges Gegenüber. Genauso wie im Film trat er als Kneipenwirt auf. Mit Parodie und Selbstpersiflage machte er sich weniger zum Affen als zu einer Art Mutter Courage der Ledermänner. Sein Lokal florierte einige Jahre lang auch dank emsigen Besuchs von Strichjungen wie von linken Studenten. Das Interieur: schmutzstarrend, die Angestellten: erbarmungswürdig. Barry Graves war dort Stammgast, Praunheim sah man manchmal, Fassbinder, wenn er in der Stadt war. 1975 wurde eine Konkurrenz eröffnet und die „Quelle“ verödete rasch. Brachte sich Henny deshalb nach einiger Zeit um? Möglich, ich weiß es nicht. Ich habe seine weitere Geschichte im Kopf, wenn ich mir seinen Auftritt bei Praunheim jetzt ansehe. Er übt gewissermaßen noch. Es ist derselbe Mensch, nur jünger. So kenne ich ihn und habe ihn so jung doch real nie gesehen.

Noch irritierender erlebe ich den gleichen Effekt bei Manfred Salzgeber. Er gibt im Film von 1971 einen speziellen jugendlichen Liebhaber, halb junger Groucho Marx, halb Alain Delon. Noch ist er hübscher, als ich später für möglich gehalten hätte, dabei eloquent, diskutierfreudig und von behänder Beweglichkeit. Dass der professionelle Cineast Salzgeber selbst schauspielerisches Talent besaß, ist neu für mich. Nicht vor der Mitte der Siebziger lernte ich ihn bei Gesprächen flüchtig kennen, und wir unterhielten uns länger erst nach meinem Weggang von Berlin. Ich traf ihn einmal in Amsterdam, wo er für Zeitungen schrieb, und er erklärte mir die soziale Unruhe, die gerade im Tulpenstaat herrschte. Später kam er ab und zu nach Hamburg, um neue Filme anzusehen – er war jetzt auch Filmverleiher -, und lief mir dann nachts über den Weg.

Ein letztes Mal sah ich ihn 1985. Wir redeten kurz über den Film eines gemeinsamen Bekannten, dann erzählte er mehr als sonst von sich selbst. Ich habe mir immer gesagt, erklärte er mir, wenn du erst mal vierzig bist, fickst du weniger und schreibst mehr … Er sprach von Verträgen für Drehbücher und skizzierte mir den großen Roman, den er zu schreiben begonnen hatte. Er kam ohne falsche Bescheidenheit aus: Man wird vielleicht einmal an Dostojewski denken … Ich finde insoweit keine Spur einer Veröffentlichung. Er sagte auch schon einschränkend: Falls ich nicht zuvor von einer Seuche hinweggerafft werden sollte … Im August 1994 ist er an AIDS gestorben, vier Wochen vor Barry Graves.

Damals lud er mich am Schluss auf ein Bier ein – es war das Bier, das gewöhnlich mehr bedeutet. Ich sagte nein, und er empfahl sich rasch. Wenn ich ihn von nun an für immer fortgehen sehe, dann tut er es nicht länger auf die bisher von mir erinnerte Weise: skeptisch, gedankenvoll und durchaus nicht mehr jung, sondern mit dem Elan, dem Optimismus und der Jugendlichkeit aus Praunheims Film. Meine Toten werden jünger. Ich erlebe sie posthum auf eine Weise, wie sie mir zu ihren Lebzeiten nie begegnet sind. Es sind noch entwicklungsfähige Wesen. Wahrlich, das sind jetzt Zeiten, in denen die Zeit rückwärts zu laufen beginnt.
 
XXIII. Tucholsky rüffelt Brecht: Keine Plagiate!

Immer neue Fälle von Plagiaten führen zu immer derselben verengten Diskussion. Sie erschöpft sich in der Regel im Beharren auf dem Rechtsstandpunkt. Jenseits von ihm ist nichts denkbar, nicht diskutierbar. Der Schutz geistigen Eigentums scheint zu den Grundwerten zu gehören, die man immer und unbedingt zu verteidigen hat, auch gegen Relativierung. Gewöhnlich wird als Grundmuster dieses Bild gezeichnet: Schwächliche, unbegabte, faule Zeitgenossen bedienen sich der Werke anderer, indem sie Teile davon als eigene Schöpfung ausgeben. Der Vorgang ist immer parasitär, führt zur Schwächung des ehrlich arbeitenden, leistungsfähigeren Autors. Die Wegrichtung ist gewöhnlich die vom Höheren zum Niedrigeren, vom Besseren zum Schlechteren.

Mir kam in diesen Tagen eine Erinnerung an einen sehr alten Text. Ich ziehe daraufhin einen Band Tucholsky aus dem Regal und finde, was ich suche: Der Artikel „Die Anhängewagen“ ist im Mai 1929 in der „Weltbühne“ erschienen und gegen Bertolt Brechts Umgang mit fremdem Eigentum gerichtet. Tucholsky beginnt mit Brecht und endet mit ihm. Dazwischen zieht er noch gegen, wie er es sieht, parasitären Umgang mit fremden Lebensläufen in Biografien zu Felde und verurteilt beispielsweise Stefan Zweigs Arbeitsweise scharf. Aber Brecht bleibt doch der eigentliche Adressat. Tucholsky bezieht sich vor allem auf dessen „Dreigroschenoper“ und auf missbräuchliche unautorisierte Verwendung fremder Übersetzung: „Es ist Bert Brecht nachgewiesen worden, dass er bei einer Übertragung aus dem Französischen einen Übersetzer bestohlen hat. Er hat darauf geantwortet: das beruhe auf seiner grundsätzlichen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums. Das soll sehr rebellisch klingen – es ist aber nur dumm.“ Am Ende des Artikels kommt Tucholsky selbst darauf, dass außer Dummheit auch Geschäftstüchtigkeit eine Rolle spielen könnte. Erst als die „Dreigroschenoper“ kommerziell ein großer Erfolg geworden war, schlüpfte Brecht, für Tucholsky unerträglich, vollends in die Rolle des Autors. Tucholsky kommt nicht auf die Idee, dass gerade das zum weiteren anhaltenden Ruhm des Werks noch beitragen könnte.

Profitiert hat Brecht auch von der Arbeit mehrerer Frauen, die nacheinander oder zur selben Zeit mit ihm zusammenlebten. Sie arbeiteten ihm zu, texteten fleißig und fügten nicht unwesentliche Bausteine in sein Gesamtwerk ein. Zumeist wurden sie als Mitautorinnen nicht angegeben. So trugen sie mit an der Arbeitslast, trugen bei zu seinem Ruhm, aber eben auch zur Aufnahme des gemeinschaftlich entstandenen Werks in den Kanon der Weltliteratur. Ihre Rolle bei der Entstehung des Werks wurde im Lauf der Zeit immer wieder von anderen kritisch durchleuchtet, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Manche erklären Brechts Verhalten als schäbiges Ausnutzen der Arbeitskraft von auf die eine oder andere Weise von ihm abhängigen Frauen. Andere wiederum sehen die Kooperation im Kontext eines damals neuen, unter Progressiven sehr populären Ideals gemeinschaftlichen Arbeitens. Feststellen darf man, dass sich Rang und Nachruhm z.B. von Elisabeth Hauptmann wesentlich aus ihrer Stellung innerhalb des Brecht-Kollektivs speist. Und: Die „Laxheit“, deren Brecht sich rühmte, war außerordentlich produktiv. Die Marke „Brecht“ setzte sich auf Dauer durch. Wer hatte und hat den größeren Nutzen davon, der Autor selbst oder wir, die Nachwelt?
 

John Wein

Mitglied
OTE="Arno Abendschön, post: 823715, member: 12914"]
Der Schutz geistigen Eigentums scheint zu den Grundwerten zu gehören
[/QUOTE]

Scheint nicht, es gehört dazu!, denn auch geistiges Eigentum ist persönliches Eigentum, also Besitz, der in diesen Fällen zur eigenen Bereicherung auch entwendet werden kann. Wenn Brecht den (geistigen) Diebstahl mit Laxheit im Umgang mit fremden Werken bezeichnet, mag das damals mit einer abgeltenden Handbewegung folgenlos entschuldigt worden zu sein, heute hat es mit Recht Konsequenzen.

Es gab das nicht nur in der Literatur, auch z.B. in der Malerei. Die großen Meister der Kunst saßen keineswegs immer persönlich an der Staffelei, sie hatten eine Werkstatt mit vielen "Handwerkern" der künstlerischen Pinselkunst und webten dann vielleicht, haste was kannste, eine Haarsträhne ins Portrait. Die Nachtwache von Rembrandt z.B. hat das Genie nicht allein ausgeführt, sein Leben wäre zu kurz für die vielen weiterenBilder gewesen. Die Werke (siehe Werkstatt!) bezeichnen den Meister als Urheber manchmal versehen mit "nach" oder sogar "Werkstatt von.... Diese Geschichte wäre heute undenkbar!

Aber generell, lieber Arno, lässt sich darüber trefflich argumentieren und streiten. In dem Sinne!

Gruß, John
 
Scheint nicht, es gehört dazu!, denn auch geistiges Eigentum ist persönliches Eigentum, also Besitz, der in diesen Fällen zur eigenen Bereicherung auch entwendet werden kann.
Lieber John Wein, bei der Formulierung "Grundwerte" habe ich an den entsprechenden Katalog in Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union gedacht:

Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.

Der Rechtsschutz geistigen Eigentums hat nicht diesen absoluten Vorrang.

Was du über frühere Praktiken in der Malerei schreibst, belegt den kulturellen Wandel, der im Lauf der Zeit stattgefunden hat. Dieser Prozess dürfte jedoch nicht für alle Zeiten zum Stillstand gekommen sein. Neue Techniken der Verbreitung, massenhafte Produktion wie massenhafter Konsum geistiger Güter haben die Realität gegenüber der Situation im 19. und im größten Teil des 20. Jahrhunderts schon sehr verändert und werden dies weiterhin tun, so dass es früher oder später auch zu Änderungen im Recht kommen wird. Der Rechtsschutz ist doch schon heute in der Breite gar nicht mehr gegeben.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
XXIV. Stehende Ewigkeit in Lichtenrade

An diesem Spätsommernachmittag sitze ich wieder einmal mit Sascha in einem Café in Berlin-Lichtenrade. Gemeinsam schweigen wir und ich hätte Zeit, mich an so viel mit ihm Unternommenes zu erinnern. Stattdessen wenden sich die Gedanken sehr viel länger Zurückliegendem zu. Ich mache mir klar, dass dies ein Zeichen des Alterns ist: Das Vergangene kann in beliebiger Reihenfolge aufgerufen werden, und was vor sieben Jahren war, erscheint dabei nicht bedeutender, nicht eindrucksvoller als das von vor sieben mal sieben Jahren. So lange ist das wirklich schon her und ich erinnere mich so genau noch an manche Details?

Damals unterhielt ich einige Monate lang ein, mit Verlaub, Fickverhältnis zu einem jungen Mann aus Lichtenrade. Gewöhnlich kam Axel zu mir nach Moabit, nur selten war ich bei ihm, einmal an einem Freitagabend, mit der Einladung verbunden die Information, Onkel Hans würde uns beim Abendessen Gesellschaft leisten. Der scherzhaft als Onkel Bezeichnete war Axels väterlicher Liebhaber, älter als wir beiden jungen Männer zusammen. Er war ihm Vater- und Mutterersatz, seine Stütze und sein Rettungsanker und sein Bettgespiele. Stell dir vor, sagte Axel einmal mit gesenkter Stimme, als wäre das Folgende nicht sehr rühmlich, Onkel Hans war Soldat bei der Wehrmacht, er hat sogar am Schluss den Krieg im Osten noch mitgemacht …

An jenem Abend aßen wir also zu dritt in Axels Ein-Zimmer-Wohnung. Onkel Hans kannte ich schon, ich hatte einmal mit Axel bei ihm Kaffee getrunken. Der Onkel hatte sympathisch gewirkt, unkompliziert, kein Anzeichen von Eifersucht festzustellen. Jetzt beim Essen stellte ich mir den Mann von damals um die Fünfzig wie unter Zwang immer wieder in Feldgrau vor. Der Krieg kam nicht zur Sprache, war dennoch in meinem Kopf gegenwärtig. Ein Vexierbild trieb da sein Unwesen, mal war es Axels viel älterer Geliebter, mal ein Brustbild meines eigenen, noch sehr jungen Vaters in Wehrmachtsuniform. Jahrzehnte behauptete es seinen Platz auf Mamas Vertiko, und wie sehr es mich bei meinen immer seltener werdenden Besuchen irritierte, dieses Foto aus Russland mit seiner unveränderlichen halbschüchternen Jungmännlichkeit, wie festgefroren, während ich mich rasch immer weiter zu entwickeln glaubte. Onkel Hans erschien mir nun unvorstellbar alt, er wirkte geradezu unnatürlich alt. Heute, wieder einmal in Lichtenrade und fast fünfzig Jahre später, versetze ich mich in seine Rolle damals und konfrontiere ihn erst mit den zwei blutjungen Männern am Tisch ihm gegenüber und gleich danach, ohne ihn selbst weiter altern zu lassen, mit mir, so wie ich gerade mit Sascha Kaffee trinke. Wie jung mir der Onkel auf einmal vorkommen muss … Seltsame Experimente mit der Zeit und ihren schwankenden Gestalten sind das.

Wir plauderten damals nur über Unverfängliches, auch nach dem Essen noch. Als der Beschluss gefasst war, zu Bett zu gehen, nahm mich Axel neben seinem Lager beiseite, während der Onkel weiter auf dem Sofa saß. Du gefällst dem Onkel auch, sagte Axel leise, kann er zu uns kommen – also eine Sache zu dritt? Ich lehnte flüsternd ab und Axel überbrachte die Botschaft dem Onkel, für mich kaum hörbar. Für ihn wurde dann rasch auf dem Sofa aufgebettet. Während ich kurz darauf Axel im Bett umarmte, hörte ich ihn im Geist zum Onkel sagen: Laden wir ihn für Freitag zum Essen ein und nachher sehen wir ja, wie er reagiert, du weißt schon … Onkel Hans musste noch wach liegen, und ich versuchte, das Peinliche unserer Lage wegzuküssen. Am anderen Morgen gaben wir uns alle drei unverändert gleichmütig. Axel erzählte beim Frühstück vom Abflammen seiner Zimmertür. Er hatte sie erst bemalt, dann ausgehängt und auf den Hof transportiert. Bei seinem Hantieren mit dem Gasbrenner seien die Nachbarn unruhig geworden. Kann sich aber sehen lassen, sagte Axel, sieht neu und doch irgendwie auch alt aus, richtig chic, oder?

Den Onkel bekam ich danach nie wieder zu Gesicht. Axel blieb mir noch eine Zeitlang erhalten. Aber tatsächlich verloren habe ich beide nie, auf Dauer sind auch sie Teil meiner Entwicklung, meiner Geschichte, meiner Wirklichkeit, nicht anders als Sascha, mit dem ich jetzt gerade das Lichtenrader Café verlasse.
 

John Wein

Mitglied
Ja Arno,

Dejavus treiben mitunter ein inspirierendes und aufregendes Spiel in unserem Kopf. Die Erinnerungen verschmelzen dabei auf wundersame Weise oft sogar zu spürbaren Nachempfindungen und Gefühlswallungen. Als Zeit- und Geschichtserinnerung empfinde ich sie in deiner Tagebuchgeschichte als berührend und einfühlsam verfasst.

Ein interessantes Thema! Und, schreiben kannst du!

LG John
 
Danke, John Wein, für verständnisvolle Bemerkungen. Da wir hier im Tagebuch sind, kann ich ja noch etwas zum Thema Passendes anhängen. Vor einigen Jahren hatte ich in der Mediathek eines TV-Senders ein unerwartetes Déjà-vu-Erlebnis - ich stieß auf eine ausführliche Dokumentation über einen alten Mann, dessen viel jüngere Erscheinung ich einige Jahre davor bereits zu einer Romanfigur gemacht hatte. Es war hochgradig ernüchternd. Da waren noch immer die von mir seinerzeit festgestellten und sehr geschätzten Wesenseigentümlichkeiten, aber sie hatten sich im Lauf der Zeit zu etwas schwer erträglich Banalem zersetzt, waren ein wenig wie ranzige Butter geworden. Meinen elegischen Romanschluss hätte ich mit Kenntnis dieser Entwicklung so gar nicht schreiben können. Dabei war sie mit etwas Lebenserfahrung durchaus vorhersehbar gewesen. Was das Leben eben so mit uns macht: Wein in Wasser verwandeln. Das wäre mal ein lohnendes Thema für erzählende Literatur. Ich fürchte nur, es wird kaum Autoren und noch weniger Leser geben, die so etwas inspirierend finden.

Freundliche Grüsse
Arno Abendschön
 
XXV. Ein neuer Autor!

Wie entdeckt man für sich einen neuen Schriftsteller, ich meine, einen, von dem man bisher weder Werk noch Namen kannte und der einen bei der Lektüre wie selten einer in Bann schlägt? Bei mir lief das gerade so ab: Elf Tage im märkischen Bad Freienwalde verbracht und täglich an dem stattlichen Eckhaus oben am Markt vorbeigegangen, da war eine Gedächtnistafel für den dort geborenen Hans Keilson - nie gehört. Der Name blieb dennoch hängen und ich fand ihn in der Ferienwohnung wieder, da lag ein Bildband, für das Keilson das Vorwort geschrieben hatte, freundliche, klug formulierte Zeilen über seine Kindheit und Jugend in der kleinen Stadt. Das hatte etwas von konkreter Milde und nahm mich sogleich für den Verfasser ein.

Wieder in Berlin. Ich recherchierte und erstaunte: welch ein Leben, schwer und ertragreich. 1909 als Sohn eines kleinen jüdischen Textilkaufmanns dort im Oderbruch geboren, nach der Schule in Berlin Medizin studiert, daneben – mit Anfang zwanzig! - einen autobiographischen Roman über die Zeit um 1930 geschrieben, der pünktlich zur Machtergreifung 1933 bei S. Fischer herauskam und bald verboten wurde. Keilson bestand sein Examen, dufte aber nicht als Arzt arbeiten. 1936 Emigration in die Niederlande und dort die deutsche Besatzung im Untergrund und Widerstand überlebt. Nach dem Krieg noch einmal studiert und Psychiater geworden. Und er schrieb wieder, Prosa und Lyrik, publizierte, war gut vernetzt, bekam Auszeichnungen. Gestorben ist er 2011.

Ich bestellte sofort die zweibändige Ausgabe seiner Werke von 2005, hatte sie zwei Tage später in Händen und lese nun seinen Erstling „Das Leben geht weiter“. Die Lektüre geht mir nahe. Da ist Neue Sachlichkeit und zugleich die nervöse und doch gebändigte Hypersensibilität des späteren Psychoanalytikers. In einem zur Neuauflage 1984 verfassten Nachwort räumt Keilson unumwunden ein, das Buch sei seine und die Geschichte seiner Eltern während der Weltwirtschaftkrise. Ich habe erst ein Drittel des Buches gelesen. Der Vater treibt dem Bankrott entgegen, der Sohn beobachtet ihn und die Mutter genau und schildert sie mit zartfühlender Akribie. Den Text heute zu lesen, ist doppelt schmerzlich: Keilsons Eltern wurden 1943 in Auschwitz umgebracht. Ich breche hier ab, um gleich wieder zum Buch zu greifen. Später vielleicht mehr …
 
XXV. Das Gastmahl des Trimalchio heute

Das Folgende ist buchstäblich wahr, so etwas erfindet man nicht. Ich muss etwas ausholen … Auf einen Text von mir hin wurde ich freundlich auf „Das Gastmahl des Trimalchio“ hingewiesen. Ich eile also zum Bücherschrank, greife nach dem Petronius – und etwas fällt heraus: ein vergilbter Zeitungsausschnitt. Es fehlen Datum des Artikels und Titel des Presseorgans. War es die „Frankfurter Rundschau“? Werner Petermann, Verfasser des Beitrags, möge es mir nachsehen, wenn ich ohne korrekte Quellenangabe zitiere.

Man schritt damals in Frankfurt zu kultureller Großtat. Ein neues Gesamtkunstwerk sollte es werden. Es verneigten sich vor der Dichtkunst der Antike die Darstellende und die Bildende Kunst und holten gleich noch die Kochkunst mit ins Boot. Die Koch-Kunst-Schule von Prof. K … an der Städelschule wollte einen Ausschnitt des berühmten Gastmahls nachstellen, nicht als Lebendes Bild, sondern ganz naturalistisch für die Sinne: sehen, riechen, schmecken.

Der Hauptdarsteller war ein totes Schwein, nicht irgendeines, sondern „ein durch Rückkreuzung gewonnenes altes deutsches Hausschwein“. Es war auf raffinierte Art geschlachtet, „per os und anus“ ausgeweidet, erst mit Kräutern und nach langem Aufheizen mit Würsten gefüllt und zu Ende gegart worden.

Auftritt: DAS SCHWEIN. Herr Petermann rümpft schon die Nase: „So verbreitete sich, als das Dreizentnerschwein auf einer riesigen Schüssel hereingetragen wurde, sofort ein peinlich-penetranter Geruch von süßem Fleisch und Fäkalien, der sofort den Verdacht aufkommen ließ, dem Metzger könnte beim Ausräumen des Tieres ein Kunstfehler unterlaufen sein.“ Weiter fallen ihm auf: „ … die Außenhaut des Tieres unansehnlich braun und zum Teil in Fetzen abgelöst … weite Partien des Tieres noch fast roh …“ Es muss nachgegart werden, doch: „Die Stücke, die man nach sehr langer Zeit auf den Teller bekam, schmeckten sehr intensiv nach Schwein, … waren aber meist lauwarm oder gar kalt.“ Und was den Kritiker ebenso stört, ist „das hässliche halb ausgebeinte und zerschnippelte Restgerippe“ vor den Gästen. (Sie haben immerhin 30 Deutsche Mark pro Person bezahlt.)

Sein Fazit fällt vernichtend aus: „Der Städelkoch … hätte bei Trimalchio keine Chance gehabt, der Prügelstrafe und einer Versetzung in die Melkerbrigade zu entgehen.“

Unser Gewährsmann verschweigt uns manches, Fragen bleiben unbeantwortet. Saß oder lag man bei Tisch? War die Tunika „de rigueur“? Und ließ das Personal Wünsche offen? In einem Film habe ich einmal einen altrömischen Festschmaus gesehen. Die Bedienung bestand dort aus schwarz gelockten Knaben. Man bediente sich ihrer, indem man – Sie werden es nicht glauben – an ihren Locken die vom Essen fettigen Finger abwischte. So toll trieben es die alten Römer.
 
XXVI. Das verschwiegene Grauen

Zum Schönsten, das Robert Walser geschrieben hat, gehören seine Porträts Berliner Zimmerwirtinnen. Ich würde ihm gern nacheifern, doch fehlt es mir zu der Person, die ich dafür im Auge habe, an Material, an Details, an Hintergrundwissen. Und gerade dieses Defizit ist so bezeichnend, so vielsagend, seiner Ursache nachzugehen, eine vielleicht doch reizvolle Aufgabe.

Ich war blutjung und sie gewiss schon über siebzig; schlank, nur mittelgroß, fast zierlich und dabei rüstig. Wenn ich ihr am Monatsersten die Miete in ihr Zimmer brachte, empfing sie mich so, wie sie sich immer verhielt: freundlich und nüchtern, stets ansprechbar, doch kaum einmal zu Gesprächen aufgelegt. Sie war für einen da, sie sorgte für alles, sie machte nie Ärger. Für einen jungen Menschen, den Coming-out und Ausbildung schon ausfüllten – und zwar in dieser Reihenfolge -, war sie die ideale Zimmerwirtin. Man musste sich für ihre Person nicht weiter interessieren. Ihre große Wohnung lag in einer Seitenstraße des vorderen Kurfürstendamms, im dritten Stock des Hinterhauses, das beschönigend Gartenhaus genannt wurde, wie üblich. Drei der fünf Zimmer waren untervermietet, zwei an junge Männer – ich hatte das prächtigste von allen – und eines an ein altes Ehepaar.

Einige Wochen nach meinem Einzug weihte mich die Untermieterin neben mir in Geheimnisse der Wohnung und ihrer Inhaberin ein. Sie senkte die Stimme in dem großen Durchgangzimmer, das alle benutzten: „Fräulein S … ist Jüdin. Sie war in einem Lager und hat überlebt. Sie ist zurückgekommen.“ Ich erfuhr noch, die Vermieterin sei Sekretärin in jener Warenhausfirma gewesen, der auch das Miethaus gehörte, in dem wir lebten. Heute weiß ich, es war ein jüdisches Familienunternehmen, unter Hitler arisiert, nach dem Krieg restituiert und inzwischen untergegangen.

Fräulein S … hatte also den Holocaust überlebt – das war überraschend, vielleicht bewegend, in jedem Fall wissenswert. Nur änderte es für mich nichts, weder in meinem Verhalten noch in meiner Perspektive auf die Zimmerwirtin. Ich konnte damals den Wittenbergplatz nicht passieren, ohne dass mein Blick kurz ehrfürchtig an der mahnenden Tafel mit der Liste der Vernichtungslager hängenblieb: Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen … (Befand sie sich damals nicht am Straßenrand, nicht wie heute zentral am westlichen U-Bahn-Zugang?) Aber über jenes Lager, dem die Vermieterin entkommen war, wurde bei uns nie gesprochen. Sie selbst erwähnte die Zeit nicht einmal und ich dachte auch nicht darüber nach, geschweige dass ich eine Frage gestellt hätte. Es war kein Tabu – die Vorstellung von Auschwitz und Treblinka war nicht kompatibel mit dieser nüchternen, kultivierten, dabei bescheiden wirkenden alten Frau. Ich erfuhr insoweit gar nichts in den zehn Monaten bei ihr und es kümmerte mich auch nicht.

Heute würde ich sie gern nach ihrer Zeit im Lager befragen, auch nach den Jahren unmittelbar davor und danach. Hatte sie Verwandte verloren? Lebten wir damals alle in der Wohnung ihrer Eltern? (Die schönen Möbel stammten zum Teil von der Jahrhundertwende.) Aber ich weiß auch, warum wir damals nicht darüber sprachen: Wäre das Grauenvolle thematisiert worden, wir hätten nicht nur nicht mehr unbefangen bei ihr leben können, es wäre vielleicht überhaupt unmöglich gewesen. Einer Überlebenden in einem großen Saal zuzuhören, wenn sie ihr Schicksal vor vielen ausbreitet, das scheint erträglich – aber dann täglich mit ihr die Wohnung, die Küche, das Bad teilen? Das Monströse ihres Schicksals, von ihr selbst unverschuldet, ist nicht gänzlich von der Person zu trennen. Die unsichtbaren Toten, die sie umgeben, werfen ihre Schatten, uns verstörend. Wenn ich ihr Zimmer betrat, war sie still mit Papieren beschäftigt, hatte vielleicht ruhig aus dem Fenster in den Hof geschaut oder auf die Wand. Heute erst glaube ich die stumme, kaum merkbare Reserve zu verstehen, mit der sie sich umgab und schützte. Sie blieb das Opfer und wir, wenn wir jung waren, waren vielleicht die Kinder und Enkel von Tätern.

Sie löste ihren Haushalt auf und zog ins Süddeutsche, wo Verwandte von ihr lebten, erfuhr ich. Die viel zu große Wohnung war nicht länger finanzierbar. Beim Abschied zeigte sie ihre Zufriedenheit und wurde erstmals ein wenig persönlich. Sie ermunterte mich: „Bleiben Sie so brav, wie Sie hier waren.“ Wahrscheinlich wäre sie enttäuscht worden, auch von mir.
 

John Wein

Mitglied
Hallo Arno,
Erlebte Geschichte! Es ist eine Erinnerung an Zeit und Geschehen, die mir mit vielen unerträglichen Bildern und in vielen Facetten im Kopf herumspuken. Demut und Vergebung, zwei Seiten einer Medaille.

(wenn ich mich recht erinnere, habe ich vor gefühlten hundert Jahren mal in der Bleibtreu Straße gewohnt)
LG John
 
Danke, John, für deine Rückmeldung. So, so, Bleibtreustraße ... Eine weiter ist die Schlüterstraße und da war ich bei meinem ersten Berlinbesuch im Hotel Bogota untergebracht, ohne zu wissen, dass dort während des Krieges die Reichskulturkammer residiert hatte. Auch dieses Haus war "arisiert" worden. In einer Ausstellung sah ich vor Jahren mal eine amtliche Katasterkarte von Charlottenburg aus den späten 30er Jahren, darauf fein säuberlich alle Häuser mit jüdischen Bewohnern markiert. Es kann die Hälfte der Gebäude gewesen sein. Heute kann ich mir vorstellen, was meine damalige Zimmerwirtin vielleicht sah, wenn sie auf ihre Zimmerwand schaute - die nicht Zurückgekehrten, also die Allermeisten.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
XXVII. Wanderungen durch die Mark heute

Das ländliche Brandenburg schwelgt in Fontane-Seligkeit. Er ist der Hauptwerbeträger für Gastronomie und Hotellerie dort, das Banner, unter dem das Geschäft sich günstig entwickeln soll. Zwar gibt es meines Wissens noch keine Fontane-Socken – dem Luther-Gedächtnis ist das schon widerfahren -, doch neben Schulen und Apotheken ist alles Mögliche nach ihm benannt. So finden wir neben der Rose „Fontane“ den, horribile dictu, Fontane-Wandermarathon, und womöglich ist sogar die Kartoffelsorte „Fontane“ seiner Erinnerung gewidmet: speziell für Pommes frites geeignet. Im Handel ist ja auch die Saatkartoffel „Napoleon“.

Man kann sich der Sache, nämlich der Gegend, auch anders nähern. Brandenburg hat heute viel mehr Ruinen als zu Fontanes Zeit und sie erzählen viel Seltsameres und oft Schrecklicheres, als der Schriftsteller sich je hätte vorstellen können. Da ist jede Menge Stoff für literarische Aufarbeitung. Manches davon möchte freilich lieber im Dunkeln bleiben. So kam ich diesen Sommer zweimal durch ***, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Es ist keine Stadt, kein Dorf, eher ein Unort, eine weiträumige Mixtur von Gebäuden und Restnatur, durcheinandergewürfelt per Zufall oder aus Willkür. Ich vermisste sogleich eine sichtbare organische Geschichte oder eine erkennbare Konzeption für die Zukunft. Es wohnen da nur wenige Menschen. Was noch in Schuss und nicht ruinös ist, sind zumeist Gewerbebetriebe; zwischen ihnen immer wieder abgeräumte Flächen und Waldstücke und viel Brachliegendes.

Die Wegweisung war unzureichend, ich verlief mich beim ersten Mal, erreichte mein Ziel nicht und versuchte es Wochen später erneut. Ich hielt mich nun an meine Karte, sie wies, abzweigend von der Hauptstraße, einen Wanderweg quer durch ein Waldgebiet aus. Wo er beginnen sollte, war der Eingang durch ein Gatter versperrt. Ich wich auf einen in dieselbe Richtung führenden Feldweg aus und geriet auf zuwachsende Wiesen hinter dem Wald. Der Weg verzweigte sich dreifach. Ich ging alles ab und geriet jeweils in eine Sackgasse. Am Schluss stolperte ich pfadlos zwischen Bäumen und durchs Unterholz immer weiter … und erreichte wieder den eingangs versperrten Waldweg. Er schien kaum mehr begangen oder befahren, ein entwurzelter Baumriese lag offenbar schon Monate quer über ihm. Das Gatter am Wegende konnte ich umgehen und las nun auch „Betreten verboten“, betreffend die Richtung, aus der ich kam. Von da an ging es bis zum Ende gut voran.

Dieser Ort ließ mich nicht los. Recherchieren im Netz war mühsam und lange unergiebig. Über *** gibt es keinen Wikipedia-Artikel, dafür einen über das Nachbardorf, hier fand sich ein kleiner Hinweis. Ich folgte dem Faden und bekam die Geschichte des Unortes im Wesentlichen heraus. Er ist nicht sehr alt, als Vorwerk erst im 19. Jahrhundert gegründet. Lange war es eine Schäferei. Kurz vor dem 2. Weltkrieg kam ein neuer Eigentümer, ein hoher Beamter aus Berlin, Nationalsozialist und Antisemit und in Hitlers Bewegung von Anfang an stark engagiert. Quellen zeichnen eine düstere Vita, ein ungünstiges Charakterbild – ich kann das nicht im Detail überprüfen. Tatsache bleibt, dass der Mann in jenen Jahren in Berührung kam mit Widerstandskreisen, hohen Offizieren, adligen Grundbesitzern. Er stellte ihnen Geheimmaterial zur Verfügung, auch über Massenmorde, und beteiligte sich an den Vorbereitungen zum 20. Juli 1944. Sein Verhalten an diesem Tag soll zögerlich gewesen sein, es hat ihn nicht vor Prozess und Hinrichtung bewahrt. Der schäumende Hitler verfügte, dass der Abtrünnige vor seinem eigenen den Tod dreier anderer in Plötzensee mit ansehen musste.

Das Vorwerk wurde vom Staat eingezogen. Nach dem Krieg etablierte sich dort ein volkseigener Betrieb und produzierte in vielen Ställen eines der Grundnahrungsmittel – nach der Wende: geschlossen. Wie alle anderen Nachkommen der hingerichteten Verschwörer erhielt auch in diesem Fall die Familie das Grundeigentum zurück und bewirtschaftet es bis heute. Verpachtung dürfte die Hauptrolle spielen. Es wurde auch wieder eine Schäferei begründet. Doch Herden sah ich jetzt keine mehr.

All das taugt wenig, um den Fremdenverkehr anzukurbeln. Es ist nur Teil der wahren, katastrophalen Geschichte eines Landstrichs im 20. Jahrhundert. So gesehen erweist sich die Konjunktur für Fontanesche Anekdoten und Histörchen als Sehnsucht nach der vermeintlichen Idylle vor 1914. Als wäre alles Spätere nur ein böser Traum und nicht im Ablauf der Geschichte, Generation für Generation, selbst schon begründet.
 

John Wein

Mitglied
Danke! Du hast mich zum Fontane-Stöbern angeregt. Der Theodor hat so eigenartig wehmütig schöne Balladen verfasst. Ja und wer von uns kennt sie nicht aus seiner Schulzeit!? Ob das heute auch noch zum Unterricht gehört? Der Herr von Ribbeck, Jan Maynard und Co?
Die Mark und Fontane, das gehört irgendwie zusammen, die Stille und das Unaufgeregte hinter der umtriebigen Stadt.

Joachim Hans von Zieten,
Husarengeneral,
Dem Feind die Stirne bieten
Er tat's wohl hundertmal;
Sie haben's all' erfahren,
Wie er die Pelze wusch
Mit seinen Leibhusaren,
Der Zieten aus dem Busch.

Schingderassabum, john
 
Danke, John, fürs Notiznehmen. Also auch du auf Fontanes Spuren ... Bei mir geschieht das eher unwillkürlich und im wörtlichen Sinn. Man ist kaum irgendwo in der Mark und schon erfährt man: Fontane war vor dir an diesem Ort. Ribbeck? Man kann an einem halben Tag von Nauen nach Paulinenaue gehen - oder umgekehrt - und in der Mitte lädt der kleine Park um die Kirche zur Rast ein. Spektakulärer schön ist Schloss Meseberg mit seiner ebenso wundervollen Umgebung. Fontane war natürlich da auch, schrieb aber nicht viel darüber. Vielleicht war seine Zeit noch etwas zu prüde für die Bearbeitung der Kaphengst-Biographie (Schlossherr im späten 18. Jahrhundert und Günstling des Prinzen Heinrich, dem er alles verdankte). Man kann es positiv sehen: Fontane hat noch Stoff für die späteren Generationen übriggelassen.

Schönen Abendgruß
Arno
 
XXVIII. Ein wenig Zeitgeschichte treiben

Sommer 1992. Erich Honecker ist von Russland ausgeliefert worden und sitzt als schwerkranker Untersuchungshäftling in Moabit ein. Aufgrund seines Krebsleidens ist bereits damit zu rechnen, dass er ohne Prozess freikommt. Wohin dann mit ihm? Mama schreibt mir dazu im nächsten Brief: „Von Honecker wollen die Leute hier nichts wissen, sind froh, wenn er nicht kommt.“ Zugleich entschuldigt sie ihn, zeigt Verständnis, indem sie fortfährt: „Er ist ein Opfer seiner Erziehung und Veranlagung. Sein Vater hatte immer nur die Wörter Bolschewismus und Kommunismus im Mund.“ Meine Mutter kann sich auf unmittelbare Zeitzeugenschaft berufen – als sie Schulkind war, verkehrte der Vater Honecker gelegentlich in ihrem Elternhaus. Er kam, so erfahre ich von ihr, um dort „Schwarzsender“ zu hören. Tatsächlich ist mir von den Großeltern gesagt worden, sie hätten im Dritten Reich oft das deutschsprachige Programm der BBC eingeschaltet. Für mich stellt sich heute die Frage: Konnte Wilhelm Honecker das nicht in seinem eigenen Haus tun? Sie waren zwar Parteigenossen, doch keineswegs Nachbarn, sein Haus und das der Großeltern liegen mehr als einen Kilometer voneinander entfernt.

Mamas Brief enthält noch mehr, das mich schon bei der Lektüre 1992 frappiert hat: „Meine Eltern haben vor 1935 im Keller eine heimliche Druckerei von der KPD geduldet und Opa hatte Glück, daß er nicht eingesperrt wurde, er wollte ja auch emigrieren. Ein Buchdrucker aus Berlin hat bei uns im Keller gearbeitet und manchmal mit seiner Frau auch bei uns gewohnt. Es waren sehr nette Leute, habe sie noch in guter Erinnerung.“ Ich kann Mama nicht mehr fragen, weshalb aus der Emigration damals nichts wurde. Vielleicht wollte Oma nicht mitkommen. Mein kommunistischer Opa, der bis dahin als Setzer gearbeitet und gut verdient hatte – auch während der Weltwirtschaftskrise -, wurde nach der Rückgliederung des Saargebiets aus dem Zeitungsverlag geworfen und bekam dabei noch zu hören: Kannst froh sein, wenn du nicht in einem Lager verschwindest …

Opa blieb arbeitslos bis zum Kriegsende, ohne Unterstützung zu beziehen. Am Wiederaufbau der Partei ab 1945 beteiligte er sich nicht. Er blieb politisch interessiert, war aber nicht einmal mehr Sympathisant. Regelmäßig kam dennoch per Post die Zeitschrift „Die Sowjetunion heute“. Er las sie kaum einmal, machte knappe, abschätzige Bemerkungen über sie und die Herausgeber wie über eine abgedankte Jugendliebe. Oft kam er von einem Spaziergang heim und sagte zu Oma: „Weißt du, wer mir über den Weg gelaufen ist – der Honecker …!“ Er sprach es wie bei uns üblich mit langem, geschlossenem O aus, als ob es von Hohn sich herleite. Dann zitierte er amüsiert neue Aussprüche des Alten, den er längst nicht mehr ernst nahm. Opa war also Revisionist geworden. Oder anders ausgedrückt: stark ernüchtert.
 
XXIX. Vom Fatum und vom Zufall

Mit dem Zufall scheint es bei mir so abgelaufen zu sein: Mit dreizehn wechselte ich in die Eingangsstufe eines Aufbaugymnasiums. Der Zustrom dahin war dermaßen gewaltig, dass für den Jahrgang sechs Klassen eingerichtet werden mussten. Infolge zahlreicher Abgänge konnte ihre Zahl schon ein Jahr später auf fünf reduziert werden und die Schüler meiner Klasse wurden auf die anderen verteilt. Wir erfuhren es am ersten Tag nach den Ferien, auch wohin wir jeweils zu gehen hatten. Nacheinander sah ich alle Schulkameraden aus dem Saal verschwinden, ich blieb als Letzter zurück, wurde nicht aufgerufen. War das ein gutes oder ein schlechtes Omen? Vielleicht hatte mein Name auf der Liste gefehlt oder die Sekretärin war unkonzentriert gewesen. Zufall?

Zufall - ich will es nicht glauben. Ich durfte mir meine Klasse aussuchen und entschied damit, wer die drei für mich wichtigsten Menschen meiner Jugendzeit wurden. Zwei davon kannte ich noch nicht, als ich Bastian folgte, meinem liebsten Kameraden. Ich hatte mir seine neue Klasse gemerkt und entschied mich sofort für die weitere Nähe zu ihm. Fatum? Schon eher.

Bastian war als hochgewachsenes, blondes Flüchtlingskind aus dem Osten der Exot bei uns im Südwesten, ein freundlicher, korrekter, intelligenter, fleißiger Bursche. Unter seinem Einfluss änderte ich meine Sprache, meine Ansichten, Interessen und Perspektiven. Bastian erzählte von Berlin und den Landschaften des Nordostens. Ohne es anzustreben, bereitete er mich auf ein Leben am anderen Ende Deutschlands vor. Kann ich mir vorstellen, im Südwesten geblieben zu sein, unter Menschen, die gemüthaft miteinander umgehen und selten reines, akzentfreies Hochdeutsch reden – ganz gewiss nicht. Mit Bastian verstand ich mich in allen Schul- und anderen Sachen bestens, so schien es, und dennoch entstand langsam in mir ein leises Fremdsein, ein Gefühl fast körperlicher Abneigung. Ich kam ihm nicht auf den Grund und suchte noch andere Kameraden.

Da war der dunkelhaarige, mittelgroße Sigurd, noch intellektueller als Bastian, ein einheimischer Exot allein aufgrund seiner exzeptionellen geistigen Ansprüche. Die vielen langen Gespräche mit ihm förderten mich mit sechzehn, siebzehn außerordentlich. Sigurd las Schopenhauer und Nietzsche und entwickelte sich später, für mich überraschend, zum Trotzkisten und Berufsrevolutionär. Er deutete an, dass er homosexuell sei, sprach es aber nie offen aus. Das vermied er, wie ich bemerkte, ganz bewusst. Er erfüllte mich mit noch stärkerer körperlicher Abneigung als Bastian und ich verstand allmählich … Er war ausgesprochen hässlich.

Den auch mittelgroßen Ulrich, Haarfarbe milchkaffeebraun, fand ich dagegen immer anziehender. Wenn man wollte, konnte man ihn hübsch finden. Wollte ich das – offenbar ja und ich stritt es im Dialog mit mir selbst nicht mehr lange ab. Im Übrigen bestach er durch größtmögliche Durchschnittlichkeit, das Fehlen jeder Exzentrik. Ich begann einen Kult zu treiben mit seiner anspruchslosen Gewöhnlichkeit. Es gehört für mich zu den dunkelsten Geheimnissen überhaupt, wie ausgerechnet er mein Denken und Fühlen eine Reihe von Jahren weitgehend ausfüllen konnte. Ich suchte seine Nähe und fand bloß einen Banknachbarn, der von mir zu profitieren suchte und mich nach der Schule rasch fallen ließ. Mit Sigurd und Bastian hatte ich noch länger Umgang und wir entfremdeten uns erst im Lauf unserer weiteren Entwicklung und dann auch vollständig.

Dieses Trio also umkreiste mich in der entscheidend prägenden Phase meines Lebens, oder vielmehr orientierte ich mich in meinem eigenen Lauf an diesem Sternbild. Bin ich überhaupt jemals später aus diesen Verhältnissen, Konstellationen herausgetreten? Will man mir nahe bringen, sie seien nur zufällig entstanden, an ihrer Stelle hätten andere, ganz andere sich entwickeln können, ohne den Fehler der Schulsekretärin damals? Ich kann es weder glauben noch akzeptieren. Allzu sehr fühle ich mich eins mit Verlauf und Substanz meiner Geschichte.
 
XXX. Schwul in der DDR

Wer formuliert mir einen besseren Titel? Das wird keine gelehrte Abhandlung mit umfassendem Überblick, eher eine Art Feldblumenstrauß, am Lebenswegrand gepflückt. Mit seiner dekorativen Wirkung wird es nicht weit her sein. Vielleicht reicht es am Ende bloß fürs Herbarium? Ich will die Echtnamen vermeiden, jede Figur bezeichne ich mit einer Initiale, fortlaufend nach dem ABC.

Mit A. kam ich eines Nachts in einer Diskothek ins Gespräch. Wir saßen an einem der kleinen Tische und er verriet mir, er sei aus Ost-Berlin und im amtlichen Auftrag im Westteil der Stadt. Er verhandele tagsüber mit Senatsdienststellen, worüber, das erfuhr ich nicht. Ich fragte ihn, ob im Osten zu leben für einen Homosexuellen schwierig sei. Da lächelte er kühl und tat überlegen. Seine Antwort: Für mich nicht, es gibt genug private Zirkel.

Einige Wochen später lernte ich dort B. kennen, wir tanzten, redeten, gingen durch die nächtlichen Straßen. Er war abgemagert, wirkte stigmatisiert, sehr verletzlich. Ich sah ihn zwei Tage später wieder und erfuhr noch mehr. Die Geschichte, die er erzählte, war hochdramatisch. Er habe dem Intimleben hoher Funktionäre nachspioniert, Informationen darüber und das Treiben in den Gästehäusern weitergegeben und sei so mit der Staatsmacht in Konflikt geraten, habe Jahre gesessen, auch wegen Staatsverleumdung. Ich kannte den Begriff nicht und er wies mir Tätowierungen an rechter Hand und linkem Unterarm vor, die seien aus Bautzen. Wenn alles zutraf, was er vorbrachte, hatte er Frau und Kind in Ost- und Eltern in West-Berlin und war erst kürzlich auf illegale Weise herübergekommen. Als er von heute auf morgen nicht mehr zu sehen war und mein Brief mit dem Stempel „unbekannt verzogen“ zurückkam, machte ich mir noch eine Zeitlang Sorgen.

Wenige Jahre darauf war ich vorübergehend mit C. liiert. Er war neben seinem Brotberuf literarisch und journalistisch tätig und schrieb damals auch für „Die Wahrheit“, das war die Parteizeitung des West-Berliner Ablegers der SED. Er sprach nicht darüber, seit wann er im Westen lebte und weshalb er übergewechselt war. Er reiste wiederholt in die DDR und beklagte sich bei mir einmal über die Einstellung der Bürger von Karl-Marx-Stadt, sie sei rein negativ gegenüber ihrem Staat und der Gesellschaft.

Ausgestattet mit einem westdeutschen Pass unternahm ich damals Tagesbesuche in Ost-Berlin und wurde einmal bei der Einreise im Bahnhof Friedrichstraße festgehalten. Man führte mich in ein abgelegenes Büro, wo mich einer, der sich nicht vorstellte, höflich nach diesem und jenem befragte, bis meine Harmlosigkeit oder Unbrauchbarkeit erwiesen. War ich ein Zufallstreffer, der sich als Niete herausstellte? Gab es doch Material über mich? Die Fragen gingen ins Persönliche: Warum meine Haare so kurz seien und dergleichen.

Einmal begleitete mich D. und wir besuchten mitten am Tag ein schwules Café, am oberen Ende der Friedrichstraße gelegen, glaube ich. Oder war es schon in der Chausseestraße? Personal wie Gäste ließen uns merken, wir seien unerwünschte Eindringlinge. Wir gingen bald und wollten später in einem Restaurant im Bahnhof Friedrichstraße essen. Es wurde placiert und die Schlange war lang. Wir standen erst kurz an ihrem Ende, als von vorn schon ein Ruf erschallte: „Die beiden einzelnen Herren! Ein Tisch für die beiden einzelnen Herren …!“ Mir war es peinlich, aber D. lachte und fand unsere Bevorzugung erklärlich.

Als ich schon in Hamburg lebte, hörte ich, der taubstumme E., mir aus Berliner Bars vom Sehen bekannt, sei als Fluchthelfer erwischt und verurteilt worden. Er saß in Rostock ein. Ob man ihn vorzeitig freibekommen hat, erfuhr ich nicht.

Im letzten Jahrzehnt der DDR tauchten immer mehr Übersiedler auf, die mit oder ohne Erlaubnis der DDR-Behörden ausgereist waren. Ich erinnere mich an F. und G., lebenshungrige junge Männer, die dem Anschein nach rasch manches nachholen wollten. Von F. weiß ich, dass er vielbeschäftigt war und zwei Jobs hatte. Beide standen mir ein bisschen zu sehr unter Strom.

Nach dem Untergang des ostdeutschen Staates reiste ich selbst jahrelang kreuz und quer durch das „Beitrittsgebiet“. Es waren vor allem die Landschaften und die Stadtbilder, die mich anzogen. Ich hatte auch mit Menschen Kontakt, meist nur flüchtiger Art, mit anderen Reisenden oder Vermietern. Noch später zog ich wieder nach Berlin und verbringe inzwischen den Großteil meiner Zeit in Ostdeutschland. Zwangsläufig habe ich nun auch hier mit Nachbarn zu tun. Da ist menschliche Nähe, mal mehr, mal weniger angenehm, wie üblich. Die DDR und die Sexualität, das ist kein Thema mehr.

In der Coda wäre jetzt der Buchstabe H dran, aber seinen Namen brauche ich nicht zu verschweigen: Ronald Schernikau (1960 – 1991), der verspätete Wanderer zwischen den Welten. In Leipzig stieß ich nahe der Universität vor Jahren zufällig auf das Haus, an dem eine Tafel an ihn und seine Zeit dort erinnert. Heute komme ich selten mal durch die Straße in Berlin-Hellersdorf, in der er am Schluß gewohnt hat; auch hier eine Gedenktafel. Weiteres über ihn und von ihm könnte ich nachholend aus Büchern erfahren …

Für B. wünschte ich mir ein Memorial.
 



 
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